Geschichten bleiben bestehen
Geschichten bleiben bestehen
„Wenn man den Ort, wo man aufgewachsen ist, verlässt, kann man die eigene Geschichte neu schreiben, ganze Seiten der Vergangenheit zerknüllen, wegwerfen und so tun, als hätte ...
Geschichten bleiben bestehen
„Wenn man den Ort, wo man aufgewachsen ist, verlässt, kann man die eigene Geschichte neu schreiben, ganze Seiten der Vergangenheit zerknüllen, wegwerfen und so tun, als hätte es sie nie gegeben.“
Die einunddreißigjährige Single-Frau Jennia Beth Gibbs hat ihre Vergangenheit tief in ihrem Inneren begraben und rührt niemals daran. Doch immer wieder versuchen die verdrängten Erinnerungen ihrer Kindheit, sich in ihren Alpträumen den Weg an die Oberfläche zu bahnen.
Nach dem Studium an der Universität von New York und einer anschließenden zehnjährigen Anstellung in der Sachbuchabteilung von „Stanislaus International“ erhält Jennia die Chance, als Lektorin für das Multimillionen-Unternehmen „Vida House“ zu arbeiten. George Vida, der Inhaber dieses Verlags, ist für sein Faible für alte, unverlangt eingesandte Manuskripte bekannt. Jennia hat ein Gespür für gute Geschichten, und als unvermutet ein altes Manuskript auf ihrem Schreibtisch landet, offenbart sich ihr die Liebesgeschichte von Sarra und Randolph – eine Geschichte, deren Faszination sie sich in Folge nicht mehr entziehen kann. Die junge Frau stellt Nachforschungen an und verfolgt die Spur des unbekannten Autors bis in ihre Heimat – einen Ort, den sie eigentlich aus ihrem Gedächtnis zu streichen versuchte. George Vida schickt seine neue Angestellte unverzüglich in die Blue Ridge Mountains, wo sie nicht nur den Autor dieses Manuskriptes ausfindig machen, sondern sich letztendlich auch ihrer Vergangenheit stellen muss.
Lisa Wingate arbeitet in ihrem aktuellen Buch mit zwei Zeitebenen. Zum einen erzählt sie die Geschichte von Jennia Beth Gibbs, deren Vergangenheitsbewältigung und ihrer beruflichen Tätigkeit. Zum anderen lässt sie ihre Leser in die romantische Liebesgeschichte zweier Menschen unterschiedlicher Herkunft eintauchen, die im Jahre 1890 in den Blue Ridge Mountains begann.
Mit Jennia Gibbs hat die Autorin eine äußerst sympathische Protagonistin geschaffen, die dem Leser sofort ans Herz wächst. Ihrer natürlichen, ungekünstelten Art, ihrer Verbundenheit mit der Natur und nicht zuletzt ihrer großen Liebe für Geschichten kann man sich nur schwer entziehen. Vergangenheitsbewältigung ist ein zentrales Thema, und je tiefer ich in Lisa Wingates Erzählung eindrang, umso mehr nahm sie mich gefangen. Im Zuge der Konfrontation mit Jennias Familie erhält man Einblick in die starren Regeln, die Lebensumstände der armen Landbevölkerung in den Blue Ridge Mountains, und zum Teil auch deren Hoffnungs- und Ausweglosigkeit. Der Glaube spielt in diesem Buch zwar eine bedeutende Rolle, die Religionsgemeinschaft von Jennias Familie hat jedoch mit echten christlichen Werten wenig gemein. Jennia fungiert als Figur, die zwischen zwei Welten wandelt, die den Absprung in die Großstadt zwar geschafft hat, sich aber dennoch nicht vollständig von ihrer Vergangenheit zu lösen vermochte.
Im zweiten Erzählstrang spielen das Mischlingsmädchen Sarra, eine so genannte Melungeon, und der wohlhabende Antropologiestudent namens Randolph Champlain die Hauptrollen. Lisa Wingate bedient sich in ihrem Roman vieler Nebenfiguren, die ebenso wie die Protagonisten sehr gut charakterisiert wurden. Eine kapriziöse Chihuahua-Kreuzung namens „Freitag“ macht der Protagonistin Jennia das Leben schwer und sorgt im Buch für etliche humorvolle Szenen.
Fazit: In diesem Roman aus der Feder Lisa Wingates war für meinen Geschmack einfach alles „stimmig“: die berührende Geschichte einer Liebe am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich über alle gesellschaftlichen Regeln hinweg setzt, eng verflochten mit der Geschichte der Jennia Gibbs, die mit ihren Schatten aus der Vergangenheit zu kämpfen hat, und der christliche Glaube als Fundament und Basis für die Entscheidungen, das Denken und Handeln der Figuren dieses Buches. Der einnehmende Schreibstil der Autorin, die gut gezeichneten Akteure und die Tatsache, dass Lisa Wingate die zwei Erzählstränge niemals innerhalb eines Kapitels wechselt, machten das Lesen dieses Buches zu einem reinen Vergnügen.
Abschließend möchte ich noch die optische Aufmachung des Buches hervorheben, wo im Vordergrund des Coverfotos ein Waldboden mit Wurzelgeflecht mit der Silhouette einer lesenden Frau im Hintergrund dargestellt ist. Der äußeren Erscheinung zufolge handelt es sich hierbei um Jennia, die sich zweifellos in das geheimnisvolle alte Manuskript vertieft und dem Geheimnis um Sarra und Randolph auf der Spur ist.