Ein ganz gewöhnlicher Morgen im Haus der Familie Nicholson, doch dieser 4. Juni wird ihrer aller Leben verändern. Schon lange leidet Vater Simon unter Schlafstörungen und häufig nutzt er das frühe Erwachen für eine Joggingrunde. Auch an diesem Morgen verlässt er das Haus, jedoch ohne Joggingschuhe und ohne zurückzukehren. Er geht einfach weg und lässt seine Frau Catherine mit den drei kleinen Kindern James, Robbie und Emily zurück. Keine Spuren gibt es von ihm und niemand weiß, ob ihm etwas zugestoßen ist, ob er überhaupt noch am Leben ist. Catherine wird Monate brauchen, bis sie wieder zu sich kommt und die Verantwortung für ihre Familie übernehmen kann. Simon begibt sich derweil auf eine Reise durch die Welt, es wird ihn nach Frankreich, Kanada, die USA und weitere Länder ziehen, bis er fünfundzwanzig Jahre später wieder vor seinem Haus und seiner Ehefrau stehen wird.
Mir ist John Marrs als Autor von nervenzerreißenden und psychologisch perfekt abgestimmten Krimis bekannt, die die Figuren an den Rand dessen treiben, was sie aushalten können. „Ich kenne deine Lügen“ funktioniert jedoch ganz anders, es beginnt mit dem Wiedersehen und langsam wird dann die Geschichte des Verschwindens aufgerollt. Lange Zeit kommt der Roman wie eine toll erzählte Geschichte von Verlust und Flucht daher, doch das Blatt wendet sich und wie aus dem nichts taucht genau das auf, was man von Marrs erwartet: ein geschicktes Spiel zweier ebenbürtiger Gegner, die sich psychologisch versiert nichts schenken.
Simons unerwarteter und scheinbar unmotivierter Weggang verwundert zunächst, kann ein Mensch nur aus Langeweile und familiärem Frust einfach so alles hinter sich lassen? Wohl kaum, aber es dauert ein wenig, bis seine wahren Beweggründe sich offenbaren und wenn man gerade denkt, ihn verstanden zu haben und womöglich sogar Verständnis für sein Handeln aufbringt, kommt der Schlag mit dem Holzhammer. Nein, die Handlung bietet keine dramatische Spannung von Beginn an, aber wenn man sich dem Ende nähert, wird man umso mehr belohnt von den Überraschungen, die der Autor vorbereitet hat und die einem aus dem Nichts treffen.
Hatte mich der Roman rein schon durch die Erzählung der 25 Jahre zwischen Weggang und Wiedersehen begeistern können – interessant entwickelt er die beiden Figuren und stellt sie unablässig vor neue Herausforderungen, hier ganz sicher eine deutliche Steigerung zu früheren Romanen, die mehr auf Action und Spannung setzen – sucht der finale Paukenschlag wirklich seinesgleichen. Immer und immer wieder wird plötzlich innerhalb kürzester Zeit alles infrage gestellt und man muss sein Konzept von dem, was wirklich geschah und die Figuren zu ihrem Handeln motivierte, überdenken.
Ein Thriller der etwas anderen Art, der sicherlich nicht jedermanns Sache ist, für mich aber gerade wegen der sehr ausgefeilten Figurenzeichnung und dem brillanten Schluss ganz klar aus der Masse herausragt.