Es handelt sich im vorliegenden Buch um eine Sammlung von 20 sehr unterschiedlichen Kurzgeschichten. Die Autorin hat ihrem Buch den Titel „Abgründe“ gegeben, mit dem Untertitel „20 abgrundtiefe Kurzgeschichten“. Aus dem Titel entnehme ich, dass die Autorin damit die Tiefe der Geschichten vermitteln will, sie denkt also sozusagen vertikal. Warum auch immer – ich habe, sobald ich zu lesen begonnen hatte, eher horizontal gedacht. Mir drängte sich das Wort „Grenzüberschreitungen“ auf. Vielleicht in diesem Sinne Nähe statt Tiefe, dachte ich, insofern uns unmittelbar betreffend, keine Distanz möglich. Die Sammlung an kleinen, feinen Kurzgeschichten spielt mit Situationen des Lebens, die eine Entscheidung fordern oder gefordert haben und die oftmals rechtzeitig zu treffen versäumt wurde. Oder es werden Geschehnisse geschildert, in die man geradezu schicksalhaft hineingeworfen wird ohne eigenes Zutun und ohne Chance des Entkommens. Oder die Erzählungen muten uns die Grenzerfahrungen des hemmungslos Bösen zu.
Die Grenze zwischen dem realen Leben in all seinen Schattierungen und dem Absturz, dem Abgrund, dem Bösen, dem Grauen ist in diesen Geschichten nur hauchdünn. Eine Winzigkeit genügt, um die Grenze durchlässig zu machen oder gar ganz aufzuheben. Schöne äußere Bilder kippen unvermittelt um in finstere Gewalt oder unbedingte Ausweglosigkeit. Die Autorin lullt uns ein mit wunderschönen Naturbildern, mit behütetem Alltagsleben, mit kerzenerleuchteten Ballsälen. Und während wir noch wohlig lesend die Seite umblättern, öffnet sie unvermittelt den Blick auf Bilder des blanken Horrors und spielt so auf perfekte Weise mit unseren geheimsten Ängsten, dass wir erschauern.
Für diese kleinen, feinen, gekonnt geschriebenen Kabinettstückchen, die uns die Brüchigkeit unserer heilen Welt erahnen lassen, möchte ich meine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.