Manchmal greife ich nach einem Buch, ohne tatsächlich zu wissen, was mich erwartet. So ging es mir mit der Geschichte vom Erdbeermädchen Johanne. Der Klappentext und das Cover versprachen mir eine romantische, wenn auch vielleicht tragische Liebesgeschichte, doch was ich bekommen habe, war sehr viel mehr. Zusätzlich muss ich gestehen, dass ich als Liebhaberin der Impressionisten (schon als Kind war ich von Monets Werken verzaubert) noch nie sonderlich viel mit Expressionismus anfangen konnte, weder in der Malerei, noch in der Literatur. Entsprechend war mir das gesamte Buch über nicht bewusst, dass der Maler Edvard Munch tatsächlich ein existierender Künstler gewesen ist. Er war nicht irgendeiner, ihm wird zugeschrieben, den Expressionismus insbesondere in Deutschland begründet zu haben. Obwohl auch hinter dem titelgebenden Bild „Das Erdbeermädchen“ ein echtes Gemälde steckt, ist es doch eigentlich Munchs Der Schrei, um das es hier geht. Das alles war mir jedoch erst nach Abschluss der Lektüre klar. Meinem Verständnis und Genuss tat meine naive Unwissenheit jedoch keinen Abbruch.
Johanne Lien ist ein von der Autorin erdachtes, sechszehnjähriges Mädchen, welches sie als Vorbild für Heyerdahls Gemälde „Das Erdbeermädchen“ darstellt. Die Geschichte ist aus ihrer Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben, doch sie ist nicht die wirkliche Hauptperson. Die Geschehnisse werden auf eine Art erzählt, die deutlich macht, dass sie mit viel Abstand und dem Wissen und der Weisheit des Alters für den Leser präsentiert werden. Der Schreibstil ist reflektierend, mitreißend und einfühlsam auf eine Weise, die beinahe verstörend ist.
Am Rande des Dorfes Åsgårdstrand lebt der im Jahre 1893 noch nicht berühmte Maler Edvard Munch. Johanne ist ihm schon als Kind häufiger begegnet, sie fühlt sich zu ihm hingezogen, da sie seine Art, die Welt zu betrachten, teilt. Sie denkt in Farben und Emotionen, er schenkt ihr Goethes Werk Zur Farbenlehre, um ihr Interesse und ihr Talent zu fördern. Während des schicksalhaften Sommers arbeitet Johanne als einfaches Dienstmädchen für die – ebenfalls real existierende – Familie Ihlen, deren zwanzig Jahre alte Tochter Regine, genannt Tullik, in ihr sofort eine Freundin sieht. Mit Hilfe von Johanne kommt Tullik in Kontakt zu Edvard Munch, Tragik ist vorprogrammiert. Die Liebe zwischen Tullik und Edvard Munch wird die zentrale Geschichte in diesem Buch.
Edvard Munch ist am Ende des 19. Jahrhunderts bei den Bewohnern von Åsgårdstrand geächtet, weil seine Bilder als sündhaft gelten. Insbesondere die Familie Ihlen hasst ihn, da bereits die Tochter Milly eine Affäre mit ihm gehabt hatte, welche zum Ehebruch führte. Ein weiterer Skandal mit diesem Maler würde die Familie zerbrechen. In Kristiania, dem heutigen Oslo, gehört Munch zur Bohéme, eine Künstlergruppe, die bewusst anti-bürgerlich lebt und denkt. Auch das wird in Åsgårdstrand als Bedrohung empfunden, denn klassische Hierarchien, Anstand und gute Sitten sind hier in allen Familien fest verankert. Genau jene rebellische, intellektuelle Ader ist es jedoch, durch welche sich die hoffnungslos romantische Tullik angezogen fühlt. Sie verfällt Munch sofort, so wie er in ihr augenblicklich eine Muse findet. Johanne beobachtet die Beziehung, lügt für ihre Herrin und Freundin, steht Ängste und Befürchtungen durch und will Tullik eigentlich vor ihrem Untergang bewahren, doch tief in sich ist auch Johanne rebellisch und empathisch. Sie kann nicht anders, als Tullik zu unterstützen.
Es ist ein klassisches Motiv in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts, die gegen alle Vernunft liebende Frau als hysterisch und verrückt darzustellen. Sie wird gleichzeitig als heroische Figur romantisiert, die an ihrem gebrochenen Herz sterben könnte, und als alle Normen sprengende Wahnsinnige verurteilt. Es ist beachtlich, wie mühelos es Lisa Strømme gelingt, genau dieses Motiv aus einer vergangenen Zeit wieder zum Leben zu erwecken. Edvard Munch wiederum kämpft mit Alkoholproblemen, er wird als chronisch traurig und auch als verrückt beschrieben. Noch erkennt man psychische Krankheiten nicht, noch steckt man insbesondere Frauen einfach in Krankenhäuser für Wahnsinnige, wenn sie hysterisch und unsittlich wirken. Auch das wird durch die eindringlichen, oft von Farben durchsetzen Beschreibungen aus dem Mund von Johanne mitreißend dargestellt.
Als Tullik schließlich durch ihre eigenen Familie gezwungen wird, den Kontakt zu Munch abzubrechen, verfällt sie in tiefe Depressionen, wird wirr und kränklich. Sie verwandelt sich in eine klassische Heldin der romantischen Literatur, die an gebrochenem Herzen zu sterben droht. Ihre strahlende Schönheit verschwindet, ihre Haut verfärbt sich gelblich-grün, sie weint sehr viel, schreit, drückt ihre Verzweiflung hemmungslos aus. Und Edvard Munch malt. Er malt, wie Tullik aussieht, ohne zu wissen, dass sie tatsächlich leidet und tatsächlich so aussieht. Das Gemälde, das Johanne von ihm bekommt, um es zu Tullik zu bringen, nennt er „Der Schrei“, und es ist ein Abbild der Qualen, die Tullik durchleidet. Auch wenn dies nicht die tatsächliche Entstehungsgeschichte hinter jenem Bild ist, so wirkt es dennoch authentisch, fesselnd, emotional. Tullik kann nicht anders, als Munch zu lieben, doch Munch ist zu kaputt, als dass er jemals seine Kunst für eine Frau zurückstellen könnte. Dennoch liebt auch er Tullik und zerbricht daran nur weiter.
Ich habe das Buch angefangen in der Erwartung einer Liebesgeschichte, bei der eventuell Johanne und Tullik gegeneinander um die Gunst von Edvard Munch ringen. Bekommen habe ich etwas ganz anderes. Auch, wenn ich selbst beim Anblick expressionistischer Kunst nicht dieselben Gefühle, dieselbe Tiefe verspüre wie Johanne, so verstehe ich doch auf einem intuitiven Level, was Tullik erleidet. Der Reiz, den erwachsene Männer, die intellektuell überlegen und anarchistisch wirken, auf junge Frauen haben, ist mir nur zu bekannt. Die Worte, die Strømme wählt, die wiederholte Verwendung von Farben, die für Gefühle und für Geschlecht stehen, zeichnen ein verzweifeltes Bild. Doch die Verzweiflung ist selbst gewählt. Es ist die Entscheidung von Tullik, sich mit allem, was sie hat, in eine tragische Beziehung zu werfen. Sie ist hoffnungslos romantisch und leidet, aber sie weiß, wie es um Edvard Munch steht. So wird die Verzweiflung, die man als Leser automatisch verspürt, nur noch größer. Das Buch hat mich zerstört, ganz wortwörtlich meine Emotionen durcheinander gewirbelt und mich für einige Stunden in einem Zustand zurückgelassen, wo die Grenzen zwischen den Emotionen der Buchfiguren und meinen eigenen zerstört waren. Das schaffen nur wenige Bücher.
FAZIT:
Mit dem Roman „Das Erdbeermädchen“ entführt uns Lisa Strømme in ein schillerndes 19. Jahrhundert, das nah an der Realität der damals lebenden Menschen erscheint. Johanne, die Erzählerin, ist ebenso trotzig wie ergeben, während Tullik gleichzeitig romantisch und rebellisch ist. Dem Buch liegt eine intensive Recherche über den Maler Edvard Munch zu Grunde und das spürt man auf jeder Seite. Mit eindringlicher Intensität schildert Strømme eine tragische Liebesgeschichte, die das Herz berührt und die Seele weinen lässt. Es ist keine leichte Kost, doch wer sich auf die Reise einlässt, wird mehr als belohnt. Ich spreche eine ganz klare Kaufempfehlung aus, denn dieses Buch muss man gelesen haben.