Ein kleine Biografie und teuflisch gute Kurzgeschichten
»Die selbst erlebten Anekdoten sind allerdings schnell aufgebraucht. Doch jetzt beginnt die eigentliche Lust des Schriftstellers: Er wird zum Allmächtigen, darf einen neuen Kosmos erfinden und Menschen ...
»Die selbst erlebten Anekdoten sind allerdings schnell aufgebraucht. Doch jetzt beginnt die eigentliche Lust des Schriftstellers: Er wird zum Allmächtigen, darf einen neuen Kosmos erfinden und Menschen mit einem eigenen Schicksal erschaffen – einem spektakulären oder ganz alltäglichen, je nach Lust und Laune.« Aus Die Rolle des Erzählers – In Liebe Dein Karl.
»In Liebe Dein Karl« von Ingrid Noll ist nicht nur eine teuflisch gute Kurzgeschichtensammlung, sondern auch eine kleine Biografie.
Das Buch ist in 5 Teile gegliedert:
Diebe und Triebe
Lust und Last der Liebe
Tierische Täter
Mörderische Mythen
Erinnerungen und Notizen
Zum Inhalt
»In Liebe Dein Karl« ist die Heimat von 21 Kurzgeschichten und 10 autobiographischen Texten. Die Kurzgeschichten haben, wie wir es von Ingrid Noll gewohnt sind, oftmals schillernde weibliche Protagonisten, Charaktere, die sich nicht unterkriegen lassen und mit faszinierender intelligenter krimineller Energie, ihr Leben komfortabel machen. Männer haben sich unterzuordnen. Gerade in den Kurzgeschichten sind die Wendepunkte wichtig. Hier ist Ingrid Nolls Dramaturgie geradezu hinreißend. Der Leser lacht, weint und bangt mit der »Täterin«, dass sie ja nicht überführt wird, am besten erst gar nicht verdächtigt wird.
In Liebe dein Karl mit Don Cato
Don Cato liest gerne mit.
Autobiographische Schriften “In Liebe Dein Karl”
Für mich sind Ingrid Nolls autobiographische Schriften ein Juwel. Die Autorin erzählt aus ihrer Kindheit in China. Besonders nett fand ich, dass Mütter ihren Töchtern erzählen, dass sie abends zuhause bleiben sollten, weil sich in der Nacht Fledermäuse in den Haaren kleiner Mädchen einnisten.
Ingrid Noll ist ein sehr bodenständiger Mensch. Wie viel ihr Freundschaft bedeutet, kann man in der Geschichte über Manuela lesen.
»Im Nachhinein stelle ich fest, dass ich unerhörtes Glück hatte: Bereits mit zwölf Jahren fand ich eine humorvolle, originelle und überaus liebenswerte Freundin, mit der man noch lachen kann, wie vor fünfundfünfzig Jahren.«
Auch von der Nonnenschule, die sie besuchte, erzählt die Autorin, und ihrer Verehrung für Juliette Greco und den Kleidungsstil. Ein schwarzer Rollkragenpullover macht schon sehr existentialistisch. Die Feministin in ihr war geboren.
Und dennoch stand die Familie immer im Vordergrund. Ingrid Noll wartete auf ihre Zeit. Kaum waren die Kinder aus dem Haus, richtete sie sich ihr Arbeitszimmer, das Fenster über Eck hat und auch mal von Eichhörnchen besucht wird, um sich ein Nüsschen abzustauben, ein.
Der Leser findet einen sehr privaten Brief an die Mutter und erfährt einiges über den Vater. Und der Leser staunt, wie die Autorin sich ihren letzten Tag vorstellt.
Ich habe Ingrid Noll bei einer Lesung im Mainzer Theater erlebt. Man muss sie einfach lieben. Das Bild, das ich von der großen Dame der Kriminalgeschichten habe, hat sich mit diesem Buch bestätigt. Ich bin begeistert.
"In Liebe Dein Karl" Ingrid Noll 1
Cover und äußere Gestaltung »In Liebe Dein Karl«
Beim Covermotiv handelt es sich um den Ausschnitt eines Gemäldes von Caravaggio, eigentlich Michelangelo Merisi, »David mit dem Haupt des Goliath«.
Caravaggio wurde nicht willkürlich gewählt, sondern die im Buch enthaltene faszinierende Kurzgeschichte »Das weiße Hemd der Hure« ist aus der Sicht einer jungen Frau, die Caravaggio Modell sitzt, geschrieben. Eine schöne Idee für das Cover.
Das Hörbuch “In Liebe Dein Karl”
Das Hörbuch gibt es als Audio CD oder Hörbuchdownload, aber leider nicht bei Audible. Deswegen habe ich diesmal auf das Hörbuch verzichtet.
Das Hörbuch wird ungekürzt von Anna Schudt gelesen. Es umfasst 6 CDs und hat eine Länge von 6 Std. 4 Min.
Erschienen am 22. Januar 2020.
Fazit “In Liebe Dein Karl”
Es ist mir immer wieder eine Freude, Ingrid Noll zu lesen. Eine Autorin, die sich selbst auf die Schippe, die Leser zum Weinen und zum Lachen bringen kann. Ingrid Noll sieht die Welt nicht in Schwarz/Weiß, ihre Welt hat nicht nur zahlreiche Grautöne. Nein! Ihre Welt ist bunt. In meinem Beitrag zu »Ingrid Noll liest aus ‹Goldschatz›« schrieb ich:
Ich wünsche mir, ich möge im Alter von achtzig Jahren, diese Ausstrahlung, Präsenz und Eloquenz von Ingrid Noll haben!
Ja! Ingrid Noll ist nicht nur, die bei uns meist gekaufte Krimiautorin, sondern eine selbstbewusste Frau, der das Alter nichts anhaben kann. Eine Stelle möchte ich noch zitieren, weil es mir genauso geht, obwohl ich noch ein paar Jahre jünger bin.
»Viele über Siebzigjährige machen es wie ich – lehnen Spritze und Skalpell rigoros ab und kaufen stattdessen diese sinnlosen, teuren, entzückenden Cremedosen, denn irgendetwas will man sich auf die alten Tage doch noch tun.«
Vielleicht macht genau das Ingrid Nolls Charme und ihre Anziehungskraft aus: Ingrid Noll erkennt die kleinen liebenswerten Schwächen, die in uns allen wohnen. Wir identifizieren uns, meist sehr amüsiert mit ihren Texten. Ingrid Noll versöhnt uns, ihre Leser, mit unseren menschlichen Schwächen. Der Ehrenhauptkommissarin der Mannheimer Polizei ist eben nichts Menschliches fremd.
Mein herzliches Dankeschön geht an Ingrid Noll für die gute Unterhaltung und den Diogenes Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.