Das Interview
Was war die Initialzündung für Ihren neuen Roman?
Ein Artikel über Charles Babbage und dass er seine Analytische Maschine beinahe gebaut hätte, wäre er nicht so ein sprunghafter Typ gewesen. Das wäre dann ein dampfbetriebener Computer gewesen, groß wie eine Lokomotive, aber er hätte funktioniert – und die Entwicklung der Technik einen ganz anderen Lauf genommen. Das war sozusagen das Puzzlesteinchen, das aus den Ideen, die mir durch den Kopf schwirrten, ein rundes Ganzes gemacht hat.
Wie haben Sie recherchiert?
Wie immer: Bücher lesen, im Internet suchen, Leute fragen. In diesem Fall habe ich vor allem Bücher gelesen – und mir in Erinnerung gerufen, was meine Großeltern so hin und wieder über die Nazizeit erzählt haben.
Welche Lektüre über das Dritte Reich haben Sie benutzt?
Oh, das wäre eine lange Lektüreliste. Irgendwann musste ich mir verbieten, noch mehr Bücher zu kaufen, damit ich endlich anfangen kann, zu schreiben. Mein Roman spielt ja in einem alternativen Geschichtsverlauf, und es kam ja vor allem darauf an, die Details dieser Welt glaubhaft aus den Details der tatsächlichen Geschichte abzuleiten.
Wie bewältigen Sie das gewaltige Recherchematerial, die Historie und die Computerkenntnisse?
Mit vielen Notizen, die ich mir bei der Lektüre gemacht habe, und vor allem mit einer riesigen Zeitleiste in meinem Computer, in der ich die geschichtlichen Ereignisse und die verschiedenen Wendungen des Romans miteinander verknüpft habe.
Wie fühlte es sich an, ins Dritte Reich zu reisen?
Ausgesprochen beklemmend.
Wann kam Ihnen zum ersten Mal die Idee, diese ultramoderne Datenüberwachung mit dem dritten Reich zu verknüpfen?
Das weiß ich nicht mehr so genau, aber wahrscheinlich war es, als ich irgendeine Diskussion über Privatsphäre und Überwachung verfolgt habe. Irgendwann habe ich jedenfalls gedacht: »Leute, wieso tut ihr alle so, als sei das Schlimmste, was uns passieren kann, dass Amazon uns Werbung für etwas einblendet, das wir tatsächlich brauchen können? Firmen sind nicht das Problem bei der Überwachung des Internets – Staaten sind es. Regierungen. Google wird niemandem morgens um vier die Tür eintreten, aber Regierungen tun das andauernd.«
Und da kam mir die Idee, dass man mal durchspielen sollte, was wäre, wenn die moderne Überwachungstechnik in die Hände einer wirklich schlimmen Regierung geriete.
Wie würden Sie Ihre beiden Hauptfiguren, Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, beschreiben?
Helene Bodenkamp ist eine im Grunde unpolitische junge Frau, die nur eines will: jemanden, den sie lieben kann. Und als sie den hat, verteidigt sie ihn mit Zähnen und Klauen und legt sich dafür auch mit dem Regime an, mit den Mitteln, die ihr als Programmstrickerin in einer Schlüsselposition zur Verfügung stehen. Eugen Lettke dagegen ist jemand, der früh gelernt hat, dass Wissen Macht bedeutet, und auch, wie man dieses Wissen erwirbt und für seine eigenen Interessen einsetzt, was in seinem Fall bedeutet, dass er damit Frauen nachstellt und zu vermeiden sucht, an die Front geschickt zu werden.
In Ihrem Roman treffen Ihre fiktiven Figuren immer wieder mit realen historischen Personen zusammen. Wo erlauben Sie sich als Schriftsteller dichterische Freiheit bei Ihren realen Personen?
Die Ereignisse, bei denen ich reale historische Gestalten auftreten lasse, sind natürlich erfunden – insbesondere in diesem Roman, in dem die Historie sowieso ziemlich anders läuft –, aber ich versuche stets, sie so auftreten zu lassen, wie sie wahrscheinlich aufgetreten wären, hätte sich das alles tatsächlich so ereignet.
Wo beugen Sie die Geschichte zugunsten Ihres Romans?
Immer da, wo es die Logik des Romans verlangt. Die einzige willkürliche Veränderung war, den Ersten Weltkrieg schon 1917 enden zu lassen, um von Anfang an ganz klar zu signalisieren: Wir befinden uns in einer anderen Wirklichkeit.
Wie schwierig war es, sich in die Personen hineinzuversetzen?
Es war überhaupt nicht schwierig. Was ich irgendwo ziemlich beunruhigend fand.
Die Eingangsszene legt sofort dar, um wie viel Grade perfider das grausame Regime des dritten Reiches hätte agieren können, wenn digitale Datenüberwachung schon im heutigen Maße möglich gewesen wäre. Dies zeigen Sie an der Aufgreifung von Anne Frank und ihrer Familie in Amsterdam, dem über Jahrzehnte wohl weltbekanntesten Sinnbild für die Gräueltaten der Nazis. Wie kamen Sie auf dieses Szenario?
Als ich noch meine IT-Firma hatte, wollte ich einmal ein Seminar entwickeln, in dem Teilnehmer nicht nur den Umgang mit relationalen Datenbanken lernen sollten, sondern auch, welche Möglichkeiten und Gefahren in der Verknüpfung von für sich genommen harmlosen Datenbeständen liegen. Das hat damals bloß niemanden interessiert, und so fand dieses Seminar niemals statt. Die Idee für die Einstiegsszene ist gewissermaßen ein Überbleibsel aus dem Konzept dieses Seminars.
Man muss aber ganz klar sagen, dass die Nazis auch ohne moderne Computertechnik entsetzlich effizient waren. Mein Roman ist eigentlich kein Roman über das Dritte Reich und wie es noch schlimmer hätte kommen können, sondern ein Roman über unsere heutige Welt und wie sie noch schlimmer kommen könnte.
Wie hat es sich angefühlt, die Geschichte dieser Ikone neu zu erzählen? War das ein Tabubruch?
Es wäre eine Übertreibung, zu sagen, in meinem Roman würde die Geschichte Anne Franks neu erzählt. Es ist eine minimale Änderung dessen, was tatsächlich passiert ist, die an dem Sinnbild, das ihr Schicksal verkörpert, nichts ändert.
Sie greifen in Ihren Roman oft brandaktuelle Themen auf, ob Ressourcenknappheit, Nanotechnologie oder Wahlbetrug, nun jüngst Datenüberwachung. Ein im Moment aktuelles Thema aufzugreifen, bedeutet für einen Schriftsteller in der Umsetzung eine jahrelange Vorarbeit. Wie gelingt es Ihnen immer wieder, diese Themen so passgenau aufzuspüren? Sind Sie eine Art Trendscout der Literatur?
Ich habe gar nicht das Gefühl, dass ich da jeweils brandaktuelle Themen aufgreife; meinem Empfinden nach sind all meine Themen schon lange da. Sie kommen nur in den Medien nicht immer prominent vor, was mitunter daran liegt, dass es eben sehr langsame Entwicklungen sind. Wir sind da sozusagen alle Frösche, die langsam gekocht werden; ich gucke nur ab und zu aufs Thermometer.
Wie viel von der im Roman beschriebenen Technologie ist erfunden? Gibt es das Josephine-Seelig-Strickmuster?
Nun, auch wenn es das Josephine-Seelig-Strickmuster in unserer Welt nicht gibt, gibt es natürlich Verfahren, die nach ihren Erfindern benannt sind, nur nennt man sie nicht »Strickmuster«, sondern »Algorithmen«. Die Technologie dagegen entspricht der, die wir heute kennen, nur müssen wir uns die Maschinen rustikaler vorstellen, massiver, lauter, nicht aus Plastik, sondern aus Stahl, Kupfer, Messing.
Hätten Sie den Roman auch schreiben können, wenn Sie nicht IT-Spezialist wären?
Wahrscheinlich wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen. Auf jeden Fall war es aber hilfreich, dass ich früher ganz ähnlich wie Helene selber viel mit großen relationalen Datenbanken zu tun gehabt und selber Auswertungen aus äußerst umfangreichen Datenbeständen gemacht habe. So kannte ich auch die Probleme, die dabei auftreten können.
Nun ist es eine ganze Weile her, dass Sie als IT-Spezialist gearbeitet haben, wie haben Sie sich auf den neuesten Stand der Technik gebracht?
Das musste ich gar nicht, die Technik in meinem Roman ist ja eher bodenständig. Es ist mir im Gegenteil eher zu Gute gekommen, dass ich die Anfänge der Computerei noch miterlebt habe, selber mal mit Lochkarten programmiert habe und dergleichen.
Was haben Sie bei der Arbeit an NSA gelernt, was Sie vorher noch nicht wussten?
Sehr viel über militärische Details und Hintergründe des Zweiten Weltkriegs. Und viel über den Alltag im Dritten Reich.
Die Sichtbarkeit im Netz verdeutlicht durch die Verlegung auf beinahe 100 Jahre früher, was alles dem gläsernen Menschen widerfahren kann. Erhoffen Sie sich nach der Lektüre eine Erkenntnis für Leserinnen und Leser für die davon ausgehende Gefahr?
Ich kann mir schwer vorstellen, dass jemand diesen Roman liest und nachher seinen Umgang mit Daten nicht mit anderen Augen sieht.
Wie gehen Sie mit Ihren persönlichen digitalen Daten um, sind Sie bei Facebook, Twitter und Instagram unterwegs? Haben Sie nach dem Schreiben des Romans Ihr Verhalten diesbezüglich geändert?
Bei Facebook und Instagram bin ich nicht, nur bei Twitter, aber auch da nicht ernsthaft. Twitter ist ja eher eine Hysterieverstärkungsmaschine als ein seriöses Medium.
Gibt es ein zentrales Thema, das sich durch Ihre Arbeit zieht?
Das könnten andere wahrscheinlich besser beantworten. Ich meine, dass in all meinen Romanen immer die Frage mitschwingt, was aus uns Menschen in der Zukunft wohl werden mag.
Was ist für Sie als Schriftsteller ein absolutes Tabu?
Meine Geschichte zu verraten, indem ich sie z.B. mit Rücksicht auf das, was »der Leser« angeblich will oder nicht will, anders schreibe, als sie geschrieben werden muss.
Wie gehen Sie beim Schreiben vor, wenn eine Idee zu einem Roman heranreift: Setzen Sie sich hin und schreiben direkt los oder erstellen Sie zunächst ein Exposé und ein Personenregister?
Es geht immer damit los, dass ich mit einem Notizblock und einem Stift dasitze und ganz viel skribble und notiere, quer durcheinander, mit vielen Pfeilen und Linien und Listen. In dieser Phase treten die Umrisse der Geschichte langsam aus dem Dunkel, und das ist eigentlich die spannendste Phase von allen.
Wie haben wir uns Ihre Arbeitsweise vorzustellen? Schreiben Sie zu festgelegten Zeiten?
Sagen wir so: Mich muss man nicht dazu bringen, dass ich mich ans Schreiben setze, son-dern eher dazu, auch mal eine Pause zu machen. Festgelegte Zeiten gibt es also für die Pausen – Mittagessen, Abendessen, Schlafen und so weiter.
Wie belohnen Sie sich, wenn Sie ein Buch beendet haben?
Gar nicht. Ein Buch zu beenden ist ein eher wehmütiger Moment, denn es bedeutet, die Welt und die Figuren des Romans verlassen zu müssen.
Wer ist Ihr erster Leser, Ihre erste Leserin?
Meine Frau.