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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.09.2020

Psychologisch, politisch und unterhaltsam!

Die Parade
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Wir begeben uns mit Beginn der Lektüre in irgendein unbenanntes Land, in dem bis vor kurzem Bürgerkrieg herrschte und wir befinden uns in der Gegenwart.

Auch die Protagonisten, zwei Straßenbauer, sind ...

Wir begeben uns mit Beginn der Lektüre in irgendein unbenanntes Land, in dem bis vor kurzem Bürgerkrieg herrschte und wir befinden uns in der Gegenwart.

Auch die Protagonisten, zwei Straßenbauer, sind namenlos.
Sie heißen „vier“ und „neun“.
Sie müssen eine 230 km lange Straße, die von einer lebendigen Hauptstadt im Norden zum ländlich geprägten und ärmlichen Süden führt, asphaltieren und linieren.
Diese Aufgabe muss in zwölf Tagen erledigt sein, denn anschließend soll gerade auf dieser Straße mit einer Militärparade der noch junge Frieden gefeiert werden.

Die beiden Männer grundverschieden.
Vier ist ein erfahrener Tiefbauarbeiter. Verantwortungsbewusst, zuverlässig, diszipliniert, schnell und korrekt erledigt er, was man ihm aufträgt. Er hält sich strikt an die Regeln, will einfach nur seinen Job erledigen und bald wieder nach Hause.

Neun ist unerfahren, aber abenteuerlustig und neugierig.
Er ist interessiert an Land und Leuten und offen für alles, was sich am Straßenrand abspielt.
Er sucht Kontakt zu den Einheimischen und interessiert sich für deren Kultur.
All das ist gegen die Regeln.
Er sorgt mit seiner Lebensfreude und Menschenfreundlichkeit für Ärger.

Die genannten Unterschiede führen zu Konflikten und als einer der beiden ernsthaft erkrankt, wird es dramatisch.

Beide kommen an ihre Grenzen, beidehinterfragen ihre Aufgabe

„Die Parade“ ist eine fesselnde, spannende und intelligente Parabel, die nachdenklich stimmt.

Es ist ein außergewöhnliches und besonderes, psychologisches und politisches Werk, das inhaltlich und sprachlich interessant ist und einen unerwarteten Ausgang hat.
Außerdem ist es hochaktuell und gleichermaßen realistisch wie verstörend.

Der Autor wählt seine Worte ganz gezielt. Er erzählt scharfsinnig, knapp und verdichtet.
Durch sein ruhiges und unaufgeregtes Erzählen kann die spannungs- und wendungsreiche Handlung umso deutlicher in den Vordergrund rücken.

Eggers beobachtet und erzählt recht nüchtern und schnörkellos und minimalistisch. Er moralisiert nicht.

Sehr zu empfehlen!

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Veröffentlicht am 15.09.2020

10 Kostbarkeiten.

Letzte Erzählungen
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Der Autor erzählt in diesem Werk, das aus seinem Nachlass stammt, tiefgründig, feinfühlig und einfühlsam von den verborgenen und abgründigen Tiefen des menschlichen Seins.

Er hat in diesem Buch brillante, ...

Der Autor erzählt in diesem Werk, das aus seinem Nachlass stammt, tiefgründig, feinfühlig und einfühlsam von den verborgenen und abgründigen Tiefen des menschlichen Seins.

Er hat in diesem Buch brillante, ruhige und überwiegend melancholische Erzählungen versammelt, die meist kein Happy End haben oder offen enden.

Es geht meist um alltägliche, zufällige oder schicksalshafte Begegnungen, die bedeutsam sind und doch keine großen Auswirkungen haben.

Die totgeglaubte Mutter ist lebendig und kerngesund.
Eine Klavierlehrerin duldet, dass ihr Schüler sie bestiehlt, weil er so gut spielt.
Ein Mord wird geflissentlich übersehen.
Eine Freundschaft zerbricht wegen einer Liebe.
Der Verlust der Ehegatten.
Der Einsatz von KO-Tropfen.
Eine tote italienische Haushaltshilfe nach der kein Hahn kräht.
Ein italienischer Cafébesitzer, der sein Café nach der Frau benennt, die ihn verlassen hat...

Es sind präzise formulierte Erzählungen von Durchschnittsbürgern, Einzelgängern, Gescheiterten, Scheiternden oder Ausgegrenzten in Alltagssituationen.
Keine großen Dramen, eher vertraute oder unspektakuläre Schicksalsschläge.
Nichts Außergewöhnliches?
Doch!
Schon allein wegen der beeindruckenden Sprache.

Meines Erachtens sollte man jede Erzählung für sich ganz aufmerksam lesen, das Gelesene auf sich wirken lassen und dann darüber sinnieren.
So ist der Lesegenuss am größten.

Diese zehn großartigen, melancholischen, manchmal etwas verstörenden Geschichten wurden erst nach dem Tod des irischen Schriftstellers William Trevor, der 2016 verstarb, veröffentlicht.

Ich empfehle sie sehr gerne weiter! 10 Kostbarkeiten, die man in Häppchen genießen kann.

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Veröffentlicht am 15.09.2020

Bezaubernd und märchenhaft!

Der Meisterkoch
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Historisch, kulinarisch und abenteuerlich.

Schon die Gestaltung des Covers ist eine Augenweide. Ich konnte nicht umhin, mich dem Buch zuzuwenden und den Klappentext zu lesen.
Und dann war klar: an diesem ...

Historisch, kulinarisch und abenteuerlich.

Schon die Gestaltung des Covers ist eine Augenweide. Ich konnte nicht umhin, mich dem Buch zuzuwenden und den Klappentext zu lesen.
Und dann war klar: an diesem Roman komme ich nicht vorbei.

Wir begeben uns auf eine genussvolle und abenteuerliche Reise nach Istanbul und landen circa im Jahre 1600.
Es ist die Blütezeit des osmanischen Reiches.

Im Topkapi-Palast erblickt ein ganz besonderes Kind das Licht der Welt: ein Kind, mit einem außergewöhnlichen, perfekten Geschmackssinn.
Dieses Kind entkommt dem mörderischen Massaker des Sultans.
Mithilfe des Küchenchefs überlebt es und kann flüchten.
Nach seinen Lehrjahren im „Tempel der Genüsse“, während derer er sich in die Tänzerin Kamer verliebt, kommt der junge Mann als Koch an den Hof zurück, um den Waffenmeister zu bekochen.

Er zaubert wunderbare Gerichte, bereitet herrliche Genüsse und versteht es, mit seinen Kreationen bestimmte Gefühle auszulösen, was ihm große Macht verleiht.
Er scheint aber neben Kochen auch noch etwas anderes im Sinn zu haben...

Mit einer blumigen und poetischen Sprache, mit einer wunderbaren Wortwahl und mit anschaulichen Bildern erschafft der Autor eine verzauberte und märchenhafte Stimmung.

Es ist eine zauberhafte Geschichte, die den Leser in ihren Bann zieht.
Wer in die Atmosphäre von 1001 Nacht eintauchen möchte und exotische Gerichte, Gerüche und Düfte liebt, sollte sich diesem fantastischen Werk, das alle Sinne anspricht, zuwenden.

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Veröffentlicht am 15.09.2020

Tiefgründig, sprachlich herausragend und anspruchsvoll!

Was wir voneinander wissen
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Eine intensive Beschäftigung mit tiefgründigen Fragen und die Angst vor Fehlentscheidungen.

Orientierung an Anderen und Anderem, um zu sich selbst zu finden.

Poetisch, philosophisch, psychologisch, wissenschaftlich, ...

Eine intensive Beschäftigung mit tiefgründigen Fragen und die Angst vor Fehlentscheidungen.

Orientierung an Anderen und Anderem, um zu sich selbst zu finden.

Poetisch, philosophisch, psychologisch, wissenschaftlich, brisant und kurzweilig.

Ausgehend von der Frage, ob sie, schließlich zum zweiten Mal schwanger, noch ein zweites Kind haben möchte, beschäftigt sich eine Frau, die namenlose Ich-Erzählerin, mit dem Leben ihrer Mutter und ihrer Großmutter.

So wie ein ins Wasser geworfener Stein konzentrische Kreise verursacht, kommt die Autorin von der zentralen Fragestellung hin zu anderen Menschen und anderen Themen.

Sie überdenkt einschneidende Entscheidungen und ihre eigene Rollle. Sie reflektiert ihre Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen und ihren Umgang mit Schicksalsschlägen.

Es ist originell (aber nachvollziehbar), dass sie mit ihren Überlegungen bei der großen Verbundenheit und innigen Beziehung des Psychoanalytikers Sigmund Freud und seiner Tochter Anna, ebenfalls Psychoanalytikerin, ankommt und es ist interessant, dass ihre Gedanken zum ersten Kaiserschnitt wandern, wobei Mutter und Kind wegen mangelnder Hygiene keine Chance hatten, zu überleben.

Sie streut immer wieder biographische Details berühmter Wissenschaftler wie Wilhelm Conrad Röntgen und John Hunter ein.

Warum zieht sie all diese Berühmtheiten zu Rate?
Auf den ersten Blick erscheint es willkürlich.
Aber inzwischen glaube ich, dass sie sich genau mit diesen Persönlichkeiten beschäftigt, weil sie sich alle in irgendeiner Weise mit den Themen Schwangerschaft, Geburt, Kinder, Durchblick, Weitblick, Blick ins Innere und Erkenntnis auseinandergesetzt haben.

Immerhin sucht die ich Erzählerin ja auch nach einer Erkenntnis. Sie sucht Antworten auf existentielle Fragen und letztlich, meine ich, den Sinn des Lebens.

Im Verlauf des Romans erfahren wir von erniedrigenden und traumatisierenden Erfahrungen und so einiges über ihre Biografie, die einerseits von zu großer Distanz und andererseits von zu großer Nähe geprägt ist, und das wiederum erklärt den Grund für ihre Auseinandersetzung mit der Mutterrolle im Speziellen und mit ihrer Sinnsuche im Allgemeinen.

Die Mutter der Erzählerin war kühl und distanziert und es ist davon auszugehen, dass sie ihrer Tochter, der namenlosen Ich-Erzählerin, nicht genug emotionale Zuwendung geben konnte.

Sie, also die gerade erwähnte Mutter, wurde von der eigenen Mutter, einer Psychoanalytikerin, in deren Ausbildung als Probandin, „missbraucht“.

Keine Wunder, dass sie auf die übergriffige und bedrohliche Nähe mit schützender emotionaler Distanziertheit reagierte, was ihrer eigenen Tochter, der Ich-Erzählerin, wiederum schadete und eine Art innerer Leere bescherte.

Die Autorin erzählt überwiegend in sachlich-nüchterner Sprache, benutzt brillante Formulierungen, wortgewaltige Metaphern und bildet zum Teil ellenlange Sätze.

Unterm Strich schreibt sie davon, dass man erst dann eine liebevolle und herzliche Mutter werden kann, wenn man selbst genügend Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung erhalten hat.

Ich empfehle das anspruchsvolle, sprachlich herausragende und gelungene Werk gerne weiter, möchte es jedoch ungern als typischen Roman bezeichnen.

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Veröffentlicht am 14.09.2020

Wendephase, Ankunft und Neubeginn im Fokus.

Die Annonce
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Der Inhalt überzeugt!
Die Sprache ist eine Wucht!
Das schmale Bändchen ist eine Perle!

Wir beginnen zu lesen und sind sofort mittendrin.
Mittendrin in dem abgeschiedenen Ort Fridières in Frankreich ...



Der Inhalt überzeugt!
Die Sprache ist eine Wucht!
Das schmale Bändchen ist eine Perle!

Wir beginnen zu lesen und sind sofort mittendrin.
Mittendrin in dem abgeschiedenen Ort Fridières in Frankreich mit seinen Naturgewalten.
Die Nacht ist dunkler als irgendwo sonst, das Gewitter ist „ein wildes Schauspiel“ und der Regen ist eine „rasende Flut“.

In diesem, in tausend Metern Höhe gelegenen Weiler in der Auvergne, einem von Wiesen und Wäldern umgebenen „verblüffenden Landstrich“, gleichermaßen rau und schroff, wie atemberaubend und faszinierend, sind die 37-jährige Annette und ihr 11-jähriger Sohn Éric gelandet.
Hier wollen sie Fuß fassen.

Der 46-jährige Paul lebt dort mit seiner Hündin Lola ... und mit seinen beiden um die 80-jährigen Onkeln Louis und Pierre ... und mit seiner etwas jüngeren Schwester Nicole.

Das Miteinander in dieser Berglandwirtschaft ist nicht unkompliziert und der Ton ist nicht zimperlich. Der Umgang ist bärbeißig und ruppig.

Paul hat, nachdem er auf Tanzfesten und anderweitig über Jahre hinweg nicht erfolgreich war, per Annonce eine Frau gesucht, um nicht wie seine Onkel als rüpelhafter Junggeselle mit mittelalterlichen Vorstellungen und überholten Vorgehensweisen zu altern... und Paul hat Annette gefunden.

Bauer sucht Frau?
Ja!
Aber zu keinem Zeitpunkt klischeehaft, kitschig oder seicht.

Annette lebte am anderen Ende von Frankreich und hatte eine Trennung hinter sich, die der Beziehung mit einem alkoholkranken, gewalttätigen und straffällig gewordenen Mann ein Ende setzte ... und Annette, nun alleinerziehend, hat die Annonce entdeckt und ausgeschnitten.

Zweimal haben sich Paul und Annette getroffen. Dann wurden Nägel mit Köpfen gemacht.

Die beiden Neulinge Annette und Éric haben es nicht ganz leicht in der eingeschworenen und in sich geschlossenen Gemeinde und in dem aufeinander eingespielten Haushalt, in dem Pauls Schwester Nicole das Regiment über die drei Männer führt.

Die konservativen und hochmütigen Onkel und die gleichermaßen stolze wie verbitterte und um ihren Stand besorgte Nicole erleichtern den Beiden die Eingewöhnung nicht.
Und einen guten Stand hat Nicole, weil sie sich als zuverlässige Unterstützung und fleißiges Lieschen nicht nur um die beiden Onkel, sondern um alle Alten und Bedürftigen im Weiler kümmert. Trotzdem meint sie, ihr Revier verteidigen zu müssen...

Es ist interessant, in die Lebensgeschichten der Charaktere einzutauchen, etwas über ihre Vergangenheit und Gedankenwelt zu erfahren und sie und ihren Alltag näher kennenzulernen.

Es macht Spaß diesen beachtlichen kleinen Ort zu erkunden, der von Vater Lemmet, einem „ambulanten Bäcker und Krämer“ versorgt wird.

Die 1962 geborene Marie-Hélène Lafon schreibt sprach- und bildgewaltig.
Sie wählt ihre Worte präzise und bringt das, was sie zu Papier bringen möchte temporeich, prägnant und schnörkellos auf den Punkt.

Staccato-artig und in Forte präsentiert sie virtuos ein wuchtiges Werk mit alltäglichem, aber originell umgesetzten Inhalt.

Sie spielt mit Worten, Sätzen und Satzzeichen.
Mit dem zeitweisen Weglassen von Kommata zum Beispiel treibt sie das Geschehen voran.
Kurze Zeit später hat man das Gefühl, auf einem Fluss aus Worten und Sätzen dahinzutreiben.
Das Gelesene reißt einen mit und wirkt wie ein endloser Gedankenstrom, der sich in langen Sätzen und aneinandergereihten Wörtern ohne Satzzeichen oder nur durch Kommata getrennt präsentiert.

Die Autorin ist eine genaue Beobachterin, die das Beobachtete gründlich seziert und detailliert, aber niemals langatmig, beschreibt.

Der Leser wird durch ihre nüchterne Sprache auf Distanz gehalten, worin sich der vorsichtige, misstrauische und verängstigte Charakter Annettes, die Schüchternheit Érics, die noch zaghafte Beziehung der sich annähernden Partner und das kühle Verhältnis der zusammengewürfelten neuen Familie zeigt.

Da ist noch wenig Vertrauen und kaum Nähe. Der Text spiegelt, wovon er erzählt.
Und das wirkt unfassbar glaubwürdig.

Nach Gefühlen sucht man im Text vergeblich. Stattdessen gelingt es der Autorin durch ihre Erzählweise, sie während der Lektüre im Leser selbst entstehen zu lassen.
Das ist große Kunst.

Man sieht die überwältigende Natur regelrecht vor sich, nimmt die Gerüche von Heu und Erde wahr und kann unschwer in die Szenerie eintauchen und die Menschen hautnah beobachten.

Trotz aller Sachlichkeit würzt Marie-Hélène Lafon das schmale Bändchen mit einer wohldosierten Portion Witz.

Man sollte dieses besondere, beeindruckende und bewegende Werk meines Erachtens langsam, aufmerksam und bedächtig lesen, damit man sein Lesevergnügen nicht mindert und nichts verpasst.
Das ist nicht ganz einfach, weil die Sprache einen Sog ausübt und den Leser voranzutreiben scheint.

Ein Lesegenuss!
Ein Highlight!


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