Pornosucht und chassidische Spiritualität
Mit ihrem Debütroman "Shmutz" präsentiert Felicia Berliner einen ungewöhnlichen Blick auf die chassidische Gemeinschaft ultraorthodoxer Juden in den USA. Denn ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin Raizl ...
Mit ihrem Debütroman "Shmutz" präsentiert Felicia Berliner einen ungewöhnlichen Blick auf die chassidische Gemeinschaft ultraorthodoxer Juden in den USA. Denn ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin Raizl verbindet tiefe Religiösität mit Pornosucht. Die 18-jährige, die mit ihrer Familie in Brooklyn lebt und dank eines Collegestipendiums einen Laptop hat, der ansonsten als völlig "treif" gelten würde, schaut nacht für nacht Porno-Videos - stets mit ausgeschaltetem Ton, um nicht die kleine Schwester zu wecken, mit der sie sich ein Zimmer teilt.
Raizl findet eigene, jiddische Ausdrücke für das, was sie sieht, entdeckt ihren eigenen Körper und seuxelles Verlangen, wobei für sie gleichzeitig klar ist, dass ihre Jungfräulichkeit erst in der Hochzeitsnacht aufgegeben wird. Doch wie wird er sein, der Ehemann in einer arrangierten Heirat innerhalb der chassidischen Gemeinschaft? Raizl ist hin- und her getrieben zwischen Sehnsucht und Angst. Da sie sich so sehr gegen eine "Beschau" in der Wohnung ihrer Eltern sträubt, schickt ihre Mutter sie zur Therapie. Dort lernen auch die Leser beziehungsweise Hörer Raizl kennen, wenn sie sich ihrer ebenfalls formell jüdischen, aber nicht religiösen Therapeutin offenbart.
"Shmutz" ist als "schmutzige Geschichte mit reinem Herzen" bezeichnet worden, denn ungeachtet ihres Pornokonsums ist Raizl eine sehr unschuldige junge Frau, die den größten Teil ihres Lebens abgeschottet vom amerikanischen Alltag verbracht hat. Dass sie überhaupt aufs College gehen darf, ist ein Kompromiss: Das Studienfach Buchhaltug wurde von der Familie ausgesucht und für gut befunden, Raizl arbeitet zudem bei der launischen und übergriffigen Rebbetzin und leistet so ihren Beitrag zum Familieneinkommen.
Am College fühlt sie sich als Fremde, mit anderen jüdischen Studenten aus gemäßigt orthodoxen Familien fremdelt sie beziehungsweise wird von ihnen abgelehnt. Mit einer Clicque von Goths schließt Raizl schließlich Freundschaft, sie sind ihr Fenster in eine andere Welt, die sie zwar nicht versteht, die sie aber gleichwohl fasziniert. Gleichzeitig leiden ihre akademischen Leistungen zunehmend unter Raizls Pornosucht.
Im Hörbuch gibt Simone Terbrack Raizl ihre Stimme. Der Versuch, das Jiddische in Raizls Sprache herüberzubringen, misslingt dabei allerdings, der Akzent klingt zu hart, eher Russisch, und das Melodiöse, Weiche des Jiddischen fehlt darin. Sonst allerdings finde ich die Interpretation der jungen Frau und ihrer inneren Monologe, Gebete und Überlegungen gelungen.
Die Welt der Ultraorthodoxen mag vielen seit Deborah Feldmans "Unorthodox" (und der gleichnamigen Netflix-Serie) bekannt sein, Raizl versucht weder den Ausbruch noch fühlt sie sich als Opfer der Lebensweise, die ihr ihre Religion befiehlt. Sie ist auch nicht wirklich eine Rebellin, auch wenn die Pornovideos, von denen sie nicht lassen kann, nicht in ihre Welt passen. Zugegeben, ich hätte mir ein Aufbegehren gewünscht, aber letztlich hat Berliner eine konsequente Protagonistin geschaffen.
"Shmutz" gibt einen Einblick in eine Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, wo Zwänge ebenso gelten wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Religiöse Feste, der Ruhetag Schabbat, Segen und Gebote - der spirituelle Alltag wird mit intensiver Atmosphäre beschrieben. Raizl ist intelligent und aufgeweckt, durchschaut manches, was es in ihrer Welt eigentlich nicht geben darf und versucht, für sich einen Weg zu finden, der ihre verbotenen Gelüste - darunter Bacon und Cheeseburger - mit ihrem Glauben verbinden zu können.