Eine Zeitreise durch die Belle Epoque.
Der Mann im roten RockEs ist äußerst interessant und höchst unterhaltsam, Dr. Samuel Jean Pozzi, den Mann im roten Rock, kennenzulernen und zu begleiten.
Er wurde 1846 geboren, hat sich aus bescheidenen und einfachen Verhältnissen ...
Es ist äußerst interessant und höchst unterhaltsam, Dr. Samuel Jean Pozzi, den Mann im roten Rock, kennenzulernen und zu begleiten.
Er wurde 1846 geboren, hat sich aus bescheidenen und einfachen Verhältnissen hochgearbeitet und ist als renommierter und wohlhabender Arzt und Wegbereiter auf dem Gebiet der Frauenheilkunde in der elitären, feingeistigen und hochgebildeten Pariser High Society gelandet.
1918 verstarb er unter tragischen und erschütternden Umständen.
Der beeindruckende Pozzi war ein exzentrischer, belesenerer, kultivierter und intelligenter Freigeist sowie ein fortschrittlicher, weitsichtiger und vorausblickender Denker, der in Frankreich auf dem Gebiet der Medizin durch die Einführung von Hygienevorschriften vor Operationen ganz erheblich zur Senkung der Sterblichkeit und damit zum wissenschaftlichen Fortschritt beitrug.
Dass der elegante und schöne Chirurg, der sein Handwerk meisterlich beherrschte, ein Bücher sammelnder männlicher Nymphomane war, erfährt man en passant.
Ebenso, dass er sich nicht besonders streng an die Grenzen der Arzt-Patientinnen-Beziehung hielt.
Julian Barnes hat, so kommt es mir vor, präzise recherchiert und erzählt kenntnisreich und kompetent aus dem Leben Pozzis, der gern und häufig reiste, um seinen Horizont zu erweitern und dadurch auch bedeutsame Beziehungen zwischen England und dem Kontinent knüpfte, was eine unwissentliche Gegenbewegung und konträre Haltung zum kürzlich vollzogenen Brexit darstellte.
Aber nicht nur das!
Julian Barnes vermittelt ein wunderbares Bild der damaligen Zeit und macht uns mit weiteren wichtigen Persönlichkeiten, z. B. Marcel Proust, Guy de Maupassant, Oscar Wilde und Èmile Zola, sowie mit Kunst und Kultur des Fin de Siècle und der Belle Epoque bekannt.
Er appelliert mit seinem leicht und flüssig lesbaren Text an Welt- bzw. zumindest „Europaoffenheit“ und Toleranz, wodurch der Text, „getarnt“ als historischer Roman, ein hochaktuelles Thema aufgreift und m. E. durchaus als unaufdringliches Statement gegen den Brexit interpretiert werden könnte.
Der 1946 geborene Julian Barnes ist ein scharfsinniger Schriftsteller, der mit „Der Mann im roten Rock“ ein anschauliches und lebendiges Zeitportrait sowie einen anspruchs- und gehaltvollen, anregenden, interessanten und auch amüsanten und subtil ironischen Text über das Leben und die Kunst sowie Macht und Auswirkung von Klatsch und Tratsch geschrieben hat.
Ich empfehle dieses faszinierende, aufschlussreiche und raffiniert, aber manchmal eher collageartig als stringent komponierte Werk, das viel mehr als eine Biographie ist, sehr gerne weiter!