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Veröffentlicht am 30.05.2024

Annette

Fräulein Nettes kurzer Sommer
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Von 1817 bis 1821 begleiten wir die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in diesem Roman, der mir wahnsinnig gut gefallen hat. Karen Duve zeichnet ein feines, detailreiches und oft amüsantes Bild dieser ...

Von 1817 bis 1821 begleiten wir die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in diesem Roman, der mir wahnsinnig gut gefallen hat. Karen Duve zeichnet ein feines, detailreiches und oft amüsantes Bild dieser Zeit, die geprägt ist von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Wir lernen die übergroße Familie der Droste kennen, die ihr kaum einmal Zeit zum Alleinsein ermöglicht und der sie oft in die Natur entflieht, um Mineralien zu sammeln - völlig unangemessen! Das Gewimmel, den Lärm, die ständige beschwerliche Reiserei und die Lebensumstände im ländlichen Westfalen zeigen anschaulich auf, wie es im Biedermeier zuging. Neben dem studentischen Leben der Herren, das wirklich höchst humorvoll und auch entlarvend dargestellt wird, sieht das Frauenbild dieser Zeit eher traurig aus: Sticken, stricken, klöppeln und nett aussehen, auf keinen Fall seine Meinung äußern. Die zwar kränkliche aber extrem aufmüpfige Annette passt da so gar nicht hinein. Als sie sich in einen armen bürgerlichen (und protestantischen) Studenten verliebt, schreiten die Verwandten zu Tat.

Mir hat diese lebendige Schilderung der Figuren und ihrer Zeit sehr viel Spaß gemacht. Annette und ihre Familie pflegten Umgang mit vielen bekannten Personen. Es tauchen so viele Dichter (ja, leider nur Männer) auf - irgendwie unglaublich, dass sich alle kannten. Neben Annette und ihrem Herzensmenschen Straube, gilt auch den Brüdern Grimm viel Aufmerksamkeit. Es tut so weh zu lesen, dass sie mit ihren Kinder- und Hausmärchen zunächst belächelt wurden und keinen Erfolgt hatten. Von der Erstauflage (1.000 Exemplare) des 2. Teils musste mehr als die Hälfte unverkauft wieder eingestampft werden.

Irgendwie gefreut hat es mich, dass die poetischen Anwandlungen der Studenten mit ihrer literarischen Zeitschrift im Sande verlaufen sind, wohingegen Annette, der man auf keinen Fall und unter keinen Umständen ein Talent bescheinigen wollte, heute bekannter ist, als alle Männer dieses elitären Kreises. Was hätte die Droste noch alles schreiben können, wenn sie nicht genötigt gewesen wäre, einen Großteil ihres Lebens mit stumpfsinnigen Tätigkeiten zu vergeuden.

Der Schreibstil besticht durch eine an die beschriebene Epoche angepasste Form und überrascht immer wieder durch peppige Einlagen.

Große Leseempfehlung besonders für alle, die sich für die Literatur der Romantik und des Biedermeier interessieren und für alle, die Annette von Droste-Hülshoff näher kennenlernen wollen.

Sehr erhellendes Nachwort, Stammbaum und Landkarte, sowie Einbindung von kleinen Passagen interessanten Faktenwissens runden diesen Roman ab.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt

Der Wal und das Ende der Welt
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Ich habe mehrmals nachgeschaut: Ja, der Roman ist tatsächlich von 2015 und er nimmt eine Pandemie und ihre Folgen vorweg, bei der wir alle mitreden können. Joe Haak ist Analyst in der City of London bei ...

Ich habe mehrmals nachgeschaut: Ja, der Roman ist tatsächlich von 2015 und er nimmt eine Pandemie und ihre Folgen vorweg, bei der wir alle mitreden können. Joe Haak ist Analyst in der City of London bei einer großen Bank, die einen erheblichen Teil ihres Gewinns mit Leerverkäufen macht, also auf den Fall von Aktien spekuliert. Joe hat ein Analyse-Programm entwickelt, das tausende von Faktoren aus dem Tagesgeschehen verarbeitet und so Voraussagen trifft. Was passiert, wenn in Asien eine Grippe ausbricht, die hoch virulent und außergewöhnlich oft tödlich verläuft? Ja, was?

St. Piran ist ein kleines Fischerdorf in Cornwall, das gerade einmal 307 Einwohner zählt. Einige von ihnen finden eines Tages einen jungen Mann am Strand - nackt und ohne Bewusstsein: Joe. Kaum ist dieser wieder auf den Beinen, organisiert und delegiert er die Rettung eines gestrandeten Wals. Und schwupp ist er in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Und diese schildert Ironmonger ganz zauberhaft und ein wenig aus der Zeit gefallen. Jedenfalls möchte man sofort da hin und die teilweise kauzigen Menschen sehen und anfassen.

Der Roman beschreibt das Aufeinandertreffen des Analysten Joe mit einer Dorfgemeinschaft in einer Extremsituation. Immer wieder gibt es Rückblicke, die erklären, warum Joe schließlich in St. Piran am Strand gelandet ist und dann kommt die Grippe. Der Roman enthält viel Gesellschafts(kritik)- und Wirtschaftstheorie. Es ist wahnsinnig interessant diese Zusammenhänge zu erfahren, allerdings bremsen diese Episoden auch den Lesefluss, es passiert dann eben so gut wie nichts. Wunderbar ist die Geschichte, wenn alle im Dorf zupacken und die Handlung vorangeht. Der Roman ist wirklich schön geschrieben und hat seinen Höhepunkt - wehe wer an Kitsch denkt - an einem Weihnachtsabend und seit dem wird jedes Jahr in St. Piran das "Fest des Wals" gefeiert. (Das wird schon relativ früh erwähnt, deswegen darf ich das so schreiben.)

Ein Roman, der wirklich lohnt und eine unbedingte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Es sind bloß Träume!

Der Schattenmörder
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Schmackhafte Thrillerzutaten: Ein 25 Jahre zurückliegender brutaler Mord, ein fieser und unheimlicher Junge, der seine Freunde beeinflusst, ein finsterer Wald, der nur "Die Schatten" genannt wird, Träume, ...

Schmackhafte Thrillerzutaten: Ein 25 Jahre zurückliegender brutaler Mord, ein fieser und unheimlicher Junge, der seine Freunde beeinflusst, ein finsterer Wald, der nur "Die Schatten" genannt wird, Träume, in die man hineinschlüpfen kann und einer, der nicht mitmachen wollte - Paul. Als seine Mutter im Sterben liegt, kehr er in seinen Heimatort zurück und ist sofort wieder von den Erinnerungen überwältigt. Zu allem Überfluss versucht seine außerdem an Demenz erkrankte Mutter ihm etwas mitzuteilen, aber das einzige, was Paul zunächst entdeckt, ist ein mit blutigen Handabdrücken übersäter Dachboden in seinem Elternhaus.

Die Geschichte wird einmal aus der Ich-Perspektive von Paul geschildert und einmal aus der Personalen Erzählperspektive der Ermittlerin Amanda Beck. Außerdem wechseln die Zeitebenen immer wieder zwischen der Zeit des Mordes vor 25 Jahren und heute hin und her. Langsam setzt sich aus den Erinnerungen und Rückblicken die Geschichte zusammen, die Paul dazu veranlaßt hat, seinem Heimatort den Rücken zu kehren. Pauls Mitschüler Charlie Crabtree wird schnell vom fragwürdig zum gruseligen Charakter in diesem Buch. Er hat ein Faible für Klarträume, also Träume, die man als solche wahrnimmt und in denen man frei entscheiden kann, was man macht. Diese Träume nehmen bald eine Besorgnis erregende Richtung ein. Gerade dieser Aspekt des Buches erinnert stark an Stephen King und das ist sicherlich auch beabsichtigt, denn seine Werke werden öfter erwähnt.

Trotz eines wirklich guten Twists zum Ende hin, verzettelt sich der Thriller für mich in zahlreichen Elementen, die bewußt Spannung erzeugen sollen und dann irgendwie zusammengebracht werden müssen. Das Buch beginnt wirklich stark, baut Neugier und Gruselatmosphäre auf, die aber dann in einer eher banalen Auflösung verpufft und auf dem Weg dahin auch schon an Spannung eingebüßt hat. Da muss so viel erklärt werden, warum und wieso und eigentlich interessiert es dann (leider) auch gar nicht mehr, weil es schon etwas konstruiert wirkt.

Ein gut lesbarer Thriller mit einem klasse Twist, auf den ich auch reingefallen bin - sorgfältiger lesen! -, aber ansonsten kein Highlight für mich.

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Veröffentlicht am 17.05.2024

Moskito und Titicaca auf Juist

Die Schule am Meer
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Eine reformpädagogische Internatsschule zu etablieren ist der Traum von Martin Luserke und Paul Reiner. Den idealen Platz dafür finden sie im Loog auf der ostfriesischen Insel Juist. Voller Tatendrang ...

Eine reformpädagogische Internatsschule zu etablieren ist der Traum von Martin Luserke und Paul Reiner. Den idealen Platz dafür finden sie im Loog auf der ostfriesischen Insel Juist. Voller Tatendrang schaffen die Lehrer und Lehrerinnen gemeinsam mit den Schülern einen Ort, der neue Wege beschreitet. Musischen und naturwissenschaftlichen Fächern wird viel Raum gegeben, es wird gesegelt und geschwommen und der Lehrkörper wird geduzt. Es herrscht trotz einiger Entbehrungen und viel Arbeit ein freier Geist. Ein Liebling der Internatszöglinge ist Anni Reiner, Pauls Frau, die aus einer vermögenden Frankfurter Familie stammt und erhebliche Summen in die Schule investiert. Vielen Insulanern hingegen ist das Treiben im Loog ein Dorn im Auge und als die Nationalsozialisten an Einfluss gewinnen, muss die als "Kommunisten- und Judenschule" titulierte Schule am Meer um ihre Existenz bangen.

Sandra Lüpkes hat einen wahren Schmöker geschrieben. Wunderbar hat sie Fakten über das Internat mit Fiktion verwoben und so der Schule, ihren Lehrern und Schülern ein Denkmal gesetzt. Im Zentrum steht Anni Reiner, die sich uneingeschränkt für ihre Schule eingesetzt hat und vieles erdulden musste. Sie wird im Zusammenhang mit der Schule am Meer bisher kaum erwähnt. Der Autorin, selbst auf Juist aufgewachsen, war es ein Anliegen, gerade dies zu ändern. Anhand von persönlichen Aufzeichnungen der Familie Reiner und Gesprächen mit Annis jüngster Tochter Karin, die auf Juist geboren wurde, konnte sie sich ein Bild dieser außergewöhnlichen Frau machen.

Der Roman verfolgt die Geschichte der Gründung der Schule bis zur ihrer Schließung, eingebunden in reale und erdachte Schicksale von Anni, Moskito, Marje, Zuck (Eduard Zuckmayer) und Inselbewohnern, zwischen warmen Sommertagen am Strand und einer wegen Kälte und Eis isolierten Insel. Es ist eine Internatsgeschichte, eine Familiengeschichte, eine Inselgeschichte und auch eine Geschichte über den Untergang der Weimarer Republik, in dessen Strudel auch die Schule am Meer gerät.

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Veröffentlicht am 15.05.2024

Das Bild der Woche

Das Foto schaute mich an
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Alle drei Wochen erscheint in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Feuilleton das "Bild der Woche", ausgesucht von Katja Petrowskaja, die dazu einen kurzen Text verfasst. Insgesamt 57 Kolumnenbeiträge ...

Alle drei Wochen erscheint in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Feuilleton das "Bild der Woche", ausgesucht von Katja Petrowskaja, die dazu einen kurzen Text verfasst. Insgesamt 57 Kolumnenbeiträge aus den Jahren 2015 bis 2021 sind in diesem Buch versammelt, bis auf wenige Ausnahmen sind alle Bilder in schwarz-weiß.

Die Bilder sind sehr unterschiedlich, ebenso wie ihre Herkunft: Fotos aus Ausstellungen, aus Archiven, private Aufnahmen, Plakate, gar ein Plattencover ist dabei, das letzte Foto stammt von der Autorin selbst. Gelegentlich sind es Bilder aus Serien, die in Büchern oder Ausstellungen zu sehen sind bzw. waren. Jeder sieht etwas anderes in einem Bild, wird an etwas erinnern, verbindet etwas mit dem Abgebildeten. So sind auch die Bildbesprechungen von Petrowskaja sehr persönlich. Läßt man das Bild auf sich wirken, ist man überrascht, was der beigefügte Text dann offenbart: Kleinigkeiten, die einem entgangen sind, Interpretationen, an die man gar nicht gedacht hat, Bezüge, die man nicht hergestellt hat. Die feine Beobachtungsgabe und die Interpretationen der Autorin haben mich beeindruckt und ich habe die Texte mit großem Interesse gelesen. Sie vermitteln neben dem oft ganz persönlichen Bezug auf eigenes Erleben und eigenes Betrachten auch viele Fakten über die Künstler und Künstlerinnen, deren Projekte, einflussreiche und wichtige Veröffentlichungen und das Abgebildete selbst. Manchmal hat mich ein Text viel stärker fasziniert als das Foto. Eines meiner Lieblingsbilder ist "Old Men's Toy Shop" (S. 168), das zunächst so wohltuend freundlich wirkt. Es wird durch den Text in ein anderes Licht gerückt und erzählt alles das, was man nicht sieht. Dadurch wird auch deutlich, dass viel Recherchearbeit in das Verfassen der Bildbeschreibungen eingeflossen ist.

Ich habe diese Sammlung gerne gelesen, weil sie Einblicke in viele Lebensbereiche gewährt, an Dinge erinnert, die man mal gehört, aber wieder vergessen hat, viele Bezüge zu bekannten Künstler*innen aufdeckt und die Neugier weckt, sich mit vielem intensiver zu beschäftigen.

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