Adieu to old England, adieu?
In den vergangenen Monaten habe ich viele Bücher zum Thema Brexit gelesen, mich dabei aber selten so gut unterhalten gefühlt wie in Jonathan Coes „Middle England“ (prämiert mit dem Costa Novel Award 2019). ...
In den vergangenen Monaten habe ich viele Bücher zum Thema Brexit gelesen, mich dabei aber selten so gut unterhalten gefühlt wie in Jonathan Coes „Middle England“ (prämiert mit dem Costa Novel Award 2019). Am Beispiel der Familie Trotter (bekannt aus den Vorgängerbänden „Erste Riten“ und „Klassentreffen“ – Kenntnis nicht zwingend erforderlich) zeigt der Autor uns die Veränderungen auf, die das Vereinigte Königreich hin zu dem gespaltenen England dieser Tage durchlaufen hat.
Über einen Zeitraum von 2010 bis 2018 begleiten wir Ben, den Möchtegern-Schriftsteller, mittlerweile Privatier und Besitzer einer Wassermühle in den West Midlands und Doug, Bens Schulfreund und politisch links angesiedelter Journalist, der eine außereheliche Affäre mit einer Tory-Abgeordneten hat. Und dann ist da noch Sophie, die Kunsthistorikerin und Bens Nichte. Verheiratet mit einem Fahrlehrer, dessen Mutter die Stimme der derjenigen verkörpert, die in dem Zustrom der Einwanderer Englands Untergang kommen sieht, deren Dienste aber gerne in Anspruch nimmt. Dazu gesellt sich noch eine Vielzahl von Figuren, die jede in irgendeiner Weise mit diesen in Verbindung steht.
Neben diesen fiktiven Leben nehmen aber auch, wie könnte es anders sein, die politischen Veränderungen in England innerhalb dieser Zeit Raum ein. Die Olympischen Spiele, die Unruhen im Sommer 2011, die Wahlen und schlussendlich das Referendum, dessen Ausgang die Ängste, Vorurteile und Unzufriedenheit – gerade der älteren Generation - mit Englands Rolle in der Welt widerspiegelt und einfängt.
Und nicht zuletzt erfahren wir auch etwas über die mediale Landschaft und den Literaturbetrieb. Bens literarisches Projekt, das mittlerweile über 3000 Seiten umfasst, gewinnt den Booker Prize, nachdem er es auf Anraten seines Lektor-Freundes auf 200 Seiten zusammengestrichen hat.
Verpackt in individuelle Schicksale ist „Middle England“ zum einen ein faszinierendes, humorvolles Porträt vom Leben abseits der Metropolen, zum anderen aber auch die schonungslose Bestandsaufnahme der englischen Befindlichkeiten, deren Resultat im Brexit gipfelte. Nachdrückliche Leseempfehlung