Nur für die, die sich auf etwas ganz anderes einlassen wollen
Gesamteindruck:
Vorab: ich würde diesem Buch am liebsten gar keine Sternewertung geben, denn es ist für mich jenseits einer solchen logisch-linearen Bewertung. Die vier Sterne, für die ich mich letztendlich ...
Gesamteindruck:
Vorab: ich würde diesem Buch am liebsten gar keine Sternewertung geben, denn es ist für mich jenseits einer solchen logisch-linearen Bewertung. Die vier Sterne, für die ich mich letztendlich entschieden habe, kommen aus meinem Gefühl: ich habe sehr davon profitiert, dieses Buch gelesen zu haben und werde weiterhin davon profitieren. Jedoch ist es ein sperriges, an vielen Stellen unzugängliches und schwierig zu lesendes Buch. Es ist völlig anders als alles, was ich bisher gelesen habe, und ich, die ich im Durchschnitt drei Bücher pro Woche lese, habe mich an diesem Buch drei Wochen lang abgearbeitet und für die rund 700 Seiten so lang gebraucht, als wären es 2000 gewesen. Es war auch nicht unbedingt durchgängig ein Lesevergnügen, sondern eine große Herausforderung, dranzubleiben.
Warum habe ich das Buch also überhaupt gelesen und warum habe ich es zu Ende gelesen?
Weil eines meiner wichtigsten Ziele im Leben die persönliche Entwicklung und Erweiterung meines Horizonts ist. Und was diese Kriterien angeht, ist dieses Buch absolut großartig! Es hat mich herausgefordert und aus meiner Lesekomfortzone geschleudert wie schon lange keines mehr. Und ich habe beim Lesen immer wieder gespürt - ja, es ist ein gutes Buch, ein sehr gutes sogar - ein Buch, in das unglaublich viel Wissen, Verständnis und Komplexität geflossen ist, ein Buch mit treffenden und ungewöhnlichen Metaphern, die ich so noch nie gelesen habe, aber zum Nachdenken anregen, und ein Buch jenseits bekannter literarischer Konventionen, das sich völlig dem entzieht, was wir uns als Lesende anspruchsvoller Literatur normalerweise von einem Buch erwarten.
Gerade weil dieses Buch so anders ist, hat es mir wieder ins Bewusstsein gerufen, wofür ich sonst eine lange, teure Reise ins außereuropäisch geprägte Ausland bräuchte: unsere Werte und unsere Art, zu denken, zu planen, zu strukturieren und die Dinge zu betrachten, sind nicht absolut zu sehen, sondern sehr stark kulturell geprägt. Die westlich geprägte Literatur wurzelt in den Säulen, die die westliche Kultur in den letzten Jahrtausenden geprägt haben: auf den Werten der christlich-jüdischen Religionen, auf den philosophischen Vorstellungen der Antike, auf dem rational-wissenschaftlichen Denken der Aufklärung usw. Das ist aber nicht das einzige, was es gibt - so sind andere Kulturräume durch völlig andere Faktoren geprägt worden, das ist mir auch schon bei näherer Auseinandersetzung etwa mit asiatischen Kulturen bewusst geworden.
Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: wer sich ein logisch-aufgebautes, stringentes Buch mit bekannten, verständlichen Metaphern und einer Beziehungsgestaltung und einem Glaubenssystem, wie wir sie aus unserem westlichen Alltag kennen, erwartet, der wird mit "Ours" nicht glücklich werden. Das Buch ist völlig, völlig anders.
Worum geht es (Achtung, hier handelt es sich um meine höchstpersönliche Interpretation... das Buch ist dermaßen vielschichtig und symbolisch, dass vieles unklar bleibt und jede/r was anderes hineininterpretiert):
Um eine mystische Geschichte befreiter ehemals versklavter Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die in den USA des 19. Jahrhunderts spielt. Diese Geschichte wird aber nicht so erzählt, wie wir westlich sozialisierten Menschen sie vielleicht erzählen oder uns vorstellen würden.
Der Autor ist selbst Teil der afroamerikanischen Community und hat sich für die Arbeit an diesem Buch tief in die afrikanische Mythologie eingearbeitet. Kern dieser Mythologie - so wie sie uns im Buch begegnet - ist der Glaube an Energien und Zauberei (ein bisschen ähnlich manchem, was sich in der im Westen verbreiteten Esoterik so findet, aber wesentlich ausgeprägter und ohne den geringsten Zweifel daran). Man kann mit Zauberei etwas oder sich selbst unsichtbar machen, andere heilen oder krank machen, etwas schützen, eine Handlung in ihrer Wirkung umkehren, andere verfluchen und vieles mehr.
Ich verstehe es so: dieser Glaube ist etwas, was die versklavten Menschen selbst oder vermittelt durch Verwandte und Bekannte als Erbe aus ihrer afrikanischen Heimat mitgebracht und über die Versklavung hinweg bewahrt haben. Es ist etwas Ursprüngliches, das ihnen geblieben ist, aber das gleichzeitig ebenso wie die Menschen selbst durch die grausame Unterdrückung beschädigt wurde und nur in dieser beschädigten Form und zutiefst traumatisiert weiter praktiziert werden kann, selbst, als die Freiheit wieder erlangt wurde.
Die alterslose Saint wandert also durch die USA des 19. Jahrhunderts und befreit auf magischem Wege und dabei meist auch durch Ermordung der sogenannten Herren und Herrinnen einige afroamerikanische Menschen aus der Versklavung. Sie nimmt sie mit nach "Ours", eine neu gegründete Stadt und ein Schutzraum für die Menschen. Ours wird durch Saints Zauber von mehreren magischen Schutzsteinen geschützt und dadurch für Eindringlinge unsichtbar. Auf ihrer Mission ist Saint nicht zimperlich, es kommen dabei immer wieder Menschen, geplant wie ungeplant, ums Leben, sowohl Weiße als auch Afroamerikaner.
Wir erleben die Gründung von Ours durch Saint mit und die Jahre und Jahrzehnte danach. Dabei gibt es immer wieder Zeitsprünge in alle Richtungen. Der komplexeste Charakter im Buch, über den wir auch am meisten erfahren, ist definitiv Saint selbst. Sie ist trotz ihrer grundsätzlich guten Absichten bei der Gründen der Stadt bei weitem keine Heilige, sondern trägt ihre eigenen charakterlichen Herausforderungen wie Eifersucht und Rachsucht sowie ein hohes Ausmaß an Traumatisierung mit sich. Auch wird deutlich, dass sie zwar ein magisches Naturtalent zu sein scheint, aber von niemandem wirklich gut und ethisch fundiert in die Möglichkeiten und Grenzen der Magie eingewiesen wurde - niemand hat diese Eltern- oder Mentorenfunktion für sie längerfristig erfüllt - was diverse unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringt, wenn ein Schutz nicht wie gewünscht wirkt oder ein aus Zorn gewirkter Rachezauber noch deutlich ärger ausfällt als von ihr geplant.
Neben Saint lernen wir noch diverse weitere afroamerikanische Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt kennen, die verschiedensten Alters sind. Manche sind nach ihrer Befreiung mit Saint dort hingezogen, manche wurden schon dort geboren und wuchsen dort auf. Allen gemeinsam ist das Erbe der eigenen und/oder transgenerationalen Traumatisierung, das überall spürbar ist und sich durch alle menschlichen Beziehungen gibt. Es ist ein düsteres Buch, in dem es sehr wenig echte Liebe und menschliche Verbundenheit gibt, dafür viel Wut, Eifersucht, Trauer, Rache und gegenseitige Missverständnisse. Gerade das macht es aber durchaus authentisch, denn schließlich handelt es sich um lauter Überlebende schwerster Traumatisierung, die zudem von ihrer ursprünglichen Heimat und Kultur entwurzelt wurden.
Das Buch ist ein wahres Epos, es nimmt sich ausführlich Zeit, diverse Nebenhandlungen und Nebenfiguren zu schildern, in Form eines Mosaiks einzelner Szenen, die nicht unbedingt auf den ersten Blick (und auch nicht zwangsläufig auf den zweiten oder dritten) in sich logisch sind oder zusammenpassen. Es lohnt sich, sich dabei Zeit zu nehmen und Notizen zu machen, da das Buch leider über kein Personen- oder Sachverzeichnis zum Nachschlagen verfügt.
Wie gesagt, wer hier Logik und Linearität sucht, der wird nicht glücklich werden mit dem Buch, es mäandert und umkreist das Thema. Gerade darin liegt für mich aber auch trotz all des Unbequemen ein starker emanzipatorischer Anspruch: denn muss sich ein Buch, geschrieben von jemandem aus der afroamerikanischen Tradition, in dem es um die Befreiung aus der Versklavung geht, denn den literarischen Konventionen anpassen, die die Kultur der Unterdrücker bis heute prägen? Muss es nicht, meiner Meinung nach. Es darf auch etwas ganz anderes sein, und das ist dieses Buch.
Es gibt nicht nur das logisch-lineare Denken, das unsere westliche Kultur so stark prägt. Viele andere Kulturen haben ganz andere Formen von Zeitwahrnehmung, ganz andere Beziehungen, eine ganz andere Struktur, einen ganz anderen Glauben, und diese sind nicht schlechter als unsere, nur uns selbst nicht so bekannt und vertraut, und können dadurch auf westlich sozialisierte Lesende unbequem bis verstörend wirken.
Ja, jetzt spüre ich wieder, warum ich dem Buch 4 Sterne gebe. Es ist wirklich ein gutes Buch. Einen Stern Abzug dennoch dafür, dass das Buch diese so fremdartige Welt auf so fremdartige Art und Weise vorstellt und westlichen Lesenden keinerlei Brücken baut, nicht einmal wirklich in Fußnoten, Querverweisen oder im Anhang. Würde es das tun, könnte es sicher noch wesentlich mehr Menschen für sich begeistern und damit tatsächlich kulturvermittelnd wirken. So bleibt es wohl vermutlich eher am Rande und erschließt sich nur denen, die die Muße, Zeit, Geduld - und/oder das Vorwissen (mit einem solchen über afrikanische Geschichte und Mythologie wäre wohl einiges deutlich verständlicher gewesen) - haben, sich tief darauf einzulassen, ohne alles gleich oder auch nur irgendwann zu verstehen.
Emotional und in meinen Gedanken wird mich das Buch noch länger begleiten. Ich habe davon profitiert, aber das braucht ein tiefes Sich-Einlassen, vor allem mit dem Gefühl, denn der Verstand alleine wird von diesem Buch an vielen Stellen verwirrt oder sogar verärgert werden. Es prüfe jeder Interessierte für sich, ob man sich gerade an einem Punkt im Leben befindet, an dem man sich auf so etwas tief einlassen will und kann.