Profilbild von Beust

Beust

Lesejury Profi
offline

Beust ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Beust über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.08.2019

Wo ist der Golem?

Der Golem
0

Was ich über den Golem wusste - von Rabbi Löw vor Jahrhunderten in Prag erschaffen -, hat mit Gustav Meyrinks Fortsetzungsroman „Der Golem“ nichts zu tun. Wer (wie ich) Paul Wegeners Stummfilm „Der Golem, ...

Was ich über den Golem wusste - von Rabbi Löw vor Jahrhunderten in Prag erschaffen -, hat mit Gustav Meyrinks Fortsetzungsroman „Der Golem“ nichts zu tun. Wer (wie ich) Paul Wegeners Stummfilm „Der Golem, wie er in die Welt kam“ von 1920 vor Augen hatte, geht hier völlig fehl. Zwar spielt sich das Geschehen im Prager Ghetto ab und es fehlt auch nicht an Referenzen an die Golem-Geschichte und kabbalistische Geschehnisse in den verwinkelten Gassen, aber das ist auch alles. Meyrink erzählt eine verwinkelte, oft Farben und Stimmungen wechselnde Traumgeschichte über die Suche nach dem Ich und Spiegelung des Selbst im Doppelgänger. „Impressionistisch“ wird der Roman auch genannt, weil Stimmung, Konturen und Sprache wichtiger sind als die logische Abfolge einer Handlung, der nicht der Verstand, sondern das Gefühl folgen soll.

Der Golem ist dabei nur eine Metapher und ein Handlungsantreiber - seine mystische Komponente ist ähnlich phantastisch wie die Traumkaskaden, die das Buch Ibbur auslösen oder die verwirrenden Ränke des Studenten Charousek gegen den Trödler Aaron Wasserturm. Streckenweise wird es sogar kriminalistisch, da ein Mord geschieht.

Die Erzählperspektive ist durch Träume und Rahmenhandlung(en) gebrochen und wirkt häufig wie durch ein farbiges Milchglas geschaut.

Meyrinks „Golem“ ist ein Leseabenteuer, wenn sich auch bisweilen alles wortreich auflöst, ohne mich mitzunehmen. Vor allem vermisste ich Rabbi Löw und den Golem.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Die Atmosphäre an Bord stimmte nicht - aber sie stimmt auf jeder Seite!

Die Pitards
0

Um es vorwegzunehmen: Simenons „Die Pitards“ ist genial. Der Roman baut auf 166 Seiten eine Dichte, eine Spannung und ein Drama auf, die beispiellos gelungen sind. Warum? Weil Simenon auf engstem Raum ...

Um es vorwegzunehmen: Simenons „Die Pitards“ ist genial. Der Roman baut auf 166 Seiten eine Dichte, eine Spannung und ein Drama auf, die beispiellos gelungen sind. Warum? Weil Simenon auf engstem Raum griffige Ideen und Klischees so arrangiert, dass sie einrasten und zusammenarbeiten wie ein perfekt ausgetüfteltes Räderwerk.

Èmile Lannec fährt erstmals mit „seinem“ Schiff auf große Fahrt: Er hat sich die „Donnerwetter“ gerade gekauft - zusammen mit seinem Kompagnon und Ersten Offizier Moinard und einem Bankkredit, für den die Schwiegermutter gebürgt hat. Das Schiff trägt den Namen eines Schimpfwortes - nicht den der Gattin, doch ebendiese ist auf der ersten Fahrt mit an Bord. Das sind ganz viele Klischees, derer sich Simenon bedient, um mit einfachsten Mitteln einen Spannungsaufbau zu kreieren: Schwiegermutter - das klingt immer unheilvoll. Das Schiff nicht auf den Namen einer (oder der eigenen) Frau zu taufen, stiftet ebenfalls Unheil (dem man das Schimpfwort gleich entgegentrotzt). Und eine Frau an Bord? Das bringt mindestens so viel Unheil, wie einen Spiegel zu zerschlagen: „Auf dieser Reise aber stimmte die Atmosphäre nicht!“ (S. 84) - dafür aber in diesem Roman!

Mich beeindruckt, wie scheinbar mühelos Simenon dieses einfache Spannungsarrangement liefert - denn hier ist es wie mit dem Kochen: Die einfachsten Gerichte brauchen die höchste Kunst, weil sie jeder kann und sich der Könner nur durch echte Meisterschaft vom Durchschnitt abheben kann. Dem Arrangement würzt Simenon noch eine anonyme Drohung bei, zwei Stürme, einen Kontrakt unter höchstem Zeitdruck, ein bisschen Aberglauben nebst Seemansgarn und einen Schiffbruch, um die Lektüre im letzten Drittel des Romans auf allerhöchste Spannung zu heizen. Ich konnte das Buch nicht weglegen.

Das Sahnehäubchen aber liefert die schwierige Beziehung zwischen Lannec und seiner Frau bzw. zu seiner Schwiegermutter und der ganzen Familie Pitard. Diese Sippe geriert sich in Caen in Nordfrankreich offenbar als etwas Besseres, weshalb aus Lannec die ganze Hilflosigkeit und gefühlte Minderwertigkeit der unterklassigen Herkunft spricht, wenn er sich die Absichten der Pitards ausmalt - ohne sie wirklich zu kennen.

Das schwächste an dieser Ausgabe ist das auf literarische Darstellung künstlich aufgeblasene Nachwort von Elke Schmitter, das die Kargheit von Simenons Sprache ungefragt dadurch zu loben versucht, dass es adjektiv-umschwommene Wortgiganten bemüht, um die Meeresgefangenheit von Simenons Romanarrangement neu, aber schlechter zu erzählen. Das Nachwort klärt wenig, ich empfand es als überflüssig. Deshalb ignoriere ich es bei der Sternvergabe und ziehe keinen ab.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Ein Oskar für die Deutschen

Die Blechtrommel
0

„Die Blechtrommel“ gehört nicht zu den Romanen, die ich in der Schule lesen musste. Zum Glück – denn die sprachliche Gewalt und der fantasievolle Ausdruck wäre an mich als Teenager verschwendet gewesen. ...

„Die Blechtrommel“ gehört nicht zu den Romanen, die ich in der Schule lesen musste. Zum Glück – denn die sprachliche Gewalt und der fantasievolle Ausdruck wäre an mich als Teenager verschwendet gewesen. Auch die Vielschichtigkeit Oskar Matzeraths in seiner selbstgewählten Zwergen- und Narrenrolle hätte mir wohl erst in quälenden Deutschstunden vorgekaut werden müssen. Nun aber – ganz freiwillig in die Lektüre gestürzt – konnte ich diesen so deutschen Roman genießen.

Der Interpretationen gibt es viele- ich füge dem Kanon darum nichts hinzu, wohl aber den Lobreden auf die „Blechtrommel“ ein paar Zeilen: Günter Grass‘ Meisterwerk ist 1959 erstmals erschienen und hat bei den Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs Furore gemacht: nicht zu knapp Lob und Tadel. Die Qualität des Romans zeigt sich heute, denn auch 74 Jahre nach Kriegsende und Vertreibung erschüttert „Die Blechtrommel“ den Leser ins Mark. Die Nazis und ihre Verbrechen werden nicht dämonisiert oder verzerrt – verzerrt ist ja schon der erzählende „Krüppel“ -, sondern in beiläufiger Weise erzählerisch belebt. Das ermöglicht eine teilnehmende Lektüre, die selbst den Nachgeborenen gelingt.

Oskar ist nicht sympathisch. Im Gegenteil – ich mag ihn nicht. Er ist wahnsinnig egoistisch, launisch und ungezogen- Diese kindlichen Eigenschaften befähigen ihn aber erst zum direkten Blick auf die Wahrheit: „Narrenmund tut Wahrheit kund“. Und diese Wahrheiten betreffen die politischen Kataklys4men der Zeit genauso wie die vielen privaten und familiären Katstrophen in Oskars unmittelbarem Umfeld. Hinzu kommt die fast magische Fähigkeit der Trommel, auch zeitlich ferne Situationen wahrhaftig heraufzubeschwören, so dass Grass seinen Erzähler ein komplettes Bild wiederzugeben erlaubt.

Mir hat das ausgesprochen gut gefallen, auch wenn das dritte Buch – das Leben in Düsseldorf nach dem Krieg – abfällt. Volker Schlöndorffs Entscheidung, seinen Oskar-prämierten (haha!) Kinofilm auf die beiden ersten Bücher zu beschränken, funktioniert wahrscheinlich deshalb (ich habe ihn nicht gesehen, weil immer erst das Buch lesen wollte).

Kurzum: Es lohnt sich, diesen deutschen Nachkriegsroman zu lesen – wegen der Sprache, wegen der Erzählkunst und wegen der Geschichte.

Autor: Günter Grass

Veröffentlicht am 13.08.2019

Gefangen im geheimnislosen Traum der Kinder des Borgo Vecchio (S. 24)

Die Kinder des Borgo Vecchio
0

Literatur ist dann auch Dichtung, wenn sie es schafft, Realität so in Sprache zu verdichten und umzusetzen, dass sie an Bedeutung gewinnt und etwas Größeres ausdrückt, das wir Leser erkennen und erfahren ...

Literatur ist dann auch Dichtung, wenn sie es schafft, Realität so in Sprache zu verdichten und umzusetzen, dass sie an Bedeutung gewinnt und etwas Größeres ausdrückt, das wir Leser erkennen und erfahren können. Giosuè Calaciura gelingt dies mit seinem Roman „Die Kinder des Borgo Vecchio“: Das Elend armer Klassen in abgehängten Vorstädten wird lebendig in der bedauernswerten Kindheit von Mimmo, Cristofaro und Celeste. Im Borgo Vecchio fallen tiefe Schatten auf die Träume und Pläne eines jeden, denn Armut, Gewalt und der mangelnde Wille zur Veränderung verhindern den Aufstieg, den Ausbruch, die Erfüllung der Träume.

Calaciura ist ein großartiger Erzähler, der mittels weniger Worte, die zugleich aber poetisch dicht glänzen, die kleinen Geschichten, Absichten und Erlebnisse der drei Kinder lebendig werden lässt – wie auch das ganze Viertel. Der robinhoodeske Gauner Totò nimmt vor den Augen des mitfiebernden Lesers seinen Kampf gegen das System auf und begegnet dem Wolf im Menschen. Die Hure Carmela erschafft in ihrem Bett ein kurzes Paradies inmitten des Elendsquartiers, verliert jedoch nie ihre Würde.

Die plastischen Figuren agieren in einem höchst lebendigen, vignettenreichen Schauplatz, der auf 153 Seiten mehr Farben und Formen erhält als man für möglich hält. Sprache kann so vieles, wenn Calaciura und seine geniale Übersetzerin Verena von Koskull sie gekonnt einsetzen. Und wenn der Brotduft durch die Nüstern aller Gassen weht (S. 44 ff.), dann wird die Lektüre zum synästhetischen Erlebnis fast aller Sinne.

„Die Kinder des Borgo Vecchio“ erzählt eine bekannte Geschichte aus der Armut und der Kindheit, spart nicht mit Abenteuer und Verrat und führt vor Augen – wie gute Literatur es vermag –, dass vermeintlich undurchbrechbare Kreisläufe gesprengt und nicht alle Träume zum Scheirtern verdammt sind, nur weil die Welt so grausam ist, wie sie vor allem im klammen Griff des Elends ist.

Ich bin begeistert.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Die tausendundein Einfälle des Kommissars Barudi

Die geheime Mission des Kardinals
0

Rafik Schami ist als guter Geschichtenerzähler bekannt. Das stell er auch in „Die geheime Mission des Kardinals“ unter Beweis: Opulent, mit Charme und Witz gleitet die Geschichte dahin: Der damaszenische ...

Rafik Schami ist als guter Geschichtenerzähler bekannt. Das stell er auch in „Die geheime Mission des Kardinals“ unter Beweis: Opulent, mit Charme und Witz gleitet die Geschichte dahin: Der damaszenische Kommissar Barudi muss gemeinsam mit einem italienischen Kollegen den Mord an einem Kardinal aufklären, der sich aus zunächst unerklärlichen Gründen in den zerklüfteten Norden Syriens aufgemacht hat, um das Wirken eines Wunderheilers zu untersuchen.

Nach „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ ist dies der zweite Roman, der im (nahezu) gegenwärtigen Syrien spielt, und erneut ist das Leben in der syrischen Diktatur das Leitmotiv des Roman: Wie sind Alltag, Beruf, Anständigkeit, Liebe und Meinungsäußerung in einer Diktatur möglich? Der „Kardinal“ bedient sich hierbei der Kriminalgeschichte, um den Machtapparat des Assad’schen Diktatur von innen darstellen zu können: Kommissar Barudi muss sich nicht nur mit dem Mord, sondern auch mit Geheimdiensten, Speichelleckern des Regimes und den allgemeinen Zwängen des Unrechtsstaates herumschlagen. Sein Begleiter, der italienische Kommissar Mancini, ist hier nicht Gegenspieler, sondern liefert komplementäre Probleme des von Mafia und Korruption versuchten italienischen Polizeiapparates. Beide Kommissare sind die anständigen Ausnahmen hierzu.

Erzählerisch bleibt Schami, der bisher nicht als Kriminalautor aufgefallen ist, bei seinem orientalischen Muster, vieles darzustellen, als würde es mündlich vorgetragen, In vielen Gesprächen – beim Friseur oder beim Essen – werden in Gesprächen Seitengeschichten erzählt, die das Bild des vergangenen und des gegenwärtigen Syriens zeichnen. Das hemmt zwar den Lauf der Handlung, die nicht unbedingt spannend ist, aber reichert die Lektüre ungemein an, denn man erhält ja nicht eine Geschichte, sondern „tausendundeine“.

Dennoch zeigt der Roman erhebliche Schwächen, die vor allem mit seiner Überfrachtung zu tun haben: Schami möchte Syrien am Vorabend des Bürgerkrieges zeigen. Dazu bedarf es der Rückblenden in das intakte Syrien, in die syrische Küche, das Gesetz der Gastfreundschaft, aber auch der Einblicke in den Machtapparat, den korrupten Sumpf, die Einschränkungen der Freiheiten; es braucht aber auch das Erstarken des Islamischen Staates in den Bergregionen, die ländliche Unzufriedenheit, den Wunderglauben. Man fragt sich mit Barudi: „Alles ist unwirklich: der Bergheilige, Sippenchef Scharif, die islamische Republik. Allmächtiger Gott, wie soll das enden?“ (S. 365) Die Frage ist berechtigt, denn es kommt auch noch ein Verbrecherclan hinzu, der seine Krakenarme über das Mittelmeer ausgestreckt hat, eine christliche Wunderheilerin mit Scharlatananhang sowie – besonders überzogen – eine vatikanische Intrige in unmittelbarer Nähe zu Papst Benedikt XVI. Schami verarbeitet hier sicher auch seine Erfahrungen als Teil der christlichen Minderheit in Damaskus, aber weniger wäre mehr gewesen: Es gar kein Kardinalsrang vonnöten, um die Handlung in Gang zu setzen, In einer Etage darunter lässt sich Schamis These auch vorführen, nämlich: „Aberglauben als Massenerscheinung gedeiht am besten in elenden oder übersättigten Gesellschaften.“ In diesem Gedanken berühren sich der Islamische Staat dort und die Fake News in der westlichen Welt – und das ist ein guter Einfall.

Ein Wort noch zu Kommissar Barudi: Die Figur des alten Kommissars, der unmittelbar vor dem Ruhestand seinen letzten Fall löst, ist so alt, dass er geradezu ein Stereotyp geworden ist. Diesen Mangel an Originalität gleicht Barudi aber selbst aus, denn seine Persönlichkeit wird so liebevoll, vielschichtig, warmherzig und menschlich erschaffen, dass sie problemlos über die Schwächen des Romans hinwegträgt. Es ist auch nicht schwer, in Barudi ein Alter Ego des Autors zu erkennen.

„Die geheime Mission des Kardinals“ ist nicht Rafik Schamis Meisterwerk und sicher auch nicht die beste literarische Verarbeitung des Assad-Regimes, aber ein sehr lesbares orientalisches, aufgeklärtes Kriminalstück.