Magischer Realismus aus den Südstaaten - Ein Buch, das sich in der Geisterwelt verliert
Braucht es einen altitalienischen Philosophen, um die Hölle der Plantagen in den amerikanischen Südstaaten zu beschreiben? “So gehen wir denn hinab” von Jesmin Ward sucht bereits im Titel eine Analogie ...
Braucht es einen altitalienischen Philosophen, um die Hölle der Plantagen in den amerikanischen Südstaaten zu beschreiben? “So gehen wir denn hinab” von Jesmin Ward sucht bereits im Titel eine Analogie zur göttlichen Komödie von Dante Alighieri. Unzweifelhaft ist es die Hölle auf Erden, in die Annis hineingeboren wird. Sie ist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Ihre Mutter - eine Sklavin in South Carolina, ihr Erzeuger - ein Plantagenbesitzer und Sklavenhalter. Jesmin Ward beschreibt schonungslos die Grausamkeit und Brutalität der damaligen Sklavenhaltergesellschaft. Die junge Annis muss früh erkennen, was es heißt, vollkommen rechtlos zu sein. Aufrecht hält sie die Liebe ihrer Mutter, die ihr vom Leben ihrer Großmutter Aza erzählt, einst unfreie Kriegerin im Königreich Dahomey, ebenso wie ihre Neigung, mit der Natur zu kommunizieren. Annis Leid spitzt sich immer weiter zu. Sie wird gewaltsam getrennt von Menschen, die sie liebt und geht im wahrsten Sinne des Wortes immer weiter durch die Hölle. Slave Chain und Sklavenmarkt, verschleppt von South Carolina nach New Orleans, verkauft auf eine Zuckerrohr-Plantage mit einer erbarmungslosen “Lady”. Alles ist infernalisch, überall herrscht Schmerz und Leid, Hunger und Gewalt. Oft ist es kaum auszuhalten, was Ward beschreibt, und doch ist all dies millionenfach passiert. Gerade deshalb sind Bücher, die dieses Leid beschreiben, so wichtig für die heutige Zeit. Die Ereignisse dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Das ist der Grund, aus dem ich dieses Buch lesen wollte.
Daneben existiert für Annis eine animistische Geisterwelt. Bereits ihre geliebten Bienen scheinen übernatürliche Wesen zu sein:
"Zu spüren, wie die Bienen, die ich inzwischen als meine Bienen betrachte, nachts herunterkommen, auf meinen Handgelenken und Füßen landen und sich dann wieder erheben, in ihren Stock zurückkehren. Ich frage mich, welchen bitteren Nektar sie wohl bei mir sammeln. Frage mich, wohin sie meinen Kummer tragen. Frage mich, ob mein Schluchzen für sie ein beruhigendes Rufen ist, und warum sie die einzigen Zeugen meiner Trauer sind." (S. 32)
Bald kommt ein Sturmgeist hinzu, der die Gestalt ihrer Großmutter angenommen hat, und in der zweiten Hälfte des Buches wimmelt es geradezu von Naturgeistern - zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Diese Geister sind heimtückisch, sie nähren sich von der Aufmerksamkeit der Sterblichen, die an sie glauben. Vielleicht wird das Leid für Annis dadurch etwas erträglicher, doch am Ende sind diese Geistwesen genauso tyrannisch und grausam wie die realen weißen Herrschenden.
Es bleibt den Lesenden überlassen, ob es sich dabei um die Manifestation eines schweren psychischen Traumas handelt, oder um einen tradierten afrikanischen Volksglauben. Und leider verliert sich Ward in dieser Geisterwelt. Die reale Welt gerät darüber zunehmend in den Hintergrund. Auch die Sprache verändert sich, wird immer abgehobener, schwülstiger und nervtötend repetitiv. So wird das Buch quälend langweilig, fast schon unlesbar. Anstelle eines historischen Romans halte ich ein Buch in den Händen, was ich dem magischen Realismus zurechnen würde.
Die anfangs nach Hoffnung und Selbstermächtigung klingenden Kampfszenen in der Tradition der Dahomey-Amazonen verkümmern zu einem Narrativ. Auch die Maroons im Marschland der Südstaaten werden nur am Rande erwähnt. Annis kämpft nicht gegen ihre realen Unterdrücker, sie kämpft gegen die Geisterwelt. So mag ich das Ende des Buches auch nicht als Akt der Befreiung betrachten, sondern als weitere Flucht vor der Realität.
Fazit: befreiend war für mich am Ende nur noch das Wissen, dass dieses Buch doch noch zum Ende gekommen ist, und ich keine weitere Seite davon lesen muss.