In der fünften Klasse bekommt Naomi Light aus Oklahoma einen Brieffreund zugeteilt. Luca Pichler aus Kalifornien ist ganz schön frech! Also schreiben sich die Amerikaner mehr oder weniger gemeine ...
In der fünften Klasse bekommt Naomi Light aus Oklahoma einen Brieffreund zugeteilt. Luca Pichler aus Kalifornien ist ganz schön frech! Also schreiben sich die Amerikaner mehr oder weniger gemeine Sachen à la „Ich hoffe, du stirbst.“ Ein paar Jahre später – Naomi arbeitet inzwischen als Wetterfee bei einem Regionalsender in Florida – taucht wieder eine fies - lustige anonyme Nachricht auf. Naomis Kollegin Anne wittert sofort einen Stalker, doch die rothaarige Meteorologin muss sofort lachen und sie weiß – nur Luca kann der Verfasser des sarkastisch – boshaften Grußes sein! Zusammen mit Anne, die ihr den Spitznamen „Gnom“ verpasst hat, macht sich die Fernsehfrau auf die Suche nach dem Kindheitsfreund/feind, den sie nie persönlich getroffen hat. Doch da gibt es auch noch den heißen Nachbarn namens Jake. Schon längst hat es zwischen Naomi und dem Meerestierarzt gefunkt…
Die Leseprobe zu „P. S. I Hate You – Auf dem schmalen Grat zwischen Hass und Liebe“ fand ich unheimlich witzig, daher wollte ich den Roman unbedingt lesen. Dass Pubertierende sich böse Briefe schreiben, ist nicht so abwegig. Ich musste einfach wissen, wie die RomCom enden wird, zumal ich am liebsten Enemies - to – Lovers - Geschichten lese. Manchmal möchte man schlicht gut unterhalten werden & etwas „für’s Herz“ lesen. Der Anfang des spicy Romans gefiel mir noch ganz gut, aber die Briefe waren teils so fies, dass es nicht mehr lustig war. Der Inhalt war ernst, vor allem Lucas Schicksal ist hart. Insofern ist die Handlung anfangs einigermaßen deprimierend, dabei hatte ich mich auf eine spritzige Lovestory eingestellt. Es gibt (ganz klassisch) alternierende Erzählperspektiven. Leider war mir schon im ersten Drittel (!) der Erzählung das große Geheimnis der Geschichte klar. Das fand ich sehr enttäuschend. Die Figuren sind unheimlich flach (und wunderschön, wie könnte es anders sein). Naomi ist sehr naiv. Anders hätte die Geschichte auch nicht funktioniert. Obwohl die deutsche Übersetzung sicher nicht falsch ist, wirkt der Spitzname „Gnom“ seltsam deplatziert. Der zweite plot twist war auch vorhersehbar. Die sehr gemeinen Briefe in der Einleitung lesen sich unangenehm, der Mittelteil zieht sich in die Länge, gegen Ende wird es aber noch einmal interessant. Es macht aber wenig Sinn, dass die Protagonistin ein schlechtes Gewissen bekommt, als sie berechtigte Kritik äußert. Ferner werden im Roman toxische (männliche) Verhaltensweisen legitimiert, das gefiel mir gar nicht. Aufgelockert wird das Ganze durch süße Haustiere, das ist ein Pluspunkt. Aber es ist zu wenig, um dem Roman und den Figuren Tiefe zu verleihen. Schade! Aus dem „Stoff“ hätte man mehr machen können, der Stil von Donna Marchetti ist sehr simpel. Von einem Chicklit-Schmöker erwarte ich keinen Mann’schen Tiefgang, aber ein wenig ‚Feintuning‘ sollte schon vorhanden sein.
Fazit:
„P. S. I Hate You – Auf dem schmalen Grat zwischen Hass und Liebe“ ist schnell gelesen & schnell vergessen.
Frankreich, im Mai 1968:
Arbeiterproteste und Studentenunruhen dominieren die Straßen von Paris, es kommt zum Generalstreik – Chaos!
Mittendrin: Drei Freundinnen, die Vorreiterinnen der neuen ...
Frankreich, im Mai 1968:
Arbeiterproteste und Studentenunruhen dominieren die Straßen von Paris, es kommt zum Generalstreik – Chaos!
Mittendrin: Drei Freundinnen, die Vorreiterinnen der neuen Zeit sein wollen. Als eine der Studentinnen getötet aufgefunden wird, tippt die Polizei auf einen Ritualmord, da die Pose der Leiche einerseits an Tarotkarten & andererseits an eine Yogaübung angelehnt zu sein scheint. Als auch die Zweite aus dem Kleeblatt bestialisch ermordet wird, ist für den Kommissar klar, dass die Spur nach Indien führt, wo eine Sekte ihr Unwesen treibt (der Guru heißt nicht Bhagwan). Gemeinsam mit seinem Bruder, einem Studenten der Geisteswissenschaften und Mädchen Nr. 3 (ist sie die Nächste auf der Liste des Serienmörders?) reist der Haudegen nach Südasien, sozusagen ins Herz der Hölle, doch der Weg wird das Ermittlerteam wieder nach Europa führen…
Der Film „Die purpurnen Flüsse“ (mit den Top – Schauspielern Reno und Cassel) gehört zu meinen liebsten Buchverfilmungen (die Serienadaption finde ich aber richtig schlecht). Grangés letzte Publikation habe ich regelrecht „verschlungen“ - „Die marmornen Träume“ haben mich gut unterhalten.
In „Blutrotes Karma“ bleibt der französische Autor dem ‚Strickmuster‘ aus den „Träumen“ treu – es gibt ein Ermittlerteam, welches aus einem Dreiergespann besteht (nebst sidekick Berto), wobei zwei Personen Zivilisten sind.
„Blutrotes Karma“ ist eine einigermaßen wilde Mischung: Der Thriller ist nichts für schwache Nerven, als historischer Roman bietet er spannende Einblicke in die Geschichte (manchmal wird auch das Fantasygenre gestreift).
Diesen Mix muss man mögen, wie immer neigt Grangé zu Übertreibungen, er kombiniert sozusagen Dichtung und Wahrheit.
Es gefiel mir, dass es im Roman keine billige Blumenkinderromantik und kein kitschiges Indienbild gibt – das Gegenteil ist der Fall; Grangé präsentiert eine regelrechte Horrorvision der Umgebung mit „wimmelnden Menschenmassen“ und eine Kritik am Tantrismus (Man sollte immer daran denken, dass er einen Unterhaltungsroman geschrieben hat und keine wissenschaftliche Arbeit).
Die Gefahren und Irrwege des Hippie Trails werden aufgezeigt (wie auch in der Netflixserie „The Serpent“), der Subkontinent wird nicht zum gelobten Land verklärt, sondern als „Land des Teufels“ porträtiert, (die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen) in welchem obskure Praktiken nicht wenige Opfer forderten. Die kulturgeschichtlichen Hintergründe, die der Autor anführt (ob es sich nun um Europa oder um Indien handelt), sind sehr interessant. Zwar wusste ich, dass es auch eine französische Kolonie in Indien gab, dass Sikhs die Gebote ihrer Religion sehr ernst nehmen, „Aghori“ waren mir vor der Lektüre jedoch kein Begriff. Das Europabild des Autors ist nicht so düster, Kritiker werden ihm sicher einen kolonialen Blick attestieren. Eine filigrane Figurenzeichnung ist Grangés Sache nicht; wie so oft gibt es einen traumatisierten „Superbullen“: Algerienveteran Jean – Louis „JL“ Mersch ist ein drogensüchtiger Haudegen und ein überzeugter Sozialist, sein Halbbruder Hervé ein vergeistigter Intellektueller, die schlaue Studentin Nicole ist eine Vertreterin des Pariser Großbürgertums, und – wie könnte es anders sein – wunderschön. Auch der dramatische plot bietet keinen dezenten Handlungsverlauf; formal ist der Roman in mehrere Teile gegliedert, wobei der letzte Abschnitt schnell auserzählt ist - Dan Brown lässt grüßen. Manches wirkt recht konstruiert, ein Satz ist unfreiwillig komisch; trotz kleiner Schwächen ist für mich „Blutrotes Karma“ dennoch das Thriller- Highlight des Jahres. Die bildhafte Erzählweise des Autors macht eine längst vergangene Ära wieder lebendig; daher hebt sich „Blutrotes Karma“ angenehm von der Krimimassenware, die den Markt überschwemmt, ab. Die Geschichte ist durchweg spannend, ich habe schon lange keinen Roman mehr gelesen, der mich derart gefesselt hat! Im Kern ist der Histokrimi eine Liebeserklärung an Paris. Ich freue mich schon auf den nächsten Roman.
Mit „Dirty Diana: Das Erwachen“ haben Jen Besser und Shana Feste den Auftaktband zu einer Trilogie vorgelegt. Der Roman basiert wohl auf einem US-Podcast. Das Buchcover gefällt mir richtig gut, ...
Mit „Dirty Diana: Das Erwachen“ haben Jen Besser und Shana Feste den Auftaktband zu einer Trilogie vorgelegt. Der Roman basiert wohl auf einem US-Podcast. Das Buchcover gefällt mir richtig gut, der Titel erinnert an einen Michael Jackson – Song, die Rede von ‚Awakening‘ macht neugierig.
Schauplatz USA:
Die 41jährige Diana hat eigentlich alles, was man sich wünschen kann – Mann und Kind, eine bürgerliche Existenz, materiell fehlt es ihr an Nichts.
Doch die sexuellen Bedürfnisse der Protagonistin unterscheiden sich von denen ihres Mannes Oliver, sie hat keinen „Spaß“ mehr im Bett. Diana kommt eigentlich aus ärmlichen Verhältnissen, auch durch ihre Heirat hat die Frau, die ihren Mann als junge Künstlerin einst kennenlernte, den sozialen Aufstieg geschafft.
Als Twen beschloss sie aus ihrer versifften, kommunenartigen WG auszuziehen, nachdem die hygienischen Verhältnisse nicht mehr zumutbar waren; während der Wohnungssuche lernte sie ihren Ehemann kennen.
Als auch eine Paartherapie nicht zum Erfolg führt, erinnert sich Diana an ihre heiße Affäre mit Fotograf Jasper. Und ein altes Projekt wird wieder wichtig – die sexuellen Vorlieben von ganz normalen Frauen verewigte Diana auf Band, um sie in Kunst zu verwandeln, Oliver findet allerdings keinen Gefallen an den „pornografischen“ Inhalten. Die Protagonistin beschließt dennoch, dass das Projekt eine Vollendung verdient hat.
Dianas Hintergrund und ihr Werdegang sollen hip und wild sein. Das „unangepasste Künstlerin“ – Trope ist leider furchtbar konventionell konzipiert. Trotz diverser Zeitebenen ist der Roman stilistisch eher simpel angelegt, was bedeutet, dass man ihn theoretisch flott lesen könnte – es gibt aber auch gewisse Längen in der Erzählung. Die Grundidee ist nicht schlecht – das Ganze wirkt in gewisser Weise allerdings sehr „amerikanisch“, die Figurenzeichnung ist nicht besonders filigran, es fehlt insgesamt an Komplexität. Beim Lesen hat man das Gefühl, die Geschichte bereits irgendwo gehört zu haben, und manche Elemente erinnerten mich an die Netflix – Serie „Sex/Life.“ Überraschend fand ich eigentlich nur das offene Ende des Romans. Die Story ist trotz der steamy Szenen irgendwie dröge, Diana ist definitiv keine Edna Pontellier. Aus dem ‚Stoff‘ hätten die Autorinnen viel mehr machen können. Das „Erwachen“ fand ich insgesamt eher langweilig, daher werde ich den Folgeband (und den Finalband) nicht lesen.
„Intermezzo“ ist der vierte Roman der irischen Erfolgsautorin Sally Rooney. In der Geschichte geht es um Trauerbewältigung und Beziehungslosigkeit, um Emanzipation und Versöhnung.
Der Handlungsort ist ...
„Intermezzo“ ist der vierte Roman der irischen Erfolgsautorin Sally Rooney. In der Geschichte geht es um Trauerbewältigung und Beziehungslosigkeit, um Emanzipation und Versöhnung.
Der Handlungsort ist Irland, der Radius der Figuren ist begrenzt (was aber nicht zu Langeweile führt). Die Grundstimmung ist melancholisch, aber nicht deprimierend. Im Focus der Erzählung stehen Ivan und Peter Koubek, Söhne eines slowakischen Vaters und einer irischen Mutter, die Eltern sind allerdings getrennt, was dazu führte, dass die Jungen eine enge Vaterbeziehung hatten, während die Mutter eine neue Familie gründete.
Als Papa Koubek nach schwerer Krankheit stirbt, fehlt den Brüdern der Anker, der Twen Ivan ist ein sozial gehemmtes Schachgenie mit Zahnspange, der 32jährige Peter das genaue Gegenteil – ein eloquenter, extrovertierter Anwalt. Die offene Geschwisterrivalität ist ein Problem, die Situation eskaliert, als Peter Ivans Partnerwahl kritisiert. Die 36jährige Margaret könne nicht normal sein, so der Vorwurf Peters. Pikant: Peters Freundin ist eine junge Studentin, er hängt allerdings auch an seiner Exfreundin Sylvia, einer Professorin. Seit einem Unfall ist Sylvia sexuell nicht mehr verfügbar, sie beklagt sich über „Schmerzen“ beim Sex, weswegen sie sich von Peter trennt. Margaret lebt nicht mehr mit ihrem problematischen Mann zusammen, sie übt sich in Selbstzensur, hat stets Angst, sich als raubtierhaftes Cougar der sozialen Ächtung auszusetzen, während Naomi, die im selben Alter wie Ivan ist, keine Angst davor hat, auch finanziell von Peter zu profitieren. Im Roman wird die Wichtigkeit von Sexualität betont, es geht im Kern um Generationenunterschiede.
Rooney arbeitet mit dem Stilmittel des Bewusstseinsstroms (was sich bei einer irischen Autorin quasi aufdrängt). Eigentlich ist der Roman recht dialoglastig, da Rooney aber nicht mit Anführungszeichen hantiert, war ich beim Lesen nicht genervt von den Ausführungen der Protagonisten. Anfangs war ich richtig begeistert von der Erzählung, da es um so Vieles geht, um Gott und die Welt, wenn man so will. So viele kluge Gedanken und feinsinnige Beobachtungen werden in der Geschichte geäußert, es geht um individuelle Freiheit, aber auch um das Kollektiv, wenn etwa soziale Ungerechtigkeit angeprangert wird. Als sozialer Aufsteiger ist Peter in gewisser Weise unsicherer als der Nerd Ivan, wenn er über seinen gesellschaftlichen Rang sinniert: „Sein eigener [Vater]: der bescheidene, angepasste Einwanderer. Warum spricht dein Vater so komisch. Ihr seid nicht von hier, oder?“ Trotz aller Bemühungen kann der erfolgreiche Erstgeborene der Koubeks nicht in den inneren Kreis der wahrhaft Privilegierten vordringen – „Sie bekommen Stellenangebote von Freunden, er muss sich kümmern. Ungeschriebene Kleiderordnung, Sprachregeln. […] Und wo bist du zur Schule gegangen. Leben zu Hause in Ranelagh, während er die Hälfte seines Gehalts für Miete ausgibt.“
Mit dem Tod des Vaters fällt auch Peters Beschützerrolle weg. Seinen Kummer ertränkt er in Alkohol, ohne Schlafmittel liegt er wach. Er möchte nur „geliebt“ werden. Ivan spielt schlechtes Schach, und schließlich blockiert er Peters Nummer und es kommt zum großen Showdown. Werden die Brüder sich je versöhnen?
Ich habe „Intermezzo“ regelrecht verschlungen und ich hatte über weite Strecken das Gefühl, das beste Buch des Jahres gelesen zu haben. Den Stil der Autorin mag ich sehr! Die Story ist sehr spannend & an keiner Stelle langatmig. Die Charakterisierung der männlichen Protagonisten ist unglaublich gelungen, diese Figuren sind filigran und vielschichtig gezeichnet. Selbst die Beschreibung eines Haustiers (ich mag Haustiere in Romanen eigentlich nicht) ist prima. Rooney gelingt es, den Weltschmerz der eigentlich privilegierten Protagonisten nachvollziehbar und glaubwürdig abzubilden. Niemandes Leben ist in Gefahr – glücklich sind die Akteure zu Beginn der story dennoch nicht.
Bis zum letzten Drittel des Buches war „Intermezzo“ für mich ein 5 – Sterne – Werk. Der Finalteil hat mich indes enttäuscht. Die Figurenzeichnung der Frauen ist in meinen Augen nicht unbedingt gelungen, Margaret ist zwar älter als Peter, und sie schleppt Altlasten aus der Vergangenheit mit sich herum, sie ist aber auch wunderschön (ergo liebenswert?). Die eine supersexy, die andere superschlau, die Dritte superschön.
Von Sylvias Unfall ist stets die Rede, als Leser erfahren wir jedoch nichts über die genauen Umstände. Eine blitzgescheite Gelehrte mit Handicap, die aber auch selbstsüchtig ist und Peter den Laufpass gibt. Leider greift Rooney tief in die Klischeekiste, wenn sie die Intellektuelle, welche sich großmütig – gütig „arrangieren“ will, schmerzgeplagt mit Kotzkübel in der Nähe auf einem Teppich liegen lässt. Das Plädoyer für Polyamorie scheint eine einfache Lösung zu sein; die Auflösung der Geschichte war mir persönlich zu kitschig, die Qualität des Romans nimmt zum Ende hin leider ab. Lesenswert ist „Intermezzo“ dennoch.
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ...
„Schließlich hatte ich mich danach immer gesehnt: einer Vergangenheit, in der Leute wie ich vorkamen, und zwar HIER und nicht DORT.“
Mithu Sanyals Debutroman „Identitti“ gefiel mir so gut, dass ich nach der Lektüre (obwohl ich als Leserin mit den meisten Thesen überhaupt nicht konform gehe) auch das Audiobook angehört habe, und das als absoluter Hörbuchmuffel! Die Schwächen bestimmter Konzepte wurden entlarvt und oft dachte ich beim Lesen „dito!“, etwa beim unsäglichen Begriff „Dönermorde“, der in der story zu Recht kritisiert wurde. Die Autorin war mir sympathisch, da sie für einen Dialog plädierte. Gute Literatur fordert heraus.
Daher habe ich „Antichristie“ noch vor dem Erscheinungstermin auf meine Wunschliste gesetzt.
Worum geht’s?
Der Roman behandelt diverse Themen. Im Zentrum steht die 50jährige Ich-Erzählerin Durga Chatterjee (eine Drehbuchautorin). Zu Beginn der Geschichte geht es um Trauerbewältigung, da die deutsche Mutter Durgas (ihr indischer/bengalischer Vater taucht mit seiner neuen Frau auf) verstorben ist. Zu den Eltern hat die Romanheldin ein eher schwieriges Verhältnis, da der Vater trotz Anwesenheit nicht greifbar war, arbeitete sie sich an der (nicht grundlos) zu Verschwörungstheorien neigenden Mutter ab. Die Figur einer Hippiemutter, die den Nachwuchs verlässt, um sich selbst zu verwirklichen, ist ein wandelndes Klischee, welches man auch bei Houllebecq findet. Die Erzählerin bemüht sich, alle Positionen eines Diskurses abzubilden, wobei sie natürlich zu manchen Theorien eher tendiert. (Es wird im Roman aber nicht durchweg eine dogmatische, „woke“ Haltung eingenommen, das Konzept der cultural appropriation etwa wird im Spiegel des zeitlichen Wandels reflektiert, Colourism wird kritisiert, überhaupt gibt es Raum für Ambivalenzen, für ambiguity, wie es so schön heißt. Andererseits muss man sagen, dass eben nicht alles relativ ist).
Durga ist mit einem Schotten verheiratet und Mutter eines Sohnes im Teenageralter. Da sie bereits Folgen für die britische Kultserie „Dr WHO“ verfasst hat, wird sie engagiert, um gemeinsam mit anderen (ethnisch diversen) Autoren eine zeitgemäße, zeitgeistige Version der ITV – Serie „Poirot“ zu erschaffen, ganz im Stil von „Bridgerton“ (ich halte die Adaption eines Unterhaltungsromans für schlimmen Kitsch). Agatha Christies Hercule Poirot als PoC? Belgien hatte schließlich Kolonien.
Das Fernsehspiel mit David Suchet liebe ich, daher habe ich mich über das Auftauchen im Roman sehr gefreut. Als das Drehbuchautorenkollektiv in einem Artikel polemisch „Let’s kill the Queen [Agatha Christie]“ fordert (im übertragenen Sinne, als Dekonstruktion) und Königin Elizabeth II. im Jahr 2002 tatsächlich stirbt, ist die Aufregung groß – die Demonstranten, die sich „ihre“ Geschichte(n) nicht nehmen lassen wollen, werden als treudoof-trottelige Gestalten porträtiert, die als „Christs for Christie“ oder als „Mums for Miss Marple“ („Twilight Moms“, anyone?) Namen wie „Melone“ oder „Sarah Ferguson“(!) tragen, und sogar teils als Dozenten arbeiten, aber eben nur an der „Open University“ und nicht etwa in Oxford. Von der Erzählstimme werden ihnen ein paar valide Argumente jedoch zugestanden.
Man könnte sagen, dass die Kolonialismuskritik das Hauptthema des Romans ist, es geht aber auch um (gesellschaftliche) Diskurse & Narrative, um Erinnerungskultur, Geschichtsbilder, Politik, Poststrukturalismus, um den sog. antimuslimischen Rassismus, um nation building und Nationalismus, (um „Die Erfindung der Nation“, wenn man so will) um Identitätspolitik & Genderkonzepte, um die Frauenbewegung, um Frauenfreundschaft und um Sozialismus (ein Eric-Hobsbawm-Zitat ist insofern ein Muss).
In der Geschichte wird buchstäblich auf mehreren Zeitebenen operiert, da Durga vordergründig durch die Zeit fällt und als junger Mann (es geschieht mehr als nur gender swapping) namens Sanjeev im London des Jahres 1906 auftaucht, wo er im Studentenwohnheim „India House“ mit diversen indischen Revolutionären (nicht nur mit Gandhi) lebt und konspiriert. Die Figuren wirken optisch wie dem Film „Sardar Udham“ (in Deutschland kann man den Film auf dem Streamingportal eines großen Internetversandhändlers sehen) entsprungen, wobei Sanyal an keiner Stelle Heldenverehrung betreibt. Sanjeev ist vom Vater des Hindunationalismus „Veer“ Savarkar fasziniert, gleichzeitig gibt es aber auch Durga und Figuren der Gegenwart, womit die Autorin das langweilige konventionelle Erzählschema von zwei getrennten Zeitebenen durchbricht. Im Verlauf der Erzählung wird die Heldin gemeinsam mit Sherlock Holmes im Stil des klassischen, kammerspielartigen britischen Kriminalromans (es wird darauf hingewiesen, dass es diese Erzähltradition auch in Japan gibt) einen Fall aufklären. Metaebene ahoi! Auch Identitätspolitik spielt eine Rolle: „Was sagte es über mich aus, dass ich durch die Zeit reisen und mein Geschlecht und mein Alter hinter mir lassen konnte, aber nicht meine race?“ Wenn im Roman von „braunen“ Menschen die Rede ist, bin ich raus, obwohl mir natürlich klar ist, dass „brown“ im englischen Sprachraum eine gängige (Selbst)bezeichnung ist.
Formal ist die Geschichte wie ein Patchworkroman konzipiert, wie zum Beispiel die 1992 ins Englische übersetzte Publikation der feministischen Autorin Dubravka Ugrešić „In the Jaws of Life“. Auch der Schriftsteller Saša Stanišić präsentierte mit „Herkunft“ einen Patchworkroman (2019 wurde die Veröffentlichung mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet). „Antichristie“ ist in gewisser Weise anspruchsvoller und nicht so gefällig geschrieben wie „Herkunft“, da man als Leser (m/f) auch einer (kultur)geschichtlichen bzw. Geschichts - Vorlesung beiwohnt und einem popkulturellen Happening. Die einzelnen Kapitel werden durch szenische Anweisungen und Zitate eingeleitet, womit das filmische, gar filmreife Element der (historischen) Realität abgebildet wird. Sanyal kritisiert auch realpolitische Phänomene der Gegenwart, etwa die antimuslimische Haltung der indischen Partei BJP, wobei sich die Frage stellt, inwiefern diese Haltung in Teilen auch durch die Terroranschläge von Mumbai im Jahre 2008 befeuert wurde? In „Antichristie“ werden die Gewaltexzesse und Pogrome nach der indischen Unabhängigkeit und nach den Kriegen, aus denen u.a. Bangladesch hervorging, als Folge des britischen Imperialismus‘ dargestellt. „Perfidious Albion“ heißt es nicht selten. Und tatsächlich haben auch die Briten während ihrer Herrschaft Massaker verübt und sich nicht für diese Gräuel entschuldigt.
Ich habe mich sehr auf die Lektüre des Romans gefreut und etwas Neues und eine Weiterentwicklung erwartet. Ich wollte allerdings kein „Identitti“ – Recycling präsentiert bekommen. Wenn Durga die gleichen Probleme/Gedanken wie Nivedita aus „Identitti“ hat, wirkt das auf mich wie eine Wiederholung: beide Protagonistinnen leiden darunter, nicht als „richtige Inderinnen“ klassifiziert zu werden, beide betrauern die Tatsache, nicht bilingual erzogen worden zu sein. Man möchte entgegnen, dass auch das Erlernen der Muttersprache nicht vor einem Fremdheitsgefühl in Deutschland schützt, dass man auch mit Kenntnis der Muttersprache seinen Namen noch buchstabieren muss, und dass man sich mit einer hybriden Identität (notgedrungen) arrangieren muss. Das Gefühl einer „sowohl – als – auch“ – Existenz wird man manchmal ein Leben lang nicht los, und man könnte sogar argumentieren, dass die Hauptfigur mit einem deutschen Elternteil (ergo einem deutschen Pass) privilegiert ist. Durga fühlt sich regelrecht betrogen, wenn sie sagt: „Da war so viel Weltgeschichte, die mir nie in der Schule oder an der Uni beigebracht worden war.“ Ein Studium der Geschichtswissenschaft hätte da vielleicht geholfen; es stimmt aber, dass der deutsche Schulunterricht das Hauptaugenmerk auf den Nationalsozialismus richtet.
Wenn Durga von der Freundschaft zu ihrer bff Nena berichtet, wird der Handlungsstrang aus „Identitti“, in welchem Nivedita traurig über die häufige Abwesenheit ihrer liebsten WG-Mitbewohnerin ist, 1:1 übernommen. Die Erzählperspektive bringt es mit sich, dass man leider manchmal das Gefühl bekommt, dass das Ganze eine einzige Nabelschau der Protagonistin ist. Wenn Durga „Menschenrechtsverletzungen auf Social Media“ anprangert, drängt sich der Gedanke auf, dass „Antichristie“ in Teilen ein autofiktionales Werk ist. Manche Sätze machen betroffen, sie sind nachvollziehbar: „Die Frage, die mich ein Leben lang umgetrieben hatte – wer wäre ich, wenn ich in Indien aufgewachsen wäre?“ Eine ähnliche Frage hat sich wohl jedes Migrantenkind in Deutschland schon einmal gestellt. Insofern fällt es stellenweise schwer, den Roman zu kritisieren.
Ist „Antichristie“ auch ein Coming of Age – Roman (obwohl Durga schon 50 Jahre alt ist.)? Der Roman ist fast 600 Seiten dick, für mein Empfinden verzettelt sich die Autorin stellenweise, auf manche Details kann wirklich verzichtet werden (auf die Frage, wie attraktiv Männer mit einem „Trainspotting „meets xy – Chic sind, Dass „Nena“ die Kurzform von „Susanne“ ist, treibt die Seitenzahl unnötig in die Höhe, ebenso wie der Verweis auf vorchristliche Phänomene oder das Zitieren von Tweets. In Großbuchstaben verfasste Passagen nerven einfach nur). Kann man das der Verfasserin ankreiden, die Lektorin oder der Lektor hätte den Text kürzen und straffen müssen; das Korrektorat Flüchtigkeitsfehler wie „Weisbrot“ korrigieren. Es ist schade, wenn Leser die Lektüre ob der Länge abbrechen, zumal die Autorin gegen Ende doch noch die Kurve mit einem Krimiplot kriegt - um kurz darauf wieder in’s Dozieren zu verfallen. Man kann viel lernen, als Geisteswissenschaftler wird man mit vielen Debatten und Diskursen aber schon vertraut sein. Es ist wunderbar, dass manche Themen aus dem akademischen Elfenbeinturm geholt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, wobei nicht jeder Mensch in Deutschland so ignorant ist wie von „Antichristie“ angenommen. Historiker wissen, dass der eurozentrische Blick auf die Ereignisse problematisch ist. Für die Lektüre von „Antichristie“ bedarf es keiner Vorkenntnisse, man wird als Leser/in an die Hand genommen und bekommt alles erklärt, muss nichts zum besseren Verständnis nachschlagen: „Muhammad Ali Jinnah? […] Der die Muslim League anführen und später der erste Präsident Pakistans sein wird.“ Man kann nicht behaupten, dass der Roman nicht jeden Leser „mitnimmt“, um es salopp zu formulieren. Nicht jede Figur kann Karlheinz oder Erna heißen, es gibt definitiv nicht zu viele Personen im Roman (Hilfestellung bietet auch das Personenverzeichnis am Ende, passenderweise „Cast & Crew“ ).
Vielleicht funktioniert die story im anglophonen Sprachraum aber besser. „Dr WHO“ ist in Deutschland keine legendäre TV – Serie, beim Thema Kolonialismus denkt man in Deutschland oft nur an die Herero und Nama, wobei im kolonialismuskritischen Roman „Das Museum der Welt“ aufgezeigt wird, dass auch deutsche Forscher wie die Gebrüder Schlagintweit (im Auftrag der East India Company) in Indien unterwegs waren.
Die Autorin brennt für ihr Sujet, sie verfügt über ein großes Wissen und man spürt die schiere Erzählfreude, daher ist es schade, dass der Roman (wie zuvor „Identitti“) von direkter Rede /Dialogen dominiert wird. Die wichtigen Botschaften des Romans werden von seitenlangem Gelaber überdeckt, wieso reden die Figuren mehr, als zu handeln? Die Erzählung ist mehr als bloßes Geschwätz, aber es fällt schwer, am Ball zu bleiben, wenn so viel monologisiert und debattiert wird. Apropos Figuren – sie haben in meinen Augen keine wirkliche Tiefe. Manchmal wirken die Figuren infantil, wenn vom „sexysten Hijab“, oder von „coolen“ Frauen die Rede ist, von Männern, die in ihrer „Jugend“ aufgrund ihrer Physiognomie „sexy“ waren, und manchmal wird’s schwülstig: „Schließlich war ich nicht nur von Savarkar angezogen, sondern auch von mir selbst. Von diesen vollen Lippen, die ich nicht aufhören konnte mit meinen Fingern zu berühren, von diesem so magischen wie magnetischen Penis, den ich […] niemals vergessen konnte.“
Im Roman wird die Frage aufgeworfen, welche Ideologie mehr Menschen getötet hat, wobei eingeräumt wird, dass sich in Deutschland Nationalsozialismus/ Shoa/ Kolonialismusvergleiche verbieten, und dass andernorts dieses Tabu nicht in dieser Form existiert. Mao, Stalin, der Holodomor etc. spielen bei diesen Vergleichen keine Rolle.
Stilistisch ist „Antichristie“ nicht der ganz große Wurf, die Machart von „Identitti“ wird sozusagen beibehalten, da es sehr viele Dialoge gibt. Teilweise wirkt der Roman wie eine verkappte wissenschaftliche Arbeit, die etappenweise verfasst und vor dem Abgabetermin nicht noch einmal überarbeitet wurde. Ein fast selbstverliebter Unterton wird durch humorvolle Passagen abgefedert, die natürlich ein wenig kokett sind. Ich musste lachen, als Durga „von sich selbst beeindruckt“ war oder als sie anmerkte, sie wolle sich „durch Unkenntnis“ nicht „davon abhalten lassen, andere zu belehren.“ Im letzten Drittel des Romans dreht die Erzählerin noch einmal voll auf, ich liebe die literaturwissenschaftlichen Aspekte und Bezüge, sprechende Büsche finde ich richtig charmant. Man kann sehr viel über indische Geschichte lernen, und ich habe Lust bekommen, eine wissenschaftliche Publikation Sanyals zum Thema Indien zu lesen, da ich die Prosa der Autorin anstrengend finde. Wenn es aber in Rezensionen heißt, dass die Autorin in Antichristie „alles zu einem wilden Bollywood-Tanz“ vermengt, wird klar, dass die deutsche Öffentlichkeit einen solchen Roman nötig hat. Ich liebe Bollywood. Man wundert sich allerdings über die Ethnisierung, außerdem dreht nicht jeder indische Regisseur Bollywoodfilme (Nair, Kapur etc.). „Antichristie“ hat weder formal noch inhaltlich etwas mit der Hindifilmindustrie gemein.
Fazit:
Der Antichrist geht um? Sanyals zweiter Roman ist ein postkolonialistisches Manifest. Welche Form von Widerstand ist richtig und legitim? Es geht auch um deutsche Befindlichkeiten. Stellenweise war ich aufgrund der Form schwer genervt von der Geschichte; das Sujet ist aber so interessant, dass ich froh bin, den Roman komplett gelesen zu haben. Manche Ideologien, Theorien und Konzepte muss man hinterfragen; natürlich ist die Publikation am Puls der Zeit. Trotz meiner Kritik denke ich, dass der Roman mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet werden sollte.