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Chrihart

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Veröffentlicht am 24.11.2024

Nicht ausgeschlossen: Nach der Lektüre wird man zum Igelfan

Das Igel-Tagebuch
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Das Igel-Tagebuch, aktueller Buchtitel der britischen Journalistin Sarah Sands, im Verlag Dumont erschienen, ist ein biografisches Buch. Das ja. Ein klassisches Tagebuch würde ich es dennoch nicht nennen ...

Das Igel-Tagebuch, aktueller Buchtitel der britischen Journalistin Sarah Sands, im Verlag Dumont erschienen, ist ein biografisches Buch. Das ja. Ein klassisches Tagebuch würde ich es dennoch nicht nennen wollen. Zeitlich sind ihre Aufzeichnungen und Gedanken zwischen der Coronazeit und dem Beginn des Angriffkriegs auf die Ukraine angesiedelt. Sie findet eines Tages einen Igel in ihrem Garten. Igel „Peggy“ hat Parasiten. Ihr Mann und Sarah wollen dem Igel helfen und bringen diesen zur Igelstation. Es folgen elf Kapitel voller Fakten, Hintergrundwissen und Interviews zu Igeln.

Das Buch punktet aber nicht nur durch Wissensvermittlung, sondern auch durch das Erzählen einer persönlichen Geschichte. Während sich die Autorin um den Igel kümmert, kommt ihr Vater ins Krankenhaus und sie bangt auch um dessen Leben. So wechseln sich die Krankheitsbefunde und gesundheitlichen Fortschritte des Tiers und des Vaters ab. Sands versucht in den Assoziationen zum Thema Igel, die sie hat, etwas Tröstliches zu finden.

Es bedeutet zuerst nur Ablenkung für sie, dann schon fast Lebenssinn. Sands lernt die Natur der Igel kennen und schätzen. Der philosophische Aspekt nimmt einen großen Teil ihrer Gedanken ein. Überraschenderweise ist in Literatur, Liedern und politischen Reden zuweilen die Rede von Igeln. Unterschiedlichste Igel-Projekte werden von Sands recherchiert und beschrieben. Sie besucht z. B. den Ort Alderney auf der Insel Guernsey, wo helle Igel vorkommen. Auch ein Hund namens Henry, der trainiert wurde, Igel aufzuspüren und zu schützen, wird u. a. vorgestellt. Um nur zwei der Projekte zu nennen.

Das Schöne an Igeln ist, dass sie eine Art Leitspezies sind. Was auch immer wir für Igel tun, wie zum Beispiel wilde Gartenecken einrichten, nützt auch allen anderen Tieren. Mit Igelschutz helfen wir der gesamten Natur, zitiert Sands eine der Igelschützerinnen.

Es ist die Rede von einer regelrechten Igel-Community, die dem Buch viele eindrückliche Gespräche und Begegnungen beschert. Alles in allem ein launig erzähltes Buch über die wachsende Liebe und Begeisterung zu den stacheligen Tierchen, die durchaus auf die Leser überspringen kann.

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Veröffentlicht am 03.10.2024

Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

»Man lebt sein Leben nur einmal«
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In dem Buch mit dem Titel „Man lebt sein Leben nur einmal“ von Thomas Hüetlin, erschienen im Kiepenheuer und Witsch Verlag, wird die leidenschaftliche, aber auch am Ende toxische Liebesbeziehung von dem ...

In dem Buch mit dem Titel „Man lebt sein Leben nur einmal“ von Thomas Hüetlin, erschienen im Kiepenheuer und Witsch Verlag, wird die leidenschaftliche, aber auch am Ende toxische Liebesbeziehung von dem Hollywood-Filmstar Marlene Dietrich, dem „Blauen Engel“, und dem Schriftsteller Erich Maria Remarque des Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“ auf 352 Seiten beschrieben. Sie sind einander verfallen, trotz jeweiliger wechselnder Ehepartner und Affären. Kommen nicht voneinander los, bis sie der Tod scheidet.

Sie wollen sich nicht einengen und ein modernes Leben führen, ohne konventionelle Fesseln, leiden aber darunter und sind beide höllisch eifersüchtig. Sie sind ruhelose Figuren in der damaligen High Society im Exil. Geld und Ruhm brauchen sie, wie die Luft zum Atmen, aber bedeuten tun sie ihnen dennoch nichts. Sie geben ihr Geld aus für das Bewahren ihrer Fassaden und zum Betäuben ihrer Sinne. Sie setzen sich für Flüchtlinge bzw. die amerikanischen Soldaten ein, beziehen Stellung gegen ihr Heimatland. Die beiden schillernden Einzelgänger sind voller Zweifel und Ängste. Erich macht sogar irgendwann nach der Beziehung zu Marlene eine Therapie.

Neben den Schaffenskrisen und auch Karriereknicken beutelt das Paar, das sich 1937 in Venedig das erste Mal trifft, eine Amour fou, eine obsessive Liebe. Die Stars verabreden sich meistens in Paris. Oft im Schlepptau mit dabei: die Ehefrau des Schriftstellers und der Ehemann samt der Tochter der Diva. Sie fühlen sich für diese verantwortlich, aber gebunden sind sie nur auf dem Papier. Marlene und Erich streiten aufs Heftigste und sperren sich sogar ein. Marlene versteckt z. B. regelmäßig seinen Autoschlüssel, damit er nicht wegfahren kann. Die Diva greift tief in die Trickkiste, um ihn immer wieder herumzukriegen. Sie bekocht ihn mit deftigen Gerichten und macht ganz auf Hausmütterchen und er schreibt Briefe an sie als „das Puma“, auch wenn er weiß, dass sie einen anderen oder eine andere hat und sich gerade mal wieder deswegen nicht melden kann.

Sich selber treu sein ja, Untreue dem Partner gegenüber ja, Verlassen nein. Das alles spielt sich vor dem Wüten der hassverzerrten Nazischergen ab. Remarque und Dietrich sind wie Zehntausende auf der Flucht vor dem Terrorregime, allerdings in luxuriösen Hotels. Beide gehen später gemeinsam ins Exil nach Amerika. Die Dietrich besorgt sogar Remarques Schiffspassage, obwohl sie da schon nicht mehr so innig miteinander sind. Beide plagt das Heimweh, aber zurück gehen sie nur noch besuchsweise nach Ende des Krieges. Als Remarque im Sterben liegt, schickt sie ein Telegramm: „Ich schicke dir mein ganzes Herz.“ Kurz bevor sie stirbt, liest sie einen seiner Briefe, von ihrem „Alfred“, und schreibt über ihn als ihren „Waffengefährten“.

Dem Autor Thomas Hüetlin, der Reporter beim Spiegel sowie Korrespondent in New York und London gewesen und preisgekrönt ist, gelingt ein Buch, das dank ausführlicher Brief- und Tagebuchrecherchen der Protagonisten im Exil die immer wieder aufflammende Liebe des berühmten Paars Marlene und Erich kurzweilig erzählt.

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Veröffentlicht am 01.09.2024

Anderssein und Ausgrenzung im Ferienlager und ein hilfreicher Wolf

Wolf
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In dem Buch mit dem Titel Wolf, erschienen 2023 beim Carlsen Verlag, erzählt der Autor Saša Stanišić eine Geschichte von einem Jungen, der von seiner alleinerziehenden Mutter eine Woche zu einem Ferienlager ...

In dem Buch mit dem Titel Wolf, erschienen 2023 beim Carlsen Verlag, erzählt der Autor Saša Stanišić eine Geschichte von einem Jungen, der von seiner alleinerziehenden Mutter eine Woche zu einem Ferienlager im Wald verdonnert wird, weil sie nicht freibekommt. Er ist ein Junge, der zu keiner Clique gehört, dennoch in Ruhe gelassen wird. Im Gegensatz zu Jörg. Er ist ebenfalls Außenseiter, wird aber drangsaliert, besonders von Marko und seinen Freunden. Alle schweigen dazu. Auch unser Ich-Erzähler. Sie landen als Zimmergenossen auf Zeit in derselben Hütte und lernen sich dort zum ersten Mal richtig kennen, obwohl sie dieselbe Klasse besuchen.

Die beiden könnten gegensätzlicher nicht sein und doch haben sie am Ende einige Gemeinsamkeiten und freunden sich zögerlich an. Der Ich-Erzähler ist anfangs eher erleichtert, dass es ihn nicht trifft und erst später verlässt er die passive Beobachterrolle. Die Betreuer bemerken erst einmal nichts und später, als sie das Mobben mitbekommen, greifen sie nicht ein. Sie reagieren hilflos. Nur der Koch ist einer, der wach ist und immerhin ein bisschen etwas mitbekommt, und auch zu helfen versucht. Es wird gewandert und Jörg in einen Wasserfall geworfen, es wird gesungen und Jörgs Pudding wird ihm weggenommen. Es passiert viel unter der heilen Oberfläche.

Aber der Ich-Erzähler macht eine Wandlung durch, denn da ist auch noch der Wolf. Die Figur des Wolfes soll den inneren Konflikt, das innere Ringen deutlich machen. Der Wolf erscheint im Traum und zeigt nicht nur Angst, sondern auch Wut. Die Wut, die am Ende hilft, selbst ins Handeln zu kommen. Bis dahin fiebert der Leser ab 11 Jahren – das Buch sollte aber auch jeder Erwachsene gelesen haben, um sich an Gruppendynamiken zu erinnern – sich durch die ganzen Aktivitäten des Freizeitlagers, das auch gefährliche Aktionen, wie den Besuch eines Klettergartens, beinhaltet. Dabei soll nämlich ausgerechnet Marko Jörg mit den Seilen sichern.

Fazit: Der Ich-Erzähler leidet mit, wird zum Beobachter und Erzähler über das Mobben und traut sich zuerst nicht, etwas zu tun. Der Grat zwischen Anderssein und Ausgrenzung ist sehr schmal und es wird auf den 160 Seiten klar: Jeden kann es treffen. Die Illustratorin Regina Kehn hat das grandiose Buch virtuos mit Silhouetten und der Schmuckfarbe Gelb in Szene gesetzt. Der Autor, der im Buch auch davon erzählt, wie man die eigene Geschichte umschreiben kann, wurde 1978 in Jugoslawien geboren. Seine Bücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er wohnt und arbeitet in Hamburg. Dieses nominierte Buch hätte den Jugendliteraturpreis auf jeden Fall verdient.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Musikalische Weltreise: Wissen experimentell und auditiv aneignen

Ohren auf Weltreise
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Der Offenburger Stefan Franzen, Musikwissenschaftler und Germanist, legt das unwiderstehliche Buch mit dem Titel „Ohren auf Weltreise“, im Hannibal Verlag erschienen, vor. Für jeden Tag im Jahr präsentiert ...

Der Offenburger Stefan Franzen, Musikwissenschaftler und Germanist, legt das unwiderstehliche Buch mit dem Titel „Ohren auf Weltreise“, im Hannibal Verlag erschienen, vor. Für jeden Tag im Jahr präsentiert er ein Stück sogenannte Weltmusik, das man sich auf mitgelieferten Playlists anhören kann (mit Barcodes). Alte und neue Musik stellt er nebeneinander, bekannte und unbekannte Musiker, es ist eine wilde Entdeckungsreise für Musikliebhaber, die gerne in fremde Kulturen abtauchen. Monat für Monat, Tag für Tag gibt es einen neuen Sound. Ein Musikkalender in Buchform. Schon allein im Monat Januar erleben die Leser viele Meister und talentierte Newcomer der verschiedenen Genres aus allen Herren Länder kennen.

Mau Mau aus Italien, aber auch Nive Nielsen aus Grönland werden in meine Plattensammlung spontan aufgenommen. Ich denke, ich werde an dem Buch noch länger meine Freude haben, denn es eignet sich nicht nur zum Reinhören und Schmökern, sondern auch zum Nochmal-Hören und -Lesen. Die Überschrift beinhaltet jeweils Name und Geburtsdatum sowie Geburtsort der Interpreten, den Titel des Songs natürlich, ebenso wie das Album (inklusive Entstehungsjahr und -ort). Zu jeder Musik gibt es eine Seite geballte Information. Kompakt und unterhaltsam gibt Franzen Einblicke zum Background der Interpreten und zur Entstehung des Stückes. Franzen trifft die Musiker auch und zitiert aus den Interviews. Die Kulturgeschichte liefert er gleich mit. Er recherchiert zum Musikstil/-Mix, zum Herkunftsland und ergänzt durch musikalische Querverweise.

Franzen hat für den 14. Januar, um nur ein Beispiel zu nennen, die Sängerin Emel Mathlouthi aus Tunesien ausgewählt, deren Musik den „Arabischen Frühling“ begleitet hat. Die Leser lernen so unglaublich schnell etwas über die Musik, können sie einordnen und zuordnen. Man merkt, dass Franzen ein Mann vom Fach ist und er überall auf dem Gebiet der Musik bewandert ist. Er hat sich auf Roots music, Jazz und die Grenzbereiche zu Klassik, Pop und Rock spezialisiert und schreibt seit 1996 für Fachzeitschriften und Tageszeitungen. Franzen arbeitet als freier Autor u. a. für die Sender SRF2, WDR3, WDR Funkhaus Europa und NDR Info. Sein Buch ist eine Entdeckung und jedem zu empfehlen, der Interesse hat, sein globales Musikwissen zu vertiefen.

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Veröffentlicht am 25.05.2024

Ein Buch gegen das Vergessen

"Ich habe getötet, aber ein Mörder bin ich nicht"
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Die Hardenbergstraße liegt in Berlin-Charlottenburg. Dort begeht der Student Soghomon Tehlirian im März 1921 ein Attentat auf einen gediegenen älteren Herrn mit Gehstock. Es stellt sich heraus, dass das ...

Die Hardenbergstraße liegt in Berlin-Charlottenburg. Dort begeht der Student Soghomon Tehlirian im März 1921 ein Attentat auf einen gediegenen älteren Herrn mit Gehstock. Es stellt sich heraus, dass das Opfer Talaat Pascha zugleich Täter ist und auf Platz 1 einer Liste mit 100 Schuldigen steht. Der Tote ist der ehemalige Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reiches und lebt in Berlin inkognito. Er hat sich dem Gerichtsurteil entzogen, er ist maßgeblich am Genozid des armenischen Volkes beteiligt. Der armenische Attentäter wird vom vorsätzlichen Mord freigesprochen.

Das Sachbuch mit dem Titel „Ich habe getötet, aber ein Mörder bin ich nicht“ der Autorin Dr. Birgit Kofler-Bettschart ist harte Kost, aber nichtsdestotrotz ein wichtiges Buch. Der Titel des Buches bezieht sich auf das Zitat des Attentäters Tehlirian. Es ist für ihn kein Verbrechen, einen verurteilten Massenmörder zu töten. Das damalige Gericht sieht es genauso und lässt ihn wieder frei. Tehlirian gehört zur Geheimoperation Nemesis. Vergeltung, so nennt sich die Gruppe, die den ungesühnten Genozid an 1,5 Millionen Armeniern rächen wollen.

Die Geheimoperation Nemesis hat zum Ziel, die Drahtzieher des Völkermordes auszuschalten und zugleich die Weltöffentlichkeit auf den Völkermord an den Armeniern aufmerksam zu machen. Interessant ist, dass Deutsche den Schuldigen geholfen haben, zu entkommen. Die Alliierten haben auf den Prozess gedrungen und die Liste mit den 100 Schuldigen gesammelt. Die Schuldigen der Massaker werden zwar aufgrund der Beweislage verurteilt, aber in Abwesenheit, weil sie nicht gefasst werden können. Das Urteil kann also nicht vollstreckt werden.

Das Buch führt den Leser quer durch Europa und in den Kaukasus, von Paris über Genf nach Berlin, von Istanbul über Wien nach Rom und Tiflis. Dorthin verfolgen die Attentäter die Schuldigen. Es liest sich zuweilen wie ein Agententhriller. Die Männer der Vereinigung verüben zwischen 1919 und 1922 Attentate auf acht der 100 osmanischen und aserbaidschanischen Hauptverantwortlichen des Völkermords. Kofler-Bettschart erzählt die Geschichte der Geheimoperation. Sie hat sie bis ins kleinste Detail recherchiert und so lernt man die einzelnen Akteure kennen, deren Schicksal am Ende auch noch einmal aufgeführt wird.

Den Lesern kann das Buch dabei helfen, zu erkennen, dass der Genozid an den Armeniern durch die Osmanen während des Ersten Weltkrieges systematisch organisiert worden ist. Deutsche und österreichische Regierungen haben, weil sie Verbündete der Osmanen gewesen sind, weggeschaut und sich nicht eingemischt. Obwohl sie von den Gräueltaten gewusst haben. Todesmärsche, Massaker und Deportationen - das alles wirkt wie eine osmanische Vorlage für die Nationalsozialisten.

Fazit: Insgesamt bietet das Buch, im Ueberreuter Verlag erschienen und erst ab 16 Jahren empfohlen, gut recherchierte Hintergründe zum Völkermord an den Armeniern. Hier macht die Autorin Zusammenhänge sichtbar. Am Ende des Buches führt sie ein Interview mit der Armenien- und Genozid-Spezialistin Tessa Hofmann. Die Journalistin und Buchautorin Kofler-Bettschart hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Armenier geleistet. Es ist ein Buch gegen das Vergessen.

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