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Veröffentlicht am 09.12.2024

Gestalttherapie zum Kennen lernen

Gestalttherapie
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Interessierten an einer Psychotherapieausbildung steht in Österreich ein breites Spektrum an möglichen Therapierichtungen zur Verfügung, dabei kann es aber auch eine Herausforderung sein, sich schnell ...

Interessierten an einer Psychotherapieausbildung steht in Österreich ein breites Spektrum an möglichen Therapierichtungen zur Verfügung, dabei kann es aber auch eine Herausforderung sein, sich schnell und doch fundiert einen Überblick über diese Angebotsvielfalt zu verschaffen. 
 Das

Büchlein „Gestalttherapie“ ist Teil einer Reihe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einen schnellen und doch tiefergehenden Einblick in die Grundprinzipien einer bestimmten Psychotherapierichtung zu geben. Es richtet sich also vorrangig an Menschen, die sich noch nicht viel mit Gestalttherapie beschäftigt haben und sich rasch ein Bild davon verschaffen möchten, um zu entscheiden, ob sie sich tiefergehend damit befassen möchten.

Zuerst wird auf die Entstehung der Gestalttherapie eingegangen und die Gestalttherapie theoretisch eingeordnet, so werden beispielsweise ihre Wurzeln im Bereich der Psychoanalyse, der Phänomenologie, des Holismus oder des Existenzialismus beschrieben. Auch auf die persönliche Geschichte und Entwicklung der Gründerfiguren wird kurz eingegangen. Den Kern des Buches macht aber die Beantwortung der Frage: „Was ist Gestalttherapie?“ aus. Dazu gibt es eine kurze Erläuterung der Grundbegriffe und Kernkonzepte der Gestalttherapie wie Figur-/Hintergrund-Konzept, Gestalt oder Hier-und-Jetzt-Prinzip. Ein kompakter Einblick in die gestalttherapeutische Diagnostik und Therapie sowie ein Vergleich mit anderen Verfahren ist ebenfalls Teil des Buches.

Dann folgt eine Beschreibung der Kernelemente und Techniken der Gestalttherapie, jeweils mit lebendigen Praxisbeispielen erklärt - Methoden wie die Arbeit mit Polaritäten, paradoxe Interventionen, Wiederholung und Verstärkung oder Stuhl-Dialoge werden beschrieben.

Am Schluss finden sich noch Ausführungen zur wissenschaftlichen Evidenz und eine Erklärung, warum dieser Nachweis aufgrund der Natur der gestalttherapeutischen Methoden besonders schwierig zu erbringen ist.

Angenehm lesbar macht das Buch, dass es in kurze Abschnitte geteilt ist, die immer wieder durch Praxisbeispiele, Dialoge, Exkurse und Zitate aufgelockert werden - die LeserInnen können also viel lernen, werden dabei aber gleichzeitig auch gut unterhalten. Man bekommt einen ersten Einblick darin, worum es bei der Gestalttherapie geht und kann auf dieser Basis besser entscheiden, ob man sich noch tiefer damit auseinandersetzen möchte.

Damit sind wir bei den Grenzen des Buches angelangt: für praktizierende GestalttherapeutInnen enthält es möglicherweise nicht viel Neues und aufgrund des einführenden Formats und der Kürze werden viele Themen nur kurz angerissen, aber nicht vertieft. Als Erinnerungsstütze und Nachschlagewerk für Grundkonzepte kann das Buch aufgrund seiner guten Struktur aber durchaus auch PraktikerInnen empfohlen werden, um sich gelernte Methoden (z.B. zu Leere - Arbeiten mit dem Nichts, Phantasie- und Gewahrseinsübungen, Traumarbeit,…) wieder in Erinnerung zu rufen.

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Veröffentlicht am 08.12.2024

Trostloses, aber wichtiges Buch, über Suizidalität & Queerness

Das Tal der Blumen
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Von Anfang an ist klar, dass es sich beim "Tal der Blumen" von Niviaq Korneliussen um ein hartes, trostloses Buch zu einem sehr traurigen Thema handelt. Das Tal der Blumen ist ein Friedhof in Ostgrönland, ...

Von Anfang an ist klar, dass es sich beim "Tal der Blumen" von Niviaq Korneliussen um ein hartes, trostloses Buch zu einem sehr traurigen Thema handelt. Das Tal der Blumen ist ein Friedhof in Ostgrönland, und viele, die dort liegen, haben sich das Leben genommen. Und dort liegen Blumen - im Winter viele davon aus Plastik - die von den trauernden Angehörigen dort hinterlassen werden. Denn Grönland ist das Land, das statistisch mit Abstand die höchste Suizidrate auf der Welt hat, und die meisten Menschen, die sich dort das Leben nehmen, sind jung.

Schon im Prolog finden wir folgendes Zitat, das die Essenz des Buches sehr gut ausdrückt: "Der Rabe wachte über mich, bis das Tageslicht kam. Dann flog er davon und ließ mich allein mit den Toten zurück. Er wusste nicht, dass er mich vor dem Licht beschützen sollte, nicht vor der Dunkelheit."

Im Winter wird es in Grönland kaum hell, die Sonne schafft es an den dunkelsten Tagen nur ganz kurz über den Horizont und geht gleich wieder unter. Dafür wird es im Sommer kaum dunkel. So trostlos die Winter dort auch sein mögen, die meisten Suizide geschehen, wenn es wieder viel heller ist, wie wir im Buch erfahren. Und das mangelnde Licht alleine kann auch nicht die Ursache für die hohe Suizidrate sein, denn diese ist erst in den letzten Jahrzehnten dort so in die Höhe geschnellt.

Das Buch ist in drei Teile geteilt: "Sie", "Du" und "Ich".

Im ersten Teil - "Sie" - geht es überwiegend um die junge Erzählerin und ihre beginnende lesbische Beziehung mit Maliina. Wir lernen die junge Frau kennen, freuen uns mit ihr über die beginnende Liebe und die Szenen wachsender Vertrautheit und Zuneigung zwischen den beiden jungen Frauen. Die Erzählerin bricht nach dem Sommer nach Aarhus in Dänemark auf, um dort ein Studium zu beginnen - übers Internet kann sie aber mit Maliina in Kontakt bleiben und in den Ferien heimkommen. Es gibt Hoffnung, dass die beiden ihre Beziehung bewahren können und Freude auf den neuen Lebensabschnitt.

Doch in Dänemark kommt die junge Frau nicht so wirklich an, das Studium fällt ihr schwer, auf die Prüfungsinhalte kann sie sich keinen Reim machen und auch sozial fühlt sie sich einsam und nicht zugehörig, spürt deutlich die kulturellen Unterschiede zu ihren dänischen Studienkollegen und fühlt sich auch aufgrund ihres grönländischen Aussehens und der damit verbundenen leider immer wieder vorkommenden Ausgrenzungserfahrungen und Vorurteile unzugehörig.

Schon in diesem ersten Teil wird außerdem jedes Unterkapitel - egal, worum es darum geht - durch die Nennung eines Suizides in Grönland überschattet, z.B. "42. Mann, 23 Jahre. Erhängen.", "41. Mann, 56 Jahre. Schuwsswaffe. Todesursache: Im Hafen ertrunken.", "39. Frau, 25 Jahre. Erhängte sich in der Wohnung eines Freundes."

Im zweiten Teil - "Du" - kehrt die Erzählerin, die in Dänemark nach ein paar Monaten noch immer nicht so richtig Anschluss gefunden hat und in ihrem Studium erfolglos ist, spontan verfrüht für die Weihnachtspause nach Grönland zurück und reist dort an den Heimatort ihrer Freundin Maliina, um diese psychisch zu unterstützen, nachdem deren 15-jährige Cousine sich das Leben genommen hat. Maliina und ihre Partnerin gehen auch ins Krankenhaus, in dem die Cousine nach ihren Suizidversuchen behandelt wurde, und versuchen, Antworten zu finden darauf, warum es passiert ist und welche Hilfe ihr angeboten wurde (so gut wie keine).

Die Unterkapitelüberschriften sind immer noch Suizidfälle - das zieht sich durch das ganze Buch - und auch die Handlung wird zunehmend düsterer.

Im dritten Teil - "Ich" - bricht schließlich immer mehr im Leben der Ich-Erzählerin weg - Studium, Beziehung, Identität, Zukunft, Geld, psychische Stabilität - und Stück für Stück verliert sie den Halt. Mit einem Happy End sollte man in diesem Buch auch nicht rechnen.

Es ist ein sehr gut geschriebenes, spannendes und wichtiges Buch, das ich atemlos in weniger als einem Tag ausgelesen habe. Ein Buch, das für eine wichtige Thematik sensibilisiert: die bestehende extrem hohe Suizidrate in Grönland und die kaum bestehenden Hilfen, die das System dort bietet.

Immer wieder versuchen im Buch Angehörige sowie depressive junge Menschen selbst, Hilfe zu bekommen, aber es gibt viel zu wenig davon: es gibt nur ganz wenige therapeutische Angebote, diese sind, wenn überhaupt, aufgrund der dünnen Besiedelung und der großen Distanzen in Grönland, nur online verfügbar, richten sich oft nur an ganz spezifische, sehr eng definierte Zielgruppen, und man wartet monatelang darauf.

Viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich am Ende das Leben genommen haben, hatten davor mehrere Suizidversuche unternommen und trotzdem keine Hilfe erhalten, selbst wenn sie darum gebeten haben. Auch die Erzählerin selbst bittet am Ende mehrmals erfolglos darum, in die Psychiatrie aufgenommen zu werden.

Es ist sehr, sehr deprimierend, das alles zu lesen und den zunehmenden psychischen Verfall der Ich-Erzählerin mitzubekommen. Authentisch beschreibt sie speziell im dritten Teil des Buches, wie es sich zeigen kann, wenn jemand immer weiter Richtung Suizidalität abrutscht.

Als zweites großes Thema neben der Suizidalität zieht sich das Thema Homosexualität bzw. Queerness bzw. Transgender/Crossdressing durch das Buch. Wer sich für das Buch entscheidet, sollte mit vielen sehr explizit beschriebenen lesbischen Sexszenen kein Problem haben, denn davon kommen ebenfalls viele vor, speziell in der ersten Hälfte des Buches.

Gleichzeitig wird auch dafür sensibilisiert, dass junge Menschen, die in irgendeiner Weise anders sind, so wie hier queere Jugendliche, noch einmal ein höheres Risiko für Suizidalität in Grönland haben, weil sie noch weniger in die zum Teil sehr traditionelle und konservative Gesellschaft passen (auch wenn die Familie der Ich-Erzählerin selbst recht offen und aufgeschlossen ist und auch ihre Freundin warmherzig in der Familie begrüßt, bekommen wir doch mit, wie es in anderen Teilen der Gesellschaft zu Mobbing und Ausgrenzung queerer Jugendlicher kommt).

Ich kann gut verstehen, warum dieses Buch - als erstes Buch einer grönländischen Autorin - den Nordischen Literaturpreis gewonnen hat: es ist sprachlich sehr gut geschrieben, spannend und sensibilisiert für sehr wichtige Themen.

Ich empfehle es allen, die für diese Thematiken offen sind und - wichtig! - momentan die nötige psychische Stabilität für so ein Buch aufweisen. Trotz auch so einiger schöner zwischenmenschlicher Momente und Begegnungen und der poetischen Sprache ist es doch in seiner Grundstimmung und Entwicklung ein sehr düsteres Buch, das bestehende Suizidalität triggern kann. Wer also selbst zu Depressionen oder suizidalen Gedanken neigt, halte sich von diesem Buch lieber fern.

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Veröffentlicht am 05.12.2024

Packen wir es an - für eine bessere Welt

Moralische Ambition
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Wie der Autor selbst schreibt, möchte er es uns mit seinem Buch "nicht leichter, sondern schwerer machen. Es ist ein Buch, das Ihnen keinen Trost spendet, sondern Unbehagen bereitet." Und doch ist es ein ...

Wie der Autor selbst schreibt, möchte er es uns mit seinem Buch "nicht leichter, sondern schwerer machen. Es ist ein Buch, das Ihnen keinen Trost spendet, sondern Unbehagen bereitet." Und doch ist es ein hochinteressantes, sehr zugängliches, gut verständliches und spannend geschriebenes Buch, das zum Aktiv-Werden inspiriert, ohne zu sehr mit der Moralkeule daherzukommen.

Von Anfang ist die Leidenschaft des Autors für dieses Thema spürbar. Er kritisiert, wie viele hochintelligente und hochgebildete, privilegierte Menschen ihr Talent und ihre Lebensenergie nicht einsetzen, um die Welt besser zu machen, sondern in Jobs verharren, bei denen sie nichts Positives beitragen oder sogar Schaden anrichten. Dabei richtet er sich ausdrücklich nicht an die Menschen, die schon jetzt wichtige Aufgaben übernommen haben, bei denen sie sich für andere und für eine bessere Welt einsetzen, wie z.B. jene im Gesundheits- oder Bildungswesen. Sorgfältig mit empirischen Daten und wissenschaftlichen Quellen untermauert, zeigt der Autor auf, dass es leider eine Korrelation zwischen dem durchschnittlichen Einkommen in einem Bereich und dem, wie unmoralisch dieser Bereich angesehen wird, gibt: ganz oben in beiden Bereichen sind etwa die Finanz- und Tabakindustrie und die Waffenproduktion.

Über das Buch hinweg werden viele Beispiele einzelner Menschen beschrieben, die ihr Talent und ihre Leidenschaft - oft gemeinsam mit anderen und in Organisationen - dafür eingesetzt haben, die Welt zu einer besseren zu machen. Das Beispiel, das sich am stärksten durch das Buch zieht, ist die Bewegung des Abolitionismus, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, und damit am Ende auch erfolgreich war. Weitere Beispiele sind Menschen, die im 2. Weltkrieg Juden versteckten, die Suffragetten und ihr Kampf für die Rechte der Frau, aber auch Menschen der heutigen Zeit, die sich für den Schutz aller Menschen vor vermeidbaren Krankheiten, z.B. für die Bekämpfung der Malaria, oder auch für Tierschutz einsetzen.

Dabei stellt der Autor auch sehr interessante und manchmal unbequeme Fragen zur heutigen Zeit: so, wie Sklaverei früher mal gesellschaftlich akzeptiert und tief in den Vorstellungen der Menschen verwurzelt war, was sind die Übel der heutigen Zeit, die wir als normal ansehen und für die spätere Generationen uns verurteilen könnten? Werden zukünftige Generationen ähnlich entsetzt über die Massentierhaltung der heutigen Zeit sein, wie wir es sind, wenn wir an Sklaverei denken? Wofür lohnt es sich jetzt zu kämpfen?

Der Klimawandel ist weit fortgeschritten und hätte am besten vor Jahrzehnten schon bekämpft werden sollen... welche Themen sind es heute, die später zur Bedrohung werden könnten und wo wir frühzeitig einschreiten könnten, wenn wir jetzt was tun würden? Wie gehen wir z.B. mit der künstlichen Intelligenz und ihren Chancen und Herausforderungen um?

Wer sich dafür interessiert, sich für eine bessere Welt einzusetzen, findet in diesem Buch viele Rollenmodelle und inspirierende Ideen. Wir erfahren von einer eigenen Akademie für Idealisten. Von Menschen, die unglaubliche Summen Geld für eine gute Sache aufgetrieben haben. Aber auch von den Hindernissen, die einem Einsatz entgegen stehen können, z.B. zu starke Radikalität, die dazu führt, dass man kaum Unterstützer und Verbündete findet. Das Buch macht also auch sehr nachdenklich darüber, in welchen Bereichen wir uns daran hindern, etwas Gutes zu bewirken und auch, in welchen Bereichen wir uns vielleicht selbst anlügen (z.B. die Illusion, dass Bewusstsein alleine so bedeutsam sei, auch wenn ihm keine Handlungen folgen würden).

Am Ende wird auch noch der Bogen hin zu einer gesunden Balance geschlagen und darauf aufmerksam gemacht, dass bei aller Weltbesserungsfreude diese allein kein Selbstzweck sein müsse und es auch gute Argumente dafür geben könne, einfach Freude am Leben zu haben und dieses zu genießen, ohne, wie z.B. Gandhi, zu einem übergroßen Asketen fernab jeglicher weltlichen Genüsse werden zu müssen. Das macht das Buch erfrischend realistisch und lebensnah.

Ich kann das Buch allen, denen die Zukunft unserer Welt am Herzen liegt, nur eindringlich empfehlen.

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Veröffentlicht am 29.11.2024

Mutiger Bericht einer Missbrauchsüberlebenden

Trauriger Tiger
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"Trauriger Tiger" von Neige Sinno hat mir ein bisschen Angst gemacht, seit ich von dem Buch gehört, es mir gekauft und es mit seinem markanten Cover einer fast Ertrinkenden auf dem Schreibtisch vor mir ...

"Trauriger Tiger" von Neige Sinno hat mir ein bisschen Angst gemacht, seit ich von dem Buch gehört, es mir gekauft und es mit seinem markanten Cover einer fast Ertrinkenden auf dem Schreibtisch vor mir liegen hatte. Es ist von der Thematik her ein sehr heftiges Buch: Neige Sinno wurde als Kind jahrelang von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und vergewaltigt, und erzählt in diesem Buch auf eine ihr sehr eigene Art und Weise davon.

Gleich am Anfang werden wir mit einer sehr explizit geschilderten Missbrauchsszene des Stiefvaters an ihr ins Geschehen hinein gestoßen. Dann folgt eine Reflexion Sinnos darüber, wer der Stiefvater als Persönlichkeit war und ist: ein sehr aktiver, extrovertierter, beliebter und charismatischer Mensch, der genau weiß, wie er Menschen für sich einnimmt, beeinflusst und Macht ausübt. Der Menschen so von sich überzeugen konnte und so viele Unterstützer hatte, dass sich selbst nach seinem Geständnis des Kindesmissbrauchs vor Gericht unzählige Entlastungszeugen fanden, die bereit waren, zu seinen Gunsten auszusagen und seinen ach so tollen Charakter zu loben. Wie übermächtig muss dieser Mensch der kleinen Neige erschienen sein!

Und auf der anderen Seite Neige Sinno, damals ein kleines Mädchen, heute schon lange erwachsen, und bis heute schwer traumatisiert und gebrochen. Das spricht sie auch an verschiedenen Stellen an, zum Beispiel, als sie einmal erwähnt, wie nur ein Teil von ihr hier ist und berichten kann. Und es wird fühlbar durch die starke Intellektualisierung, die sich durch das Buch zieht. Neige Sinno ist Literaturwissenschaftlerin und eine hochgebildete und hochintelligente Frau. Wie so viele traumatisierte Menschen, die gleichzeitig über so hohe kognitive Fähigkeiten verfügen, hat sie im Rückzug ins Intellektuelle auch in gewisser Weise ihre Rettung gefunden.

Trotz des so schlimmen Themas ist das Buch über weite Strecken sehr intellektuell und das führt dazu, dass man emotional beim Lesen immer wieder die Verbindung verliert und kaum gefühlsmäßig mitschwingt. Das hat durchaus seine Vorteile für die Lesenden, weil es dadurch die Lektüre wesentlich erträglicher macht, als wenn es anders wäre. Und es stellt die innere Abspaltung, die die Autorin wohl selbst erlebt, eindringlich dar. Gleichzeitig erreicht das Buch dadurch aber die Lesenden weniger auf der emotionalen Ebene - meine anfängliche Angst war in diesem Fall nicht begründet, das Buch ist wesentlich erträglicher zu lesen, als ich befürchtet habe.

Wenn ich überlege, was nachhallt, dann sind das nun auch nach Abschluss der Lektüre eher theoretische Überlegungen zum Thema, die die Autorin darin mit uns teilt: dazu, ob Gefängnisstrafen legitim sind und welchen Zweck diese erfüllen. Inwieweit Verbrechen und Strafausmaß miteinander zusammenhängen und zusammenhängen sollten. Was "Lolita" von Vladimir Nabokov für ein Buch ist (die Autorin liebt dieses, weil sie es mag, dass dadurch ausnahmsweise mal Kindesmissbrauch aus Sicht des Täters dargestellt wurde, was in der Literatur selten ist, und es ihr erleichtert hat, die Gedanken ihres Vergewaltigers nachvollziehen zu können) und ob es zu Recht so oft gelesen und rezipiert wird oder nicht auch problematisch sein kann. Welche Typologien von Vergewaltigern und Kindesmissbrauchern es geben könnte. Und so einiges mehr.

Geschrieben ist das Buch in einer "stream-of-consciousness"-Weise, es geht mal um dieses, mal um jenes, und ist nicht unbedingt sehr logisch und stringent gegliedert. Wir folgen der Autorin dabei, wie sie sich verschiedenen Aspekten ihrer Erfahrung überwiegend intellektuell annähert und dabei verschiedene Quellen miteinbezieht: aus der Literatur, aus Zeitungsartikeln über den Prozess (sie hat schlussendlich als junge erwachsene Frau den Stiefvater angezeigt, er hat vor Gericht gestanden und wurde zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er aber mittlerweile längst verbüßt hat), darüber, warum Menschen überhaupt Verbrechen begehen ("weil sie es können", meint die Autorin und zitiert dabei jemanden, der über Kriegsverbrechen geforscht hat) usw.

Eine Psychotherapie hat die Autorin nie gemacht, diese lehnt sie - vielleicht auch aufgrund von schlechten Erfahrungen mit Psychologen, die ihren Stiefvater mehr oder weniger freigesprochen haben - für sich ab. Ihre Auseinandersetzung ist und bleibt mehr eine intellektuelle, als eine emotionale. Das ist sehr gut nachvollziehbar, denn bei so einer tiefen, wiederkehrenden Traumatisierung diese alleine und ohne therapeutische Unterstützung auch emotional und nicht nur intellektuell aufzuarbeiten, das ist fast unmöglich. Es ist auch das gute Recht der Autorin, überwiegend auf der intellektuellen Ebene zu bleiben, vermutlich hat ihr diese ihr Überleben ermöglicht - oder zumindest das Überleben des Teils ihrer Persönlichkeit, der sich in dem Buch an uns Lesende wendet.

Es ist kein bequemes Buch für Lesende und richtet sich in seiner Art und Strukturierung auch nicht unbedingt vorrangig an uns. Eher ist es als persönliches intellektuelles Bewältigungstagebuch mit Quellen zu verstehen, an dem uns die Autorin teilhaben lässt, ohne sich in ihrem Schreibstil allzu sehr an uns und unsere Bedürfnisse beim Lesen und Verstehen anzupassen.

Immer wieder ist das Buch sperrig und nicht alles, was die Autorin erwähnt, erklärt sie auch schlüssig. Es ist und bleibt ihre sehr persönliche und eigene Sichtweise auf das Thema. Unklar ist mir auch bis heute der Titel und was in diesem Kontext "Trauriger Tiger" bedeutet. Die Autorin erwähnt ein Gedicht, in dem der Tiger und dessen Beutetier vorkommen und dass wohl beide vom gleichen Schöpfer erschaffen wurden, aus der gleichen Quelle stammen. Sie setzt also offensichtlich den Tiger mit dem Vergewaltiger gleich. Dann ist mir aber nicht klar, warum dieser Tiger traurig sein soll? Traurig, aber vor allem sehr wütend, kommt mir eher das Opfer, die Autorin vor... sieht sie sich dann auch als Tiger? Der Vergewaltiger wird hingegen eindringlich charakterisiert und scheint in Summe alles Mögliche zu sein - eingebildet, charismatisch, selbstbewusst, großkotzig - und in der Lage, nach 9 Jahren Gefängnis eine neue junge Frau zu finden und mit dieser weitere vier Kinder zu kriegen - aber traurig wirkt er nicht.

Vielleicht besteht aber gerade auch in der Sperrigkeit des Buches und in dem, was uns die Autorin nicht genauer erklärt und wo sie sich beim Schreiben des Buches nicht an potentielle Lesende anpasst, ein Akt der Rebellion gegen die Vergewaltigungen und ein großer Befreiungsschlag: nun, wo sie erwachsen ist und sich wehren und für sich einstehen kann, braucht die Autorin niemandem gegenüber mehr gefällig sein, auch nicht den Lesenden ihres Buches.

Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben. Es ist ein eindringliches, besonderes Buch, das auf seine Weise sicher lange nachwirken wird.

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Veröffentlicht am 28.11.2024

Nur für Profiköche & Spezialisten

Flavorama
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Das Buch "Flavorama" wurde von der promovierten Geschmackswissenschaftlerin Arielle Johnson geschrieben. Das ist vorab sehr wichtig zu wissen, um eine erste Idee vom Anspruch dieses Buches bekommen zu ...

Das Buch "Flavorama" wurde von der promovierten Geschmackswissenschaftlerin Arielle Johnson geschrieben. Das ist vorab sehr wichtig zu wissen, um eine erste Idee vom Anspruch dieses Buches bekommen zu können.

Das Buch geht richtig, richtig in die Tiefe. Wer nur hin und wieder gerne kocht und sich hauptsächlich ein nettes Kochbuch erwartet, vielleicht noch mit ansprechenden Bildern, und dazu ein bisschen Hintergrundwissen zum Thema Geschmack, der wird mit diesem Buch keine große Freude haben.

Denn das Buch enthält richtig viel theorielastigen Text zum Thema Geschmack. Man kann darin sehr viel lernen, auch über die chemischen Hintergründe des Geschmacks, z.B. dazu, welche Moleküle dazu führen, dass etwas scharf schmeckt oder welche Säuren Elemente des fruchtigen Geschmacks ergeben können.

Wer also wirklich tiefgründig etwas über Geschmack lernen möchte und dabei auch vor viel Theorie nicht zurückschreckt, für den könnte dieses Buch etwas sein. Auch für Hobbyköche mit sehr hohem Anspruch oder Profiköche ist dieses Buch sehr interessant, weil es unglaublich viel Hintergrundwissen zu Geschmäckern vermittelt, von dem auch die eigene Kochkunst profitieren kann.

Dennoch ist es definitiv kein Kochbuch, sondern ein theoretisches Fachbuch über Geschmack. Zwar enthält es gelegentlich auch ein paar Rezepte, doch diese muss man erst einmal finden: es gibt keine Bilder dazu und sie heben sich grafisch auch kaum vom Rest des Fließtextes ab. Und dann sind es oft eher Rezepte, um die vermittelten Geschmacksprinzipien zu verdeutlichen, also solche, die eher einem didaktischen als einem kulinarischen Zweck dienen, und auch auf eher chemische Art und Weise beschrieben werden. Man braucht auch oft ziemlich spezielle Zutaten dafür z.B. Panela-Zucker.

Insgesamt ist es ein gutes und hochwertiges Buch, das aber nur für eine sehr spezielle Zielgruppe empfehlenswert ist. Ich empfehle allen, die sich dafür interessieren, sich vor der Kaufentscheidung genau zu informieren, worum es sich hier handelt.

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