Ein zutiefst ergreifendes Buch und zugleich ihr erstes Jugendbuch hat die deutsche Autorin Lilly Lindner geschrieben: “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Über die Beziehung zweier Schwestern, die einander alles bedeuten, über die Geschichte einer Magersucht, über Wortgewandheit und Klugheit und über die Sehnsucht verstanden zu werden. Traurig und humorvoll zugleich. Mit Tiefgang und einer Sprache, die so außergewöhnlich schön ist, dass man sich am liebsten die Sätze seitenweise bunt anmalen möchte. Ein Leseerlebnis, das sich denfinitv lohnt! Nicht nur für Jugendliche ab 13 Jahren, sondern auch für Erwachsene.
Berlin. Phobe ist neun Jahre alt. In ihrer Familie ist nichts mehr so wie es war. Denn ihre große Schwester April ist nicht mehr da. Die 16-jährige ist in einer Klinik wegen Magersucht, wobei Phobe noch nicht so ganz verstehen kann, was genau das ist. Aber eines weiß sie: sie vermisst ihre Schwester ganz schrecklich! “Meine liebe, liebe April — wenn du nur bald gesund wirst und endlich wieder bei uns bist. Ohne dich sind wir nämlich nicht ganz. […] Eine halbe Mama. Ein halber Papa. Und nur noch ein kleines Stück ich. Ohne dich bin ich nämlich nicht einmal halb.” (Zitat aus “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”, S. 38). Und deshalb schreibt Phoebe ihrer Schwester mit größtem EiferBriefe. Monatelang. Ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Sie erzählt von ihrem Schulalltag, von ihren Eltern, die so traurig und voller Sorgen sind. Auch dass sie manchmal von zu Hause weggeht. Um einfach mit dem Bus durch die Stadt zu fahren oder an Orte zu gehen, die sie an April erinnern. Mit ihrer Wortklugheit begegnet sie ihren überforderten Eltern: “Also habe ich Papa versprochen, dass ich nicht mehr weglaufe. Dabei war ich gar nicht verschwunden. Ich wusste schließlich die ganze Zeit über, wo ich war. Und wenn man weiß, wo man ist, dann ist man da und nicht weg.” (S. 71) Manchmal sucht sie Aprils Nähe auch in deren Zimmer. Sie legt sich in deren Bett und macht dabei auch nichts unordentlich. Sogar ihr aktuelles Lieblingsbonbon schickt sie ihrer Schwester per Post mit. Auch wenn sie es jetzt vielleicht nicht essen kann, es wäre ja lange haltbar. Doch dann vergeht der Sommer und es kommt der Winter…
Lilly Lindner ist ein sprachliches Phänomen! Sie schreibt mit einer Wortgewalt, über die man nur staunen kann. Wobei sie in ihrem jetzigen Buch ein wenig sanfter wirkt und sie geradezu behutsam mit ihren Figuren umzugehen weiß. Mit Phoebe hat sie einen ganz besonderen Charakter geschaffen. Ein Mädchen, das mit so klarer Logik zu reden weiß und von solch kindlicher Klugheit erfüllt ist: “Wir haben uns Sorgen gemacht!”, hat Mama geschimpft. “Ihr seid erwachsen”, hast du gesagt. “Das gehört dazu.” “Was?”, hat Papa gefragt. “Na, hast du schon einmal einen Erwachsenen ohne Sorgen getroffen?”, hast du zurückgefragt, “Ich glaube nicht, dass es so etwas gibt”. (S.258)
Phoebe plappert am liebsten ohne Unterlass. Und wenn ihr Vater sie einmal bittet, doch wenigstens mal fünf Minuten still zu sein, so kann sie ihm sogar ihre Gefühl, durch seine Worten verletzt worden zu sein, ganz deutlich sagen: “Da habe ich zu Papa gesagt, dass er seine Worte etwas sorgfältiger wählen muss, weil ich eine Tochter bin und kein Sohn, obwohl wir mittlerweile manchmal in den Park gehen zum Fußballspielen, und dass Töchter nun mal sensibler sind als Söhne.” (S. 26) Und ihr Vater entschuldigt sich sogar anschließend bei ihr. Doch so sehr Phoebe mit Worten auch umzugehen weiß, in ihrer Umgebung hat sie es damit nicht immer leicht. In der Schule muss sie ihre Sätze ständig erklären und auch ihre Eltern flüchten oft vor ihrer gewieften Logik. Doch Phoebe weiß auch um die Wichtigkeit des Schweigens: “Denn egal, wie viele Worte es gibt, und egal, wie anmutig man sie benutzen kann, es gibt Momente, da muss man sein Glück für sich behalten, damit die Worte den Klang der wundersamen Stille nicht zerstören. Glück braucht keine Worte. Glück hört man auch so.” (S.162/163)
Sehr viel geschwiegen hat auch Phoebes Schwester. Zum Schluss hat sie einfach aufgehört mit ihren Eltern zu sprechen. Warum, das erfährt man im zweiten Teil von “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin”. Dieser wird ebenfalls in aneinandergereiten Briefen aus Aprils Sicht erzählt: “Ich war neun Jahre alt, so alt wie du jetzt bist, als ich meine Stimme aufgegeben habe. Mama hat damals zu mir gesagt: “Verdammt, April! Kannst du nicht einmal fünf Minuten lang wie ein ganz normales Kind sein?” Und Papa hat hinzugefügt: “Du bist ein Wortungeheuer.” (S. 216) Dieser Zeitraum makierte auch den Beginn von Aprils Krankheit. Ihrem Wunsch sich aufzulösen. Ihre Eltern konnten mit ihr nie etwas anfangen. Sie haben sie nie wirklich gesehen. Das liest sich sehr, sehr traurig. Deshalb ist es nun April, die ihrer Schwester Mut macht, ihre Worte nie zu verlieren. Um gehört zu werden. Und nicht unterzugehen in dieser Welt. So wie sie.
Phoebe nun noch einmal aus der Perspektive von April zu erleben, macht einen ganz besonderen Reiz der Geschichte aus und gibt dem Leser noch mehr Möglichkeit dieses bezaubernde Mädchen kennenzulernen. Ein Mädchen, das ihren selbst gebauten Schneemann mit einem Schlitten durch die Gegend zieht und ihn später dann in der Tiefkühltruhe vor dem Auftauen retten will. Ein Mädchen, das sich in einer Decke einwickelt und sich wieder daraus entfaltet, um “sich zu entfalten” (worüber ihr Vater nur den Kopf schüttelt).
Dem Leser wird nun aber auch erklärt, warum April ihrer Schwester nicht geantwortet hat. Warum sie ihre Briefe niemals abgeschickt hat. Und was danach geschah, als der Winter kam… Auch die Beziehung der Schwestern wird mehr als deutlich dargestellt: “Ich liebe dich, Phoebe. Du bist nicht einfach nur meine kleine Schwester. Du bist mein Leben.” (S. 260)
Fazit: Poetisch, kraftvoll, amüsant und gefühlvoll! Dieses Buch wird jetzt schon definitiv eines meiner Jahreshighlights bleiben!