Cover-Bild Das Leben wartet nicht
22,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Diogenes
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 304
  • Ersterscheinung: 22.02.2017
  • ISBN: 9783257069839
Marco Balzano

Das Leben wartet nicht

Maja Pflug (Übersetzer)

Ninetto war noch ein Kind, als er allein von Sizilien nach Mailand kam, um Arbeit zu suchen. Ein furchtloser Junge mit der Sonne des Südens im Herzen. Obwohl er noch zu klein war für das Fahrrad, fand er sogleich eine Anstellung als Bote. Heute, über fünfzig Jahre später, erkennt sich Ninetto in den Neuankömmlingen aus China und Nordafrika wieder. Sie haben dieselben Träume wie er damals. Und setzen alles daran, sie zu verwirklichen.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.04.2017

Weise, berührend und bedrückend

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Unaufgeregt erzählt der preisgekrönte Roman "Das Leben wartet nicht" von Marco Balzano von der Flucht des Kindes Ninetto aus dem bitterarmen italienischen Süden nach Mailand in den 1950er Jahren und schlägt ...

Unaufgeregt erzählt der preisgekrönte Roman "Das Leben wartet nicht" von Marco Balzano von der Flucht des Kindes Ninetto aus dem bitterarmen italienischen Süden nach Mailand in den 1950er Jahren und schlägt damit einen überaus aktuellen Bogen zur heutigen Flüchtlingssituation.
Die Geschichte selbst könnte eine moderne Oliver-Twist-Variation sein, die sprachlich unglaublich nah am Geschehen geschrieben ist und den Leser dabei fast einbezieht.

Ninetto ist neun, als er sich nur in Begleitung eines Familienfreundes aus dem sizilianischen Dorf San Cono in das Dickicht der norditalienischen Stadt Mailand aufmacht, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können.
Die Bilder der Armut seiner lieblosen Kindheit in Sizilien, das Leben in engen Wohnblocks bei seiner Ankunft in Mailand, die ihn an einen Bienenstock erinnern, seine große Liebe zu dem Mädchen Maddalena aus der Backfabrik, die er mit nur 15 Jahren heiratet und die immer die Liebe seines Lebens ist, erzählt Ninè rückblickend.

"Das wahre Leben war für mich meine armselige Kindheit, die Emigration nach Mailand und das Überleben in diesen schwierigen Jahren. Mit dem Eintritt in die Fabrik hatte ich zwar ein geregeltes Einkommen, aber ich bin in einen dunklen Tunnel geraten."
(Seite 217)

Ninè, der in jungen Jahren dem Glück und dem Leben nachjagte, hat das Leben im Prinzip verpasst. Nach seiner Ankunft in Mailand aus der sizilianischen Armut, beschimpft als Hungerleider oder "Napulì" findet er tatsächlich Arbeit, kann dem Bienenstock entkommen und lernt seine Liebste kennen. Doch dann zerrinnt ihm das Glück wieder zwischen den Fingern bei trister Fabrikarbeit bei Alfa Romeo und er landet wegen eines schlimmen Fehlers letztlich für 10 Jahre im Gefängnis.
Fünfzig Jahre später blickt er zurück und nach vorn, sieht, dass sich für sein Glück nichts verändert hat und das Leben ohne ihn weiterging und weitergeht. Er lebt immer noch in einer Mietskaserne in Mailand, allerdings inzwischen umgeben von anderen Gesichtern der Flucht. Nur durch seine kleine Enkelin Lisa könnte er etwas Glück finden, doch der Weg für ihn dorthin ist weit und steinig.

"...die Nähe zwischen uns war verloren, und das Leben drängte sie weiter."
(Seite 243)

Völlig unverblümt führt Ninetto als Ich-Erzähler durch die verschiedenen Zeitebenen der Geschichte, die mit seiner Entlassung aus dem Gefängnis beginnt. Er lässt seine Gedanken laufen, wodurch viele Brüche und Sprünge entstehen, die seine Erzählung sehr lebendig und authentisch wirken lassen. Er bezieht den Leser dadurch ein und man fühlt sich von ihm mitgenommen.

"Man kann nicht auf jeden Zug aufspringen, einige muss man verpassen, andere fahren lassen und sich damit abfinden."
(Seite 142)

Auf der Jagd nach dem Leben und auf der Flucht vor der Melancholie und Depression blitzt viel Witz durch die einzelnen Passagen, der nie in Zynismus mündet. Ninè kommt mit den neuen Anforderungen den Lebens nach seinem Gefängnisaufenthalt nicht gut zurecht, er ist ein Aussortierter, der auf der Suche nach Arbeit bereits am Ausfüllen von Computerformularen für den Euro-CV scheitert.
Gemeinsam mit ihm lächelt man mit einer Träne im Auge beim Lesen über die Absonderlichkeiten, die die moderne Welt hervorbringt.

"Sich zu erinnern ist schöner als zu leben, denke ich..."
(Seite 143)

Schlimm, dass er sich im Gefängnis geborgener und beschützter fühlte als draußen in der Welt der Suche und des Hastens. Eigentlich hätte Ninetto mit seinem forschen und anpackenden Wesen das Leben bei den Hörnern packen und viel erreichen können, doch die Tristheit der Fabrikarbeit, seine Schwermut und sein Bruch mit der Familie durch seine Eifersucht bremsen ihn und lassen ihn schließlich hinter dem Leben und dem Glück zurück. Er passt nicht mehr ins Schema, hat das Leben satt.
Erst als er es schafft, zu vertrauen und um Verzeihung zu bitten statt heimlich zu beobachten und sich zurückzuziehen ergibt sich für ihn ein Glücksmoment, der am Ende des Buches Hoffnung gibt.

"Es trennt uns, wenn Dinge passieren, die größer sind als wir, so ist das nun mal."
(Seite 257)

Marco Balzano ist ein Autor der leisen Töne. Diese über mehrere Generationen erzählte Familiengeschichte berührt, macht traurig und hat gleichzeitig viel Witz und Weisheit in sich.
Die Lebensgeschichte von Ninetto ist zugleich ein Teil der Geschichte Italiens des 20. Jahrhunderts mit der in den 1960er Jahren dort üblichen Kinderflucht.
Und man stellt sich am Ende die Frage, inwieweit man gegenüber den Lebensumständen machtlos ist oder ob man das Glück des Lebens selbst in die Hand nehmen kann.
Völlig zu recht würde der Roman ausgezeichnet mit dem regionalen Literaturpreis "Premio Campiello".

Veröffentlicht am 27.03.2017

Eine ergreifende und berührende Familiengeschichte

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Es war mein 1. Roman von Marco Balzano, und er hat mich sehr begeistert und berührt, es wird nicht mein letzter von ihm gewesen sein. Der Autor ließ einem tief in die Seele und das Herz Ninettos blicken. ...

Es war mein 1. Roman von Marco Balzano, und er hat mich sehr begeistert und berührt, es wird nicht mein letzter von ihm gewesen sein. Der Autor ließ einem tief in die Seele und das Herz Ninettos blicken. All seine Höhen und tiefen in seinem Leben konnte man Hautnah miterleben. Er hat alles mit viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl beschrieben. Seine Sprache fand ich sehr poetisch , auch der Schreibstil war flüssig und klar. Die ganze Geschichte fand ich sehr logisch aufgebaut, auch wenn es hin und wieder diese Zeitsprünge gab, aber am Ende floss alles in einander. Seine Protagonisten sind glaubwürdig und real beschrieben, ebenso der Geschichtliche Hintergrund, von der Armut auf Sizilien, und der damaligen Kinderemigration.Von Kindern unter 12 Jahren, die sich auf den Weg nach Norditalien machten um dort Arbeit zu finden, oftmals auch in Begleitung von Erwachsenen. Vielleicht floss sehr viel Wissen und Erfahrung in dan Roman ein, den seine Eltern stammten auch aus Süditalien, die nach Norditalien gingen. Jedenfalls ist sehr viel Herzblut in den Roman geflossen, das spürte man beim Lesen.

Das ganze fängt im Gefängnis an, wo der 59 Jährige Ninetto 10 Jahre seines Lebens verbrachte, er blickt dort auf 50 Jahre seines Lebens zurück, die er in Mailand verbrachte. Wir erleben mit ihm seine Kindheit auf Sizilien , wo er auf den Feldern mithalf, seine Mutter die einen Schlaganfall erlitt. Ninetto ist neun Jahre als er Sizilien verlässt, ein munteres und aufgewecktes Kerlchen. Sein Lehrer mochte ihn, er gibt ihm ein Buch mit , in dem der all seine Erlebnisse einsagen kann, als erstes notierte er ein Gedicht rein. Ninetto liebt Bücher und Gedichte. In Mailand verdingt er sich als erstes mal als Wäschebote, er begegnet Maddalena die seine Große Liebe und später Ehefrau wird. Er lebt die erste Zeit im Bienenstockviertel, da wo noch andere Emigranten wohnen, Chinesen und Maghreb. Auch später als er feste Arbeit hat, sich auf der Abendschule weiterbilden konnte, wohnt er mit Maddalena auch wieder in einem Wohnblock, die Welt verändert sich rasend. So fleißig und Arbeitsam er auch ist, er möchte nur das beste für seine Familie, war es seine Eifersucht und das Schutzbedürfnis für seine Tochter, das er durch eine unüberlegte Tat, im Gefängnis landen ließ. Ninetto ist sehr betrübt das er nicht seine Enkeltochter Lisa sehen darf, das liegt ihm sehr auf der Seele, den er möchte nur das beste für Lisa, das es ihr einmal besser gehen möchte wie ihnen.
Ninetto erkennt seine Fehler und würde so gerne Abbitte leisten...... Ninetto ist kein schlechter Mensch, er hat eigentlich nur gute Seiten und die lässt uns der Autor erkennen.

Ein Roman der zu Herzen geht ...

Veröffentlicht am 23.03.2017

Ein zweites Leben für den Neubeginn

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„Erst jetzt begreife ich, wie geschützt ich hinter Gittern war. Wenn ich mich dort als Versager fühlte, war ich wenigstens nicht der einzige. Hier draußen dagegen begegnet man Leuten, die dir die ganze ...

„Erst jetzt begreife ich, wie geschützt ich hinter Gittern war. Wenn ich mich dort als Versager fühlte, war ich wenigstens nicht der einzige. Hier draußen dagegen begegnet man Leuten, die dir die ganze Lebenslust um die Ohren hauen, die bei dir verpufft ist.“

Inhalt

Mit neun Jahren kommt der pfiffige, kleine Junge Ninetto nach Mailand, um dort ein neues, besseres Leben zu beginnen als in seiner Heimat Sizilien. Seine Mutter lebt nach einem Schlaganfall im Altenheim und sein Vater kann der Abwärtsspirale durch Armut, Hilflosigkeit und Depression nicht entkommen, so dass er seinen Sohn regelrecht drängt, woanders hinzugehen. In der Fremde schlägt sich Ninetto als Bote durch und erobert die Straßen seines verkommenen Wohnviertels. Als er mit 15 Jahren seine große Liebe Maddalena trifft und heiratet, bekommt er erstmals die Chance auf persönliches Glück und eine intakte Familie, die er sich so sehr wünscht. Doch die Jahre vergehen, ohne nennenswerte Höhepunkte und ein tödlicher Fehltritt beraubt Ninetto seiner Freiheit. Als er nach 10 Jahren wieder aus der Haft entlassen wird, kennt er die Welt nicht mehr und doch kennt er jeden verdammten Tag, der ihm fehlt und der ihn unwiederbringlich daran erinnert, was er selbst mit 57 Jahren noch nicht erreicht hat …

Meinung

Der italienische Autor Marco Balzano fängt in seinem eher stillen, tiefsinnigen Roman die Befindlichkeiten eines Menschen ein, dem es an Heimat- und Zugehörigkeitsgefühl fehlt und der versucht sein kindliches Defizit durch eigene, engagierte Handlungen auszugleichen. Das Buch gleicht einem Erfahrungsbericht und ist doch so viel mehr. Viele kleine Ereignisse, erinnerungswürdige Momente und bleibende Eindrücke werden geschildert, so dass der Leser nicht nur erfährt, warum der Protagonist jahrelang im Gefängnis saß, sondern auch, warum er so wurde, wie er jetzt ist. Ebenso gefühlvoll und differenziert führt Balzano eine Liebesgeschichte auf, die mehr als 40 Jahre gehalten hat, trotz oder gerade wegen der dramatischen Ereignisse, die sie immer wieder bedroht haben. Eine Liebe, die durchaus ihre Schwächen und Konflikte hat und die in der Gegenwart nicht nur glänzt. Doch aus den Handlungen spricht tiefe Verbundenheit, ein inniges Verständnis und die Überzeugung, den Menschen gefunden zu haben, den man wirklich braucht, um sich wohl zu fühlen.

Der Schreibstil ist sehr erzählerisch, mit humorvollen Worten durchsetzt und mit Lebensweisheiten gespickt. Oft blitzen wunderschöne Sätze auf, die man sich nur zu gerne notiert, um sie nachklingen zu lassen. Lediglich die sporadischen Zeitwechsel, die immer wieder einfließen und die ungenaue Abgrenzung nach Kapiteln haben bei mir kurzzeitig für Verwirrung gesorgt. Doch schon bald gewöhnt man sich auch an diesen schriftstellerischen Schachzug.

Fazit

Ich vergebe 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen typisch italienischen Roman, der mir nicht nur das schicksalhafte Leben des entwurzelten Ninettos nähergebracht hat, sondern auch die generellen Missstände und Entwicklungen in einer Welt, in der es an Anerkennung und Akzeptanz fehlt und die nur dadurch besser werden kann, wenn sich Menschen darauf besinnen, was es bedeutet, füreinander einzustehen und gemeinsam für die Werte des Lebens zu kämpfen. Eine melancholische, von Erinnerungen geprägte Erzählung, die nachwirkt und trotz ihrer Schwere Hoffnungen keimen lässt.

Veröffentlicht am 23.03.2017

Hoffnung und Elend eines Glückssuchers

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Hoffnung und Elend eines Glückssuchers

Sizilien: Ninetto erlebt die armseligste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann. Hunger und Schläge sind Alltag. Gespielt wird auf der Straße, nur bekleidet ...

Hoffnung und Elend eines Glückssuchers

Sizilien: Ninetto erlebt die armseligste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann. Hunger und Schläge sind Alltag. Gespielt wird auf der Straße, nur bekleidet mit einer Unterhose. Die Mutter ist nach einem Schlaganfall ein Pflegefall. Der Vater ist hart, fast brutal, und schweigsam. Dennoch wirkt Ninetto auf eine seltsame Weise glücklich, frei, ungezwungen und vor allen Dingen furchtlos. Er hat Freunde. Und er hat Lehrer Vincenzo, der in ihm mehr sieht als einen verlotterten armseligen Jungen. Und er setzt Hoffnung in die Zukunft.
Mailand: Ende der 50er Jahre beginnt ein Auswandererstrom aus dem Süden in den Norden, in die Industriestädte, auf der Suche nach Arbeit. Auch Ninetto ist dabei, mit nur 10 Jahren! Er übernimmt für eine Wäscherei in Mailand Botengänge und schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Mit 15 heiratet er Maddalena, und arbeitet schließlich mehr als 30 Jahre in einem Werk von Alfa Romeo, immer die gleiche Arbeit, tagaus tagein.
So beginnt die Geschichte. Eingestreut sind kurze Sequenzen, in denen Ninetto 57 Jahre alt ist, 10 Jahre im Gefängnis verbracht hatte und zu Maddalena zurückkehrt. Diese Zeitsprünge sind genial eingesetzt, um die vielen nur angedeuteten Themen zu vertiefen, die Ninetto sein Leben lang begleiten.

Dem Autor ist ein sprachliches Meisterstück gelungen! Er schlüpft sprachlich in den hoffnungsfrohen kindlichen Ninetto, der seine Welt durch Beobachtung, noch fast ganz ohne Wertung, wahrnimmt. „Kindheit … ist, wenn man innen noch sauber ist.“ Er schlüpft in den älter werdenden, sein Schicksal annehmenden Ninetto. Und er schlüpft in den strafentlassenen, verstummten Ninetto: „Rede nur, wenn die Henne pinkelt“, also nie. Er schreibt in kurzen, klaren Sätzen, die so intensiv sind, dass man sich der inneren Bilder und Gefühle nicht erwehren kann. „Hässlich wie ein Apfelbutzen…“ Und er malt in diesen geraden Sätzen eine symbolhafte Geschichte für Auswandern, Ausgrenzung, für Schuften ohne Perspektive und für die Unmöglichkeit, seinem eigenen So-Sein zu entkommen.

Veröffentlicht am 22.03.2017

Von einem, der auszog - und vielen Kinderemigranten der frühen 60er Jahre in Italien seine Stimme gibt!

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"Das Leben wartet nicht" von Marco Balzano (in der Übersetzung von Maja Pflug aus dem Italienischen) erschien 2017 im Diogenes-Verlag, Zürich (HC, gebunden).

"Ninetto war noch ein Kind, als er allein ...

"Das Leben wartet nicht" von Marco Balzano (in der Übersetzung von Maja Pflug aus dem Italienischen) erschien 2017 im Diogenes-Verlag, Zürich (HC, gebunden).

"Ninetto war noch ein Kind, als er allein von Sizilien nach Mailand kam, um Arbeit zu suchen. Ein furchtloser Junge mit der Sonne des Südens im Herzen. Obwohl er noch zu klein war für das Fahrrad, fand er sogleich eine Anstellung als Bote.
Heute, über fünfzig Jahre später, erkennt sich Ninetto in den Neuankömmlingen aus China und Nordafrika wieder. Sie haben dieselben Träume wie er damals. Und setzen alles daran, sie zu verwirklichen." (Quelle: Buchrückentext)

Der Roman beginnt mit einem vermeintlichen Wiedersehen eines Mannes auf dem Gefängnishof, den Ninetto von seiner Zelle aus beobachtet - und der ihn an seinen früheren Lehrer Vincenzo in San Cono, Sizilien, wo er aufwuchs, erinnert.....

Sizilien, 50er Jahre: Ninetto wächst wie viele andere seiner Generation als Einzelkind in ärmlichen Verhältnissen auf und muss die Schule verlassen, als seine Mutter einen Schlaganfall erleidet: Fortan muss er mit dem Vater auf dem Feld arbeiten, doch es reicht kaum zum Leben, Hunger und Perspektivlosigkeit sowie der gesundheitliche Zustand der Mutter machen der kleinen Familie zu schaffen. So wird er - wie viele andere Jungen aus Süditalien, wo es kaum Arbeit gibt - mit einem Feldarbeiter, Giuvá, nach Mailand geschickt, um Arbeit zu finden und nicht Hungers zu sterben...
Ein Tagebuch, das ihm sein Lehrer schenkte und die Erinnerung an die Schulstunden, in denen er Gedichten lauschte und auch Erzählungen fürs Leben, die den Schülern von Vincenzo nahegebracht wurden, war in seinem Gepäck: Er wollte Dichter werden. Vor seiner Abreise steckt er das Springmesser seines Vaters vorsorglich in seine Tasche...

Doch das Leben, das zuweilen eine andere Melodie spielt als die des Herzens der Menschen, holte ihn bereits im Alter von knapp 10 Jahren ab: Er findet durch seine Klugheit und seine Willenskraft schnell eine Stelle als Laufbursche und fährt für eine Wäscherei Wäsche aus: Schon da erlebt er die große Stadt Milano schrecklich und märchenhaft zugleich; er hat einen scharfen Verstand und eine messerscharfe Beobachtungsgabe.

Marco Balzano lässt nun Ninetto, der hier exemplarisch für Tausende von Kinderemigranten steht, die zwischen 1959 und 1962 gezwungen waren, vom Süden Italiens vorwiegend in die Industriestädte Milano, Turin und Genua zu ziehen; zumeist mit Familienangehörigen oder Freunden, sein Leben erzählen und quasi Revue passieren:

Er entkommt dem "Bienenstock", einem völlig überbelegten Arbeiterblock in Milano, wo er in der Küche übernachten muss und wohnt fortan bei Antonio, der Musikkünstler werden möchte und mit Männern aus den Abruzzen in einer Herberge wohnt: Hier hat er erstmals in seinem Leben das Gefühl, noch Kind sein zu dürfen und wird von den meist Älteren fürsorglich behandelt. Er arbeitet auf dem Bau und verliebt sich in Maddalena, die ebenfalls mit einem Onkel aus Kalabrien kam und in einer Bäckereifabrik arbeitet...

Wie viele andere gründet er sehr früh eine Familie und heiratet Maddalena, bekommt eine Tochter mit ihr. Um seine Familie zu beschützen, trägt er das Messer noch immer in seiner Tasche. Er arbeitet inzwischen im Autowerk von Alfa Romeo am Band und wir erfahren, welch geistlose Tätigkeiten Menschen gezwungen werden, zu tun. Ninetto machte einen großen Fehler in seinem Leben, eine Situation, die er völlig falsch einschätzte und fehl interpretierte - und als Folge 10 Jahre Gefängnis für ihn bedeutete.

Lange wird dem Leser die Geschichte, wie es dazu kam, vorenthalten und Ninetto so facettenreich und als ein eigentlich sehr guter Mensch, der es sehr schwer hatte und seiner Kindheit beraubt wurde, beschrieben, dass es schwerfällt, sich überhaupt solch eine Tat vorzustellen, die ihn ins Gefängnis brachte. Nach dieser Zeit ist nichts mehr so, wie es zuvor war - das Leben hat nicht auf ihn gewartet und manche Züge sind verpasst...

Gerne möchte er seine Tochter und Enkeltochter sehen und zum Schluss nimmt dieser Roman, dem es an Tragik, an Sozialkritik, an Emotionen nicht fehlt, noch eine zaghaft positive Wendung in Richtung Hoffnung, die ihm die Enkeltochter Lisa gibt....

Marco Balzano schreibt schnörkellos und geradlinig; er leuchtet sowohl Ninetto, der stellvertretend für die Generation der Kinderemigranten des südlichen Italiens steht, in vielerlei Hinsicht aus und findet für Vorgänge, die größer sind als Menschen und die diese zuweilen trennen, in wenigen Worten eine ungeheure Aussagekraft.

Der Stil des Autors ist überragend, da er es schafft, durch eine nahe Figurenzeichnung wie in einem Bild durch die Geschichte zu wandern, tiefe Eindrücke über das Verstummen Ninettos und so manche Ungerechtigkeiten des Lebens nicht einfach hinnehmen zu wollen, sondern mit ihm zu erkennen. So wundert es nicht, dass er sich in den chinesischen Einwanderern, die ein Café betreiben, selbst sieht - und ihnen helfen will. Ich bin überzeugt, er wäre ein hervorragender Dichter geworden, hätte ihn das Leben nicht mit all seiner Härte bereits im Alter von 9 Jahren "abgeholt".

Das Nachwort des Autors geht ebenfalls sehr zu Herzen und seine Intention, diesen Kinderemigranten eine Stimme zu geben, ist ihm nach meinem Dafürhalten zu 100% gelungen; auch sehe ich Parallelen zur heutigen politischen Situation, in der die Zahl der Emigranten so hoch ist, wie nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr.

Mit einem Chapeau danke ich Marco Balzano für diesen berührenden und aufwühlenden, nachdenklich stimmenden - und zuweilen humorvoll aufblitzenden Roman. Mich hat Ninettos Geschichte sehr ergriffen und aufgewühlt, besonders was die Schattenseiten der globalen Weltwirtschaft betrifft. Ich spreche eine absolute Leseempfehlung aus und vergebe sehr gerne 5 Sterne.