Die Kultur des Lesens als eine peregrinatio in stabilitate
Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus Kroatien und war von Beruf Bauingenieur. „Ivan Illich ist Sohn eines katholischen Dalmatiners und einer lutherisch getauften deutschen Jüdin, ...
Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus Kroatien und war von Beruf Bauingenieur. „Ivan Illich ist Sohn eines katholischen Dalmatiners und einer lutherisch getauften deutschen Jüdin, er besitzt die amerikanische Staatsbürgerschaft und ist unverheiratet.“ (TAZ 30.7.2001) Wie eine Romanfigur in Robert Seethalers „Der Trafikant“ unterhielt die Familie Illich in Wien private Kontakte zu dem berühmten Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. 1942 legte Ivan die Reifeprüfung in Florenz ab, wo er bis 1945 auch ein Chemiestudium absolviert, gefolgt bis 1951 von den Fächern Geschichte, Theologie und Philosophie am Collegium Romanum in Rom. 1950/51 wird Ivan zum Priester geweiht und parallel dazu über eine Studie zur Geschichtsschreibung von Arnold Toynbee an der Universität Salzburg zum Doktor promoviert. Es folgt ein Habilitationsprojekt über Albertus Magnus an der Universität in Princeton, das Ivan zugunsten einer Tätigkeit als Armenpriester im Elendsviertel Upper West Side in NYC aufgibt. „Im Weinberg“ erscheint 1990 unter dem Titel „L´Ere du livre“ in Paris und unterzieht einen Fixstern der Gutenberg-Galaxis einer subtilen Analyse. Es handelt sich um Hugos Didascalicon aus dem 12. Jht., das in 125 Handschriften überliefert ist (168) und in etwa „dem Unterricht Dienendes“ bedeutet (135). Die Gegenbewegung findet sich in das helle Holz einer Kirchentür der St. Giles Cathedral im schottischen Edinburgh eingraviert: Facta non verba ist dort zu lesen. Illich geht mit seinem Buch „zu den Ursprüngen der Buchherrschaft“ zurück. (8) Die Lesekundigen „hatten einen eigenen sozialen Status“ und „das Zeitalter des Buches hat den privaten Raum ebenso gebraucht wie Zeiten des Schweigens, die von anderen respektiert wurden.“ (9) Beim Übergang von Gutenberg zu Zuckerberg mussten aber die meisten Bücher den ubiquitären Bildschirmen weichen, die sich „viral“ ausbreiteten wie die asiatische Beulenpest. Bei Hugo war das Lesen noch „eine ontologisch heilende Technik“ (18) und das Buch eine „Arznei für das Auge“ (27). Durch das Lesen von Büchern wurde das Klosterleben unter der Maßgabe einer stabilitas-loci-Regel dynamisiert zu einer perigrinatio in stabilitate (29) und eine späte Folge dieser weitgehend karbonfreien Beweglichkeit findet sich bei dem Konstanzer Literaturwissen-schaftler Bernd Stiegler, der eine History of Armchair Travel (Chicago 2013) veröffentlichte, die 2010 als „Reisender Stillstand“ erstmals erschienen war. In diese Art „Selbstbegrenzung“ hat Illich bereits 1975 mit einem Buchtitel eingeführt, der auf eine „politische Kritik der Technik“ abzielt und „eine Begrenzung des Wachstums nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern vor allem mit dem Ziel, den Menschen wieder zu einem autonomen Wesen werden zu lassen. Illich formulierte hier nicht nur erste Elemente einer allgemeinen Theorie der Industrialisierung, sondern legte zudem eine radikale Kritik der Institutionen und der Expertenzünfte vor.“ (CH Beck)
Michael Karl