Der Schwur auf den weißen Ahorn
„Viele Jahre muss der Ahornbaum wachsen, neue Äste und Zweige bilden und seine Wurzeln tief in der Erde verankern, bevor er stark genug ist, den Stürmen des Lebens zu trotzen. Euer Vater ist wie der Stamm – er hat die Fabrik gegründet. Stellt euch vor, ihr seid die drei kräftigsten Äste, die den Baum krönen und sich weiter und weiter verzweigen. Es mögen Zeiten kommen, in denen es unser Ahorn schwer hat, bei Unwetter zur überleben. Es liegt an euch, ob er einmal ein stolzer Baum wird, der andere überragt. Nur wenn ihr in schweren Zeiten fest zusammenhaltet und weise Entscheidungen trefft, wird die Firma durch eure Kinder und Enkel fortbestehen. Versprecht uns und euch, dass ihr diese Worte immer im Herzen tragt.“
Theodor, Georg und Rosa Breitenbach sind mit diesem Gelöbnis eine lebenslange Verpflichtung eingegangen. Der schwerkranke Firmenpatriarch Hermann Breitenbach wünscht sich sehnlichst, seine beiden jüngeren Kinder Georg und Rosa noch einmal wiederzusehen, die nach Colorado auswanderten, um im Bergbaustädtchen Rico eine Tochterfabrik zu gründen. Aus Georg Breitenbach ist mittlerweile ein erfolgreicher Unternehmer geworden, Rosa hat sich nach ihrer Heirat mit Wendelin Ehrlich ebenfalls in Colorado niedergelassen und einer Tochter das Leben geschenkt. Die Freundschaft der bezaubernden kleinen Julia mit dem Indianerjungen Chesmu wird aber nicht gerne gesehen. Als ein tragisches Ereignis die Familie erschüttert und die Folgen der Wirtschaftskrise spürbar werden, entschließt sich Georg, nach Deutschland zurückzukehren, und Theodor bei der Leitung der „Schuherzeugung Breitenbach“ zu unterstützen. Rosa kann sich ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen und bleibt mit ihrer Familie in Amerika, vermisst ihre Geschwister jedoch schmerzlich. Während die Brüder um das Überleben des Familienunternehmens kämpfen, machen Indianerüberfälle, Dürrzeiten und Hunger das Leben von Rosa und ihrer kleinen Familie schwer.
Im zweiten Band ihres Familienepos führt Mina Baites die Geschichte der Unternehmerfamilie Breitenbach fort und schildert in abwechselnder Folge die Ereignisse in der Stammfabrik in Berlin sowie in der Tochterfabrik in Rico/Colorado. Während in Deutschland Theodor mit seiner zweiten Frau Vanda, seinem Sohn Felix und seinen beiden Töchtern Isa und Caroline die zentralen Figuren darstellen, liegt das Hauptaugenmerk in Colorado auf Georg Breitenbach und seiner Schwester Rosa. Ein weiterer Handlungsstrang thematisiert die Geschicke der Indianer, wobei dem Stamm der Núu-ci großzügig Raum gegeben wird. Als Hauptakteur fungiert Akule mit seinen beiden Ehefrauen Onawa und Nituna sowie seinem Sohn Chesmu, dem eine tragende Rolle im Buch zuteil wird. Der ungewöhnlich hohen Anzahl handelnder Figuren ist ein ausführliches Personenregister gewidmet, das die Orientierung im Buch enorm erleichtert und dazu beiträgt, die Übersicht über die verschiedenen Charaktere zu bewahren. Obgleich die einzelnen Figuren sehr gut dargestellt wurden, blieben einige von ihnen für meinen Geschmack zu blass - von Roses Freundinnen Florence und Dorothea, aber auch ihrem Ehemann Wendelin, erfuhr man leider nur wenig. Ich fand es jedoch schön, dass auch die Lebensgeschichte des Antagonisten Kaspar Meißner aus dem ersten Band kurz weiterverfolgt wurde. Wichtige Nebenfiguren aus dem Vorgänger, wie beispielsweise Miss Laura Golding, Blind Katy, Jessi Chocolate, Fat Liddy, Johnny Weizman alias Levy Weißmann, fanden leider nur kurz Erwähnung.
Der einnehmende Schreibstil und die ins Buch eingebrachten Emotionen haben mir auch im zweiten Band dieses Familienepos großes Lesevergnügen bereitet. Die bildhaften Beschreibungen der Landschaft und des Lebens im fernen Colorado bezogen mich stark in die Geschichte der Breitenbachs ein, wobei die Autorin diesmal auch eine gewisse Spannung aufbaute. Im Erzählstrang, der sich mit dem Reservat der Weeminuche befasst, brodelt es zwischen den Ureinwohnern und den weißen Eroberern, es kommt zu Unmut und schließlich zur Eskalation. Durch die Freundschaft von Rosas Tochter Julia mit dem Indianerjungen Chesmu erhält man Einblicke in das Denken und Handeln des Stammes, ihre Rituale und ihren Glauben.
Fazit: Ich empfand „Der Ahorn im Sturm“ als würdigen Nachfolger der Familiensaga um die Schuherzeugung Breitenbach, dessen Handlung vorrangig in der Neuen Welt stattfand. Erst in späterer Folge verlagert sich der Fokus auch auf die Ereignisse in Deutschland, die Weltwirtschaftskrise und die Konflikte mit den indianischen Ureinwohnern liefern eine interessante Rahmenhandlung. Der flüssige Schreibstil, die bildhafte Sprache und eine gut konstruierte Handlung haben mir sehr gut gefallen, über einige Charaktere hätte ich allerdings gerne mehr erfahren.
Ich freue mich bereits auf den dritten Band dieser Reihe!