Dramatisch
KerbholzDieser Roman beginnt wie ein Wachtraum, ein schrecklicher freier Fall, bei dem sich die Zeit in die Länge zieht, bevor es zum tragischen Aufprall kommt.
April 1978. Es ist dunkel, das Wetter übellaunig, ...
Dieser Roman beginnt wie ein Wachtraum, ein schrecklicher freier Fall, bei dem sich die Zeit in die Länge zieht, bevor es zum tragischen Aufprall kommt.
April 1978. Es ist dunkel, das Wetter übellaunig, die Westküstenstraße tückisch, und ein Wagen mitsamt der Familie darin rutscht vom Rand ins Unbekannte. Niemand weiß, wo sie sind. Es wird Wochen dauern, bis jemand merkt, dass der Mietwagen verschwunden ist. Nixons erste Absätze fangen die Stille, die Geschwindigkeit und die Klarheit dieses Horrors ein, bevor sie uns zurück in die Realität führen. Von hier aus ist der Roman straff und gut durchdacht, er vermittelt ein wachsendes Gefühl der Angst mit unerwarteten Konsequenzen und erstreckt sich über zwei parallele Handlungsstränge.
In der Vergangenheit stürzte die Familie Chamberlain am Grund einer Schlucht in einen Fluss. Nicht alle können dem Wrack entkommen. Die Hinterbliebenen bleiben kalt, allein und verletzt zurück - mit einer Handvoll Kekse. Das zu lesen, war wirklich nicht leicht und ging mir ziemlich ans Herz. Am liebsten wäre ich ins Buch geklettert und hätte ihnen geholfen. Natürlich weiß der Autor, was er mit seinen Beschreibungen verursacht. Er zerrt uns mit bis an den Rand des (menschlichen) Abgrunds - und schubst uns dann noch tiefer hinein. Man leidet furchtbar mit, bleibt trotz aller Widrigkeiten voller Hoffnung, man zittert, man bangt. Und man spürt, dass das noch nicht alles gewesen ist. Zweiunddreißig Jahre später wird eine Tante in England, die nach Neuseeland gereist ist und sich den erfolglosen Suchaktionen angeschlossen hat, mit der Nachricht kontaktiert, dass menschliche Überreste zusammen mit einer Uhr nahe der Küste gefunden wurden. Die Geschichte der Tante verzahnt sich mit der Geschichte der Kinder, während wir herausfinden, was ihnen in den vergangenen Jahren widerfahren ist. Das titelgebende Kerbholz ist ein seltsames Stück Holz, das bei den sterblichen Überresten gefunden und als eine Hälfte einer Schuldenaufzeichnung identifiziert wurde; die andere Hälfte gehört der Person, der die Schulden quasi tilgen muss. Schulden sind ein Hauptthema der Geschichte: Wie wird eine Schuld vereinbart, gibt es Unterschiede zwischen den Kulturen, wie wird sie zurückgezahlt, wie binden uns Schulden?
Die Handlung gerät auf oft unerwartete, aber zufriedenstellende Weise ins Wanken. Wir wechseln zwischen den Perspektiven der Kinder. Maurice, mit 13 Jahren der Älteste, ist von Natur aus nachtragend und besitzergreifend, der Sohn seines Vaters, so etwas wie ein Tyrann. Katherine, etwas jünger, ist einfallsreich, klug und freundlich. In der ersten Nacht, in der sie draußen schläft, findet sie Trost in Glühwürmchen, und im Verlauf der Geschichte entfalten sich ihre Perspektiven und Sinne. Nixon illustriert in wunderschönen Details sein reichhaltiges Gespür für die Umwelt und skizziert das Land, das Wasser und die Flora. Die Spannung zwischen den beiden Geschwistern nährt die Konflikte des Romans und verdeutlicht, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Zudem stellt der Roman unsere Erwartungen an das Genre in Frage und wirft dabei heikle Fragen über die Natur unserer Beziehungen zueinander auf. Was schulden wir den Menschen um uns herum im wahrsten Sinne des Wortes? Welche Verpflichtungen haben wir auch gegenüber Angehörigen, den Lebenden und den Toten? Wie entstehen Familien und was tun sie füreinander? Ich habe mir zuvor noch nie solche Gedanken über diese Themen gemacht.
Dramatisch, vielschichtig, tiefgründig und dabei äußerst unterhaltsam. Ich empfehle den Roman gern weiter.