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Veröffentlicht am 28.11.2024

Führt uns die KI in die absolute Banalität?

Täuschend echt
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Führt uns die KI in die absolute Banalität?

Charles Lewinsky ist bekannt dafür, sich in seinen Büchern auf humorvolle, spritzige Art und Weise mit ganz unterschiedlichen Themen auseinanderzusetzen. In ...

Führt uns die KI in die absolute Banalität?

Charles Lewinsky ist bekannt dafür, sich in seinen Büchern auf humorvolle, spritzige Art und Weise mit ganz unterschiedlichen Themen auseinanderzusetzen. In seinem neuesten Buch "Täuschend echt" geht es um das aktuelle Thema der künstlichen Intelligenz und die Frage, was passiert, wenn wir diese bei unserer Arbeit und für unsere Entscheidungen einsetzen, z.B. um einen Roman zu schreiben.

Der Ich-Erzähler ist ein im Leben gescheiterter und sich selbst ständig bemitleidender, zynisch gewordener Mensch, der von seiner Ex-Freundin Sonja belogen, ausgenutzt und bestohlen wurde - sie hat nach ihrem Auszug auch seine Kreditkarte mitgenommen, um damit auf Bali zu feiern - sich nun widerwillig um die von derselben zurückgelassene Schlange kümmert und daneben als mäßig erfolgreicher Werbetexter arbeitet, bis er auch diesen Job verliert, weil er von seinem Chef bei Privataktivitäten in der Arbeitszeit ertappt wird. Dieser namenlose Ich-Erzähler, sein Scheitern und insbesondere seine Rachefantasien gegenüber Sonja bilden den ersten Themenstrang dieses Romans.

Der zweite Themenstrang besteht aus der fiktiven Geschichte in der Geschichte, aus dem Roman, den der Ich-Erzähler mit Hilfe der KI schreibt. In diesem geht es extrem klischeehaft um die junge Schabnam aus Afghanistan, die unter einem Vorwand dorthin zurückgelockt wird und extremes Leid erdulden muss, bis hin zur Entstellung durch ein Säureattentat. Von einem reichen Menschen, der sich mit seiner Wohltätigkeit profilieren möchte, dazu beauftragt, einen rein auf Tatsachen beruhenden Roman über benachteiligte Menschen und deren Schicksale zu verfassen, erfindet der Ich-Erzähler mit Hilfe der KI die klischeehafte Schabnam-Geschichte. Nur blöd, dass diese ein Bestseller wird und der Druck, die echte Schabnam präsentieren zu können, immer größer wird.

Das Buch ist über viele Strecken eine leichte, humorvolle Unterhaltung für Zeiten, in denen man nicht den Kopf und die Nerven für anspruchsvollere Lektüre hat. Immer wieder scheint der Witz durch, den Lewinsky durchaus hat. Anfangs war es für mich auch spannend, mitzuverfolgen, was für eine Art von Roman mit Hilfe der künstlichen Intelligenz entsteht. Die Schabnam-Geschichte beruht nämlich auf echten Vorschlägen dieser. Leider erfahren wir aber nicht, welche Prompts Lewinsky bzw. der Ich-Erzähler dafür eingegeben hat.

Mit zunehmendem Fortschreiten der sehr klischeehaften Schabnam-Geschichte wurde es für mich beim Lesen aber immer langweiliger. Ich hatte das Gefühl, das Erkenntnispotential über KI, das ich aus diesem Roman gewinnen konnte, schon ausgeschöpft zu haben, und spätestens in der Hälfte des Buches ein Gefühl für deren Vorteile und Grenzen gewonnen zu haben.

Auch der Erzählstrang des namenlosen, sich vom Leben benachteiligt fühlenden Mannes entwickelt sich zunehmend klischeehaft und vorhersehbar, wie ein billiger Krimi, und endet schließlich auch als solcher. Das mag eventuell vom Autor so gewollt und ein spezieller Kniff sein und es bleibt zu rätseln, ob nicht auch bei diesem Themenstrang ungenannt die KI mit am Werk war?

Jedenfalls gleichen sich beide Themenstränge in ihrer Klischeehaftigkeit und Banalität immer mehr an. Zum Lesen macht es das nicht unbedingt spannend, gibt aber Stoff zum Nachdenken darüber, in welcher Welt wir leben wollen und was für Bücher entstehen könnten, wenn die KI, so wie sie momentan funktioniert, bei deren Erstellung eine immer größere Rolle spielen würde, und wie dadurch Durchschnittlichkeit, Banalität und Klischees immer wieder reproduziert werden.

So gesehen ist es ein gutes Buch, das zum Nachdenken anregt, sich aber nicht sonderlich interessant liest und auch nach meiner Beurteilung sein mögliches Potential nicht voll ausschöpft. Gerne hätte ich z.B. zur Vervollständigung auch die Prompts gelesen und noch mehr darüber erfahren, ob und wie es auch möglich wäre, mit der KI jenseits dieser Banalität zusammenzuarbeiten - so habe ich nur die eine Seite kennen gelernt: das, was die KI ausgibt, aber kann nicht klar darauf schließen, inwiefern das damit zusammenhängt, womit sie gefüttert wurde.

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Veröffentlicht am 25.11.2024

Ein Hoch auf die Freundschaft!

Dynasty of Hunters, Band 1: Von dir verraten (Atemberaubende, actionreiche New-Adult-Romantasy)
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"Dynasty of Hunters" ist für mich ein ganz besonderes Fantasy-Buch, das noch lange nachhallen wird. Gerade habe ich es atemlos beendet und werde mir direkt den zweiten Band, der nächstes Jahr erscheinen ...

"Dynasty of Hunters" ist für mich ein ganz besonderes Fantasy-Buch, das noch lange nachhallen wird. Gerade habe ich es atemlos beendet und werde mir direkt den zweiten Band, der nächstes Jahr erscheinen wird, vorbestellen.

Was liebe ich an diesem Buch so? Zuerst einmal die wunderschöne Aufmachung mit dem Farbschnitt und dem aufwändig und ansprechend gestalteten Cover, die es ein Vergnügen macht, das Buch anzusehen oder in der Hand zu haben. Aber das schönste Cover alleine wäre nichts ohne eine tolle Geschichte... und auch hier überzeugt "Dynasty of Hunters" auf allen Ebenen.

Nach der Beschreibung war ich mir nicht sicher, ob es nicht eine kitschige Liebesgeschichte sein würde, so wie es unter den als "Romantasy" gelabelten Büchern so einige gibt. Das ist nicht meines, ich bin deutlich mehr Fantasy- und Dystopie- als Romance-Fan. Umso glücklicher war ich, als ich feststellen konnte, dass es in diesem Buch so viel mehr um Freundschaft, Loyalität, Zusammenhalt und Gesellschaftskritik geht als um eine Romanze.

Worum geht es?

Laelia de Bleu wächst behütet als einzige Tochter der Hauptadelsfamilie der de Bleus auf, mit liebenden, umsorgenden Eltern und zwar ohne Geschwister, aber mit einer Cousine, Astoria, die ihr nah steht wie eine Schwester ("ma soeur"). Als Adelige und Thronerbin erhält sie ein umfangreiches Training, insbesondere in den für die sogenannte "Jagd" nötigen Fähigkeiten. Es gibt nämlich ein Initiationsritual, dem sich alle adeligen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren unterziehen müssen, um in die adelige Gesellschaft aufgenommen zu werden: sie werden zehn Tage auf einer einsamen Insel ausgesetzt, gemeinsam mit bürgerlichen Jugendlichen. Jedem adeligen Jugendlichen ist ein bürgerlicher Jugendlicher zugeteilt, den er jagen und "zeichnen" soll. Zeichnen bedeutet, sich den anderen als lebenslanger persönlicher Diener untertan zu machen, unter Einsatz der magischen Kräfte der adeligen Jugendlichen, die sie über ihre Hände in einen anderen leiten können.

Je nach Farbe des Adelshauses unterscheidet sich, über welche Bereiche anderer Menschen man verfügen kann: die de Bleus (blau) kontrollieren den Körper, die de Rouges (rot) die Emotionen, die d'Ors (gold) den Geist, die de Verts (grün) die Erinnerungen, die de Blancs (weiß) Leben und Tod des Unterworfenen. Und dann gab es früher auch noch die nun ausgelöschten de Noirs, die die Fähigkeiten hatten, die Kräfte aller anderen Häuser zu kontrollieren und deren Zeichnungen zu verändern oder zu löschen. Diese hatten als einzige Mitgefühl mit den bürgerlichen Jugendlichen gezeigt und sich für die Abschaffung der Jagdspiele eingesetzt - für diesen Frevel (in den Augen der anderen Adelshäuser) wurden sie ausgelöscht und ihre Ländereien unter den anderen Häusern aufgeteilt.

Laelia ist schon seit einigen Jahren in einer Liebesbeziehung mit Laurent de Vert, nach den erfolgreichen Jagdspielen möchten sie heiraten. Doch dann geschieht das Unvorstellbare: bei der Ziehung wird Laelia nicht wie allen anderen adeligen Jugendlichen das Los einer Jägerin, sondern das einer Gejagten zugeteilt - und Laurent ist ihr Jäger.

So weit die bekannte Geschichte, die sich schon aus Einführung und Klappentext erschließt. Und jetzt hätte das eben eine schnulzige, dramatische Liebesgeschichte werden können... wird es aber nicht! Den Großteil des Buches macht die Zeit auf der Insel aus und - ohne inhaltlich zu viel vorab zu verraten - ich habe es einfach großartig gefunden, wie die kluge und sensible Laelia sehr schnell beginnt, diese Spiele zu hinterfragen, nun, da sie selbst in der Position der Gejagten ist. Wie wir mitbekommen, wie sie mehr und mehr kritisch zu denken beginnt und erkennt, Teil von was für einem unterdrückerischen Regime sie eigentlich ist/war. Wie sie sich den gejagten Jugendlichen annähert und sich mit diesen anfreundet.

Richtig großartig habe ich all die Freundschaften und die Verbundenheit und Loyalität unter den gejagten Jugendlichen gefunden - es ist wunderschön zu sehen, wie diese unter extremen Bedingungen zusammenhalten, füreinander einstehen und sich sogar füreinander opfern. Hier ist das Buch trotz der düsteren Hintergrundkulisse deutlich angenehmer zu lesen als z.B. "Die Tribute von Panem", das in einem ähnlichen, aber noch wesentlich unbarmherzigeren Setting spielt, in dem kaum wirklicher Zusammenhalt möglich ist, weil alle gegeneinander kämpfen. In "Dynasty of Hunters" hingegen sind Bündnisse möglich, sehr leicht auf jeden Fall unter den Jägern und den Gejagten, aber es gibt auch Überraschungen.

Ich mag es auch, wenn mich ein Buch - auch wenn es eine Romantasy-Dystopie wie diese ist - nicht nur unterhält, sondern auch zum kritischen Nachdenken anregt, über die im Buch beschriebene Gesellschaft und mögliche Parallelen zu real existierenden Gesellschaften. Sehr authentisch ist zum Beispiel dargestellt, wie die jagenden Jugendlichen von Vornherein einmal das Szenario kaum wirklich hinterfragen, nur die Gejagten tun das - wie es so oft auch real zu beobachten ist: die ganz oben, die über Privilegien verfügen und diese oft auch zum Schaden anderer einsetzen, sind sich dessen oft gar nicht bewusst, und das Mitgefühl mit Ausgebeuteten und Unterlegenen ist erst einmal meist gering. Außerdem wird gezeigt, wie sich die unterschiedliche Sozialisierung auch in der Körperhaltung und im Auftreten zeigt: Laelia hat selbst in der Rolle der Gejagten ein viel selbstbewussteres Auftreten und auch dadurch bessere Chancen als die bürgerlichen Jugendlichen, die sozialisiert wurden, sich zu unterwerfen, den Blick zu neigen und Opfer zu sein. Wobei auch das nicht von allen angenommen wird, es gibt auch eine Widerstandsbewegung...

Das Buch ist also auf vielen Ebenen nicht nur unglaublich spannend und unterhaltsam, sondern regt auch zum Nachdenken an. Fantasy-Dystopie vom Feinsten - klare 5 Sterne von mir und eine Leseempfehlung für alle, die für dieses Genre offen sind! Ich habe in diesem Genre schon länger nicht mehr so etwas Gutes und Berührendes gelesen!

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Veröffentlicht am 20.11.2024

Hat mich nicht so richtig gepackt

We hunt the Flame
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Von einem guten Fantasy-Buch erwarte ich mir Spannung, glaubhafte Charaktere und ein tolles World-Building. Und dass es mich emotional so richtig involviert und ich in eine neue Welt entführt werde, die ...

Von einem guten Fantasy-Buch erwarte ich mir Spannung, glaubhafte Charaktere und ein tolles World-Building. Und dass es mich emotional so richtig involviert und ich in eine neue Welt entführt werde, die so spannend ist, dass ich so kaum mehr verlassen will, mit Charakteren, die mir ans Herz wachsen und mit denen ich mitfiebere. Ich kenne Bücher, die mich von Anfang an gepackt und nicht mehr losgelassen haben. So etwas habe ich mir hier auch erhofft, nur leider hat mich das Buch in dieser Hinsicht enttäuscht.

Das Buch wird abwechselnd aus der Perspektive von Zafira und Nasir erzählt. Mit keinem davon kann ich mich emotional wirklich verbinden. Was trägt dazu bei? Die sehr komplexe Fantasywelt, in der ich mich noch nicht so ganz zurecht finde. Vor allem aber sehr oft eingebaute, vermutlich arabische Fremdwörter, die sich mir nur erschließen, wenn ich sie hinten im Glossar nachschlage. Immerhin gibt es dieses Glossar. Um sich ein Bild zu machen: die Anzahl der dort nachzuschlagenden Fremdwörter sind knapp 90, dazu kommen 16 Personennamen (immerhin deutlich weniger) und 11 Ortsnamen. Gefühlt war ich beim Lesen aber deutlich zu häufig mit Nachschlagen beschäftigt und das hat mich aus dem Lesefluss rausgerissen.

Die Charaktere werden für mich auch nicht wirklich fühlbar und ich empfinde sie als eher eindimensional. Sie werden zwar in Beziehung zu anderen Menschen gezeigt, aber ebenfalls auf eine Weise, die mich nicht wirklich mitfühlen lässt. Die Handlung schreitet nur sehr langsam voran und hat mich insbesondere in der ersten Hälfte des Buches oft gelangweilt.

Insgesamt hat mich das Buch emotional nicht erreicht und damit war es für mich nicht wirklich spannend zu lesen, weil mir die Charaktere eher gleichgültig blieben. Gleichzeitig kommt einiges an Grausamkeiten in dem Buch vor, was auch nicht so meines war.

Ich werde die Fortsetzung nicht lesen.

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Veröffentlicht am 19.11.2024

Nur für die, die sich auf etwas ganz anderes einlassen wollen

Ours. Die Stadt
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Gesamteindruck:

Vorab: ich würde diesem Buch am liebsten gar keine Sternewertung geben, denn es ist für mich jenseits einer solchen logisch-linearen Bewertung. Die vier Sterne, für die ich mich letztendlich ...

Gesamteindruck:

Vorab: ich würde diesem Buch am liebsten gar keine Sternewertung geben, denn es ist für mich jenseits einer solchen logisch-linearen Bewertung. Die vier Sterne, für die ich mich letztendlich entschieden habe, kommen aus meinem Gefühl: ich habe sehr davon profitiert, dieses Buch gelesen zu haben und werde weiterhin davon profitieren. Jedoch ist es ein sperriges, an vielen Stellen unzugängliches und schwierig zu lesendes Buch. Es ist völlig anders als alles, was ich bisher gelesen habe, und ich, die ich im Durchschnitt drei Bücher pro Woche lese, habe mich an diesem Buch drei Wochen lang abgearbeitet und für die rund 700 Seiten so lang gebraucht, als wären es 2000 gewesen. Es war auch nicht unbedingt durchgängig ein Lesevergnügen, sondern eine große Herausforderung, dranzubleiben.

Warum habe ich das Buch also überhaupt gelesen und warum habe ich es zu Ende gelesen?

Weil eines meiner wichtigsten Ziele im Leben die persönliche Entwicklung und Erweiterung meines Horizonts ist. Und was diese Kriterien angeht, ist dieses Buch absolut großartig! Es hat mich herausgefordert und aus meiner Lesekomfortzone geschleudert wie schon lange keines mehr. Und ich habe beim Lesen immer wieder gespürt - ja, es ist ein gutes Buch, ein sehr gutes sogar - ein Buch, in das unglaublich viel Wissen, Verständnis und Komplexität geflossen ist, ein Buch mit treffenden und ungewöhnlichen Metaphern, die ich so noch nie gelesen habe, aber zum Nachdenken anregen, und ein Buch jenseits bekannter literarischer Konventionen, das sich völlig dem entzieht, was wir uns als Lesende anspruchsvoller Literatur normalerweise von einem Buch erwarten.

Gerade weil dieses Buch so anders ist, hat es mir wieder ins Bewusstsein gerufen, wofür ich sonst eine lange, teure Reise ins außereuropäisch geprägte Ausland bräuchte: unsere Werte und unsere Art, zu denken, zu planen, zu strukturieren und die Dinge zu betrachten, sind nicht absolut zu sehen, sondern sehr stark kulturell geprägt. Die westlich geprägte Literatur wurzelt in den Säulen, die die westliche Kultur in den letzten Jahrtausenden geprägt haben: auf den Werten der christlich-jüdischen Religionen, auf den philosophischen Vorstellungen der Antike, auf dem rational-wissenschaftlichen Denken der Aufklärung usw. Das ist aber nicht das einzige, was es gibt - so sind andere Kulturräume durch völlig andere Faktoren geprägt worden, das ist mir auch schon bei näherer Auseinandersetzung etwa mit asiatischen Kulturen bewusst geworden.

Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: wer sich ein logisch-aufgebautes, stringentes Buch mit bekannten, verständlichen Metaphern und einer Beziehungsgestaltung und einem Glaubenssystem, wie wir sie aus unserem westlichen Alltag kennen, erwartet, der wird mit "Ours" nicht glücklich werden. Das Buch ist völlig, völlig anders.

Worum geht es (Achtung, hier handelt es sich um meine höchstpersönliche Interpretation... das Buch ist dermaßen vielschichtig und symbolisch, dass vieles unklar bleibt und jede/r was anderes hineininterpretiert):

Um eine mystische Geschichte befreiter ehemals versklavter Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die in den USA des 19. Jahrhunderts spielt. Diese Geschichte wird aber nicht so erzählt, wie wir westlich sozialisierten Menschen sie vielleicht erzählen oder uns vorstellen würden.

Der Autor ist selbst Teil der afroamerikanischen Community und hat sich für die Arbeit an diesem Buch tief in die afrikanische Mythologie eingearbeitet. Kern dieser Mythologie - so wie sie uns im Buch begegnet - ist der Glaube an Energien und Zauberei (ein bisschen ähnlich manchem, was sich in der im Westen verbreiteten Esoterik so findet, aber wesentlich ausgeprägter und ohne den geringsten Zweifel daran). Man kann mit Zauberei etwas oder sich selbst unsichtbar machen, andere heilen oder krank machen, etwas schützen, eine Handlung in ihrer Wirkung umkehren, andere verfluchen und vieles mehr.

Ich verstehe es so: dieser Glaube ist etwas, was die versklavten Menschen selbst oder vermittelt durch Verwandte und Bekannte als Erbe aus ihrer afrikanischen Heimat mitgebracht und über die Versklavung hinweg bewahrt haben. Es ist etwas Ursprüngliches, das ihnen geblieben ist, aber das gleichzeitig ebenso wie die Menschen selbst durch die grausame Unterdrückung beschädigt wurde und nur in dieser beschädigten Form und zutiefst traumatisiert weiter praktiziert werden kann, selbst, als die Freiheit wieder erlangt wurde.

Die alterslose Saint wandert also durch die USA des 19. Jahrhunderts und befreit auf magischem Wege und dabei meist auch durch Ermordung der sogenannten Herren und Herrinnen einige afroamerikanische Menschen aus der Versklavung. Sie nimmt sie mit nach "Ours", eine neu gegründete Stadt und ein Schutzraum für die Menschen. Ours wird durch Saints Zauber von mehreren magischen Schutzsteinen geschützt und dadurch für Eindringlinge unsichtbar. Auf ihrer Mission ist Saint nicht zimperlich, es kommen dabei immer wieder Menschen, geplant wie ungeplant, ums Leben, sowohl Weiße als auch Afroamerikaner.

Wir erleben die Gründung von Ours durch Saint mit und die Jahre und Jahrzehnte danach. Dabei gibt es immer wieder Zeitsprünge in alle Richtungen. Der komplexeste Charakter im Buch, über den wir auch am meisten erfahren, ist definitiv Saint selbst. Sie ist trotz ihrer grundsätzlich guten Absichten bei der Gründen der Stadt bei weitem keine Heilige, sondern trägt ihre eigenen charakterlichen Herausforderungen wie Eifersucht und Rachsucht sowie ein hohes Ausmaß an Traumatisierung mit sich. Auch wird deutlich, dass sie zwar ein magisches Naturtalent zu sein scheint, aber von niemandem wirklich gut und ethisch fundiert in die Möglichkeiten und Grenzen der Magie eingewiesen wurde - niemand hat diese Eltern- oder Mentorenfunktion für sie längerfristig erfüllt - was diverse unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringt, wenn ein Schutz nicht wie gewünscht wirkt oder ein aus Zorn gewirkter Rachezauber noch deutlich ärger ausfällt als von ihr geplant.

Neben Saint lernen wir noch diverse weitere afroamerikanische Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt kennen, die verschiedensten Alters sind. Manche sind nach ihrer Befreiung mit Saint dort hingezogen, manche wurden schon dort geboren und wuchsen dort auf. Allen gemeinsam ist das Erbe der eigenen und/oder transgenerationalen Traumatisierung, das überall spürbar ist und sich durch alle menschlichen Beziehungen gibt. Es ist ein düsteres Buch, in dem es sehr wenig echte Liebe und menschliche Verbundenheit gibt, dafür viel Wut, Eifersucht, Trauer, Rache und gegenseitige Missverständnisse. Gerade das macht es aber durchaus authentisch, denn schließlich handelt es sich um lauter Überlebende schwerster Traumatisierung, die zudem von ihrer ursprünglichen Heimat und Kultur entwurzelt wurden.

Das Buch ist ein wahres Epos, es nimmt sich ausführlich Zeit, diverse Nebenhandlungen und Nebenfiguren zu schildern, in Form eines Mosaiks einzelner Szenen, die nicht unbedingt auf den ersten Blick (und auch nicht zwangsläufig auf den zweiten oder dritten) in sich logisch sind oder zusammenpassen. Es lohnt sich, sich dabei Zeit zu nehmen und Notizen zu machen, da das Buch leider über kein Personen- oder Sachverzeichnis zum Nachschlagen verfügt.

Wie gesagt, wer hier Logik und Linearität sucht, der wird nicht glücklich werden mit dem Buch, es mäandert und umkreist das Thema. Gerade darin liegt für mich aber auch trotz all des Unbequemen ein starker emanzipatorischer Anspruch: denn muss sich ein Buch, geschrieben von jemandem aus der afroamerikanischen Tradition, in dem es um die Befreiung aus der Versklavung geht, denn den literarischen Konventionen anpassen, die die Kultur der Unterdrücker bis heute prägen? Muss es nicht, meiner Meinung nach. Es darf auch etwas ganz anderes sein, und das ist dieses Buch.

Es gibt nicht nur das logisch-lineare Denken, das unsere westliche Kultur so stark prägt. Viele andere Kulturen haben ganz andere Formen von Zeitwahrnehmung, ganz andere Beziehungen, eine ganz andere Struktur, einen ganz anderen Glauben, und diese sind nicht schlechter als unsere, nur uns selbst nicht so bekannt und vertraut, und können dadurch auf westlich sozialisierte Lesende unbequem bis verstörend wirken.

Ja, jetzt spüre ich wieder, warum ich dem Buch 4 Sterne gebe. Es ist wirklich ein gutes Buch. Einen Stern Abzug dennoch dafür, dass das Buch diese so fremdartige Welt auf so fremdartige Art und Weise vorstellt und westlichen Lesenden keinerlei Brücken baut, nicht einmal wirklich in Fußnoten, Querverweisen oder im Anhang. Würde es das tun, könnte es sicher noch wesentlich mehr Menschen für sich begeistern und damit tatsächlich kulturvermittelnd wirken. So bleibt es wohl vermutlich eher am Rande und erschließt sich nur denen, die die Muße, Zeit, Geduld - und/oder das Vorwissen (mit einem solchen über afrikanische Geschichte und Mythologie wäre wohl einiges deutlich verständlicher gewesen) - haben, sich tief darauf einzulassen, ohne alles gleich oder auch nur irgendwann zu verstehen.

Emotional und in meinen Gedanken wird mich das Buch noch länger begleiten. Ich habe davon profitiert, aber das braucht ein tiefes Sich-Einlassen, vor allem mit dem Gefühl, denn der Verstand alleine wird von diesem Buch an vielen Stellen verwirrt oder sogar verärgert werden. Es prüfe jeder Interessierte für sich, ob man sich gerade an einem Punkt im Leben befindet, an dem man sich auf so etwas tief einlassen will und kann.

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Veröffentlicht am 18.11.2024

Wichtiges Buch über Cybermobbing

Was wir nicht kommen sahen
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Mit "Was wir nicht kommen sahen" ist Katharina Seck ein wichtiges Buch zu einem sehr relevanten und aktuellen Thema gelungen: Cybermobbing, das solche Ausmaße annehmen kann, dass es Menschen in den Suizid ...

Mit "Was wir nicht kommen sahen" ist Katharina Seck ein wichtiges Buch zu einem sehr relevanten und aktuellen Thema gelungen: Cybermobbing, das solche Ausmaße annehmen kann, dass es Menschen in den Suizid treiben kann. Das Buch ist von wahren Beispielen dafür inspiriert, wie die Autorin im Nachwort auch selbst anführt.

Das Buch ist aus drei Perspektiven geschrieben:

1) Ada, eine 18-jährige Schülerin, die sich auf Twitch einen Namen im Internet gemacht hat. Anfangs, indem sie während ihrer Videospiele live streamt, später - in Reaktion auf das Mobbing - auch als Aktivistin. Leider wird sie zur Zielscheibe einer Gruppe von Hatern, überwiegend aus der Incel-Community, die sich einen Spaß daraus machen, sie immer mehr zu bedrohen und zu bedrängen, nicht nur im Internet, sondern auch tatsächlich mit anonymen Nachrichten in ihrem Postkasten. So lange bis Ada keinen Ausweg mehr sieht und sich das Leben nimmt. Mit ihrem Suizid beginnt das Buch, die weiteren Ada-Kapitel sind dann aber wieder aus der Zeit vor dem Suizid geschrieben und zeigen, wie es so weit kommen konnte.

2) Jenny und Dominik, die Eltern von Ada, die durch den Suizid ihr einziges Kind verloren haben, gar keine Ahnung von Adas Online-Aktivitäten und dem Mobbing hatten und sich im Nachhinein versuchen, ein Bild davon zu machen und zu verstehen, was hier geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Sehr sympathische, bemühte Eltern, die ihre einzige Tochter über alles geliebt haben.

3) Die Anonymität: hier wird aus wechselnden Perspektiven, manche männlich, manche weiblich, von denen erzählt, die auf die eine oder andere Weise zum Cybermobbing beigetragen haben. Entweder, indem sie dieses direkt ausgeübt, andere angefeuert oder eine Nachricht oder ein Video weitergeleitet haben.

Insgesamt ist es damit ein sehr spannendes und aufrüttelndes Buch zum Thema Cybermobbing. Man spürt in jeder Zeile, wie es der Autorin ein echtes Anliegen ist, zu diesem Thema zu sensibilisieren und zum Kampf gegen Cybermobbing zu mobilisieren und dafür eignet es sich auch hervorragend und kann auch als Schullektüre empfohlen werden.

Warum dann keine fünf Sterne, sondern doch nur vier?

Ich habe mich mit dem Thema Suizid sehr tiefgründig beschäftigt, habe selbst Erfahrung als Hinterbliebene nach Suizid und ich habe schon so einige andere Bücher darüber gelesen, denen es gelingt, die damit verbundenen Dynamiken extrem authentisch einzufangen (z.B. "Wohin das Licht entflieht" von Sara Barnard oder "Von dem, der bleibt" von Matteo B. Bianchi). In Bezug auf dieses Thema kommt dieses Buch hier an die anderen Bücher nicht ran. Ich muss aber zugeben, hier sehr hohe Ansprüche an das Buch zu stellen.

Auch wenn die Autorin immer wieder versucht, mit sprachgewaltigen Metaphern das damit verbundene Leid zu schildern... etwas fehlt in dieser Perspektive und fühlt sich für mich als Betroffene nicht authentisch an, und zwar sowohl in der Zuspitzung der Entwicklung hin zu Adas Suizid, die ich in der Figur der Ada nicht wirklich nachfühlen kann, als auch in der Bewältigung des Suizids durch die Eltern, die dann doch überraschend schnell wieder Hoffnung zu schöpfen scheinen und schon nach sechs Wochen wieder deutlich positiver auf die Welt blicken , was sich in keinster Weise mit meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die ein Kind durch Suizid verloren haben, deckt.

Es ist für mich somit kein authentisches Buch, um etwas über Suizidalität oder die Bewältigung des Suizids eines Hinterbliebenen zu lernen, dafür ist es für mich nicht nah und authentisch genug an diesem Thema dran. Die Dynamiken des Cybermobbings finde ich hingegen sehr authentisch dargestellt und zu diesem Thema sensibilisiert und mobilisiert das Buch ausgezeichnet.

Ein bisschen schade habe ich auch gefunden, dass man im Buch sehr klar merkt, dass die Autorin sich selbst ganz eindeutig dem linken politischen Spektrum zuordnet und die Menschen mit konservativen bzw. Mitte-rechts-Einstellungen stark dämonisiert. Auch wenn es zweifellos solche Gestalten, wie sie im Buch vorkommen, genau so in der Realität und im Internet gibt, hätte dies nicht noch damit verstärkt werden müssen, dass auch die Nachbarn - die mit dem Cybermobbing an sich nichts zu tun haben - als Coronamaßnahmengegner und als solche als dumpf und blöd charakterisiert werden.

Ich unterstelle der Autorin ein ziemlich einseitiges Weltbild und keine tiefgehende Beschäftigung mit Menschen ganz anderer politischer Einstellungen, die aber fernab von Radikalisierung sind. Es wirkt so, als ob sie, wie es derzeit leider in einigen Bereichen der Gesellschaft Mode zu sein scheint, alles rechts der Mitte einfach als radikal und dumm abstempeln würde, und die Weltsicht der eigenen sozialen Blase als einzig legitime und gute ansehen würde. Damit nimmt sich das Buch ein bisschen von dem Potential, breitflächig Menschen abzuholen. Insgesamt bleibt es aber dennoch aus den oben genannten Gründen ein gutes und wichtiges Buch.

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