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Veröffentlicht am 18.10.2024

Selbstmordserie im Waisenhaus

Der Schatten einer offenen Tür
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„Dann geh, und sieh es dir an, dann erfährst auch du auch gleich, wie dein Volk abseits der Hauptstadt lebt.“

Schon in seinen Romanen „Rote Kreuze“ und „Der ehemalige Sohn“ prangert Filipenko russische ...

„Dann geh, und sieh es dir an, dann erfährst auch du auch gleich, wie dein Volk abseits der Hauptstadt lebt.“

Schon in seinen Romanen „Rote Kreuze“ und „Der ehemalige Sohn“ prangert Filipenko russische Zustände an. So auch in diesem Buch, in dem er Ermittler nach einem Schuldigen für eine Selbstmordserie Jugendlicher suchen lässt.

Der scheint schnell in dem Außenseiter Petja gefunden zu sein. Aufgewachsen im Waisenhaus, von diversen Pflegefamilien wieder zurückgegeben, verhält er sich anders als andere. Einst hat er sich gegen eine Reise der Waisenhauskinder nach Griechenland ausgesprochen, die mehreren Selbstmorden vorausgegangen ist. Nun begleiten wir die Ermittler bei ihrer Recherche, warum die Kinder nicht mehr leben wollten.


Dieses Buch ist geschrieben wie ein emotionsloser Bericht und hat mich – vielleicht gerade deswegen - aufgewühlt. Denn was hier alles beleuchtet wird, ist kaum vorstellbar. Der Autor zeigt seine Figuren mit all ihren Eigenschaften und die Reaktion der Umwelt darauf. Wer nicht so ist wie gewünscht, wird schief angeschaut und verurteilt. Der Aufbau des Romans hat mich besonders angesprochen: Hier werden keine Erklärungen gegeben, sondern anhand von Momentaufnahmen nur Geschehenes berichtet, untermalt mit diversen Aufsätzen und Zeitungsberichten.


Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren, ist laut PEN Berlin einer der herausragenden belarussischen Autoren und einer der profiliertesten Kritiker des Lukaschenko-Regimes. Er studierte an der Europäischen Humanistischen Universität in Minsk und nach deren Schließung 2004 an der Universität Sankt Petersburg Literatur. Nach dem Master arbeitete er für die unabhängigen Sender Dozhd und RTVi. Er beteiligte sich an den Protesten 2020 und lebt seitdem mit seiner Familie im Schweizer Exil. Hier engagiert er sich für Meinungsfreiheit, was dazu führte, dass sein Vater mit den Worten »Danke deinem Sohn« von belarussischen Polizisten im November 2023 festgenommen wurde.


Fazit: diese zeitgenössische Literatur über russische Zustände ist ausgesprochen lesenswert!

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Veröffentlicht am 17.10.2024

Mitten aus dem Leben

Wohnverwandtschaften
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Die Zahnärztin Constanze hat sich von ihrem Lebensgefährten getrennt und zieht nun in ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft ein. Sie ist kein Gemeinschaftsmensch, weshalb sie das als vorübergehende ...

Die Zahnärztin Constanze hat sich von ihrem Lebensgefährten getrennt und zieht nun in ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft ein. Sie ist kein Gemeinschaftsmensch, weshalb sie das als vorübergehende Notlösung ansieht. Doch es dauert nicht lange, dass sie sich bei ihren Mitbewohnern zu Hause fühlt. Der Wohnungsinhaber Jörg, Murat, der gerne kocht und die arbeitslose Schauspielerin Anke werden zu ihrer Familie; einer Familie. wie man sie sich besser nicht wünschen kann. Das Dumme ist allerdings, dass Jörg nach einer Blinddarmoperation dement wird…

Die am 5.Juli 1968 in Köln geborene deutsche Literaturübersetzerin und Schriftstellerin Isabel Bogdan hat einen Roman geschrieben, der etwas aus der Reihe fällt. Sie lässt die Leser abwechselnd in die Köpfe ihrer Figuren schauen, so dass ein gutes Bild der Innenansichten entsteht. Das Äußere bleibt lange unwichtig, kommt erst spät zur Geltung. Kapitel mit Momentaufnahmen der Interaktion untereinander wirken wie kurze Theaterstücke. So bekommt man einen guten Einblick in diese Wohngemeinschaft, in die Verantwortung, die jeder einzelne übernimmt.

Ich habe das Buch sehr gern gelesen, hat es mich doch schmunzeln, lachen und nachdenken lassen und sogar dazu gebracht, ein paar Tränchen zu verdrücken. Gleichzeitig ist der Autorin der Blick in ein vergessendes Hirn gelungen, sowie die Sorgen und den Zusammenhalt der Mitbewohner zu verdeutlichen.

Fazit: Ein tolles Leseerlebnis

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Veröffentlicht am 11.10.2024

Zwischen Lebensfreude und Todessehnsucht

Honey
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Honey ist 82 und will ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Zu viel hat sie im Laufe ihres Lebens schon durchgemacht. Der letzte Tiefschlag war der Tod ihres Freundes, dessen Heiratsantrag sie ...

Honey ist 82 und will ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Zu viel hat sie im Laufe ihres Lebens schon durchgemacht. Der letzte Tiefschlag war der Tod ihres Freundes, dessen Heiratsantrag sie nicht mehr annehmen konnte, weil sein Tod ihre Zusage verhinderte.
In diesem Buch darf ich die dekadente Frau durch ihre Erinnerungen an ein ausgefülltes Leben begleiten. Die sind so liebevoll beschrieben, dass sie schnell mein Herz erobert – egal, ob sie über gewesene oder derzeitige Liebesbeziehungen nachdenkt oder alltägliche Begegnungen. Natürlich gab es auch dunkle Seiten in ihrem Leben. Ihr erstes und einziges Kind durfte sie nicht aufwachsen sehen, ihre Familie hatte und hat zu rigorose Vorstellungen, wie alles zu laufen habe.
Nun geht es darum, ihre Besitztümer an die Erben zu verteilen und das ist keine leichte Aufgabe:

„Honey war in einem Spiegelkabinett aufgewachsen, das ihrem Gedächtnis Streiche spielte.“

„Vom Selbstmord zum Rumpfbeugen. Vom existenziellen schwarzen Schleier zum blassrosa Gymnastikanzug. Aber sie war nicht immer so gewesen – kapriziös, überspannt, eitel bis ins Mark.“

In der Familie galt sie als >Persona non grata<, weshalb sie sich eher auf andere Kontakte konzentriert. Zum Beispiel einen jungen Maler und ihre Nachbarin; die sie abwechselnd mag und ablehnt. Der will sie ihr Mantra nahebringen:
„Man muss stark sein, um zu leben, und noch viel stärker, um zu sterben.“


Der 1968 geborene, amerikanische Dramatiker Victor Lodato hat nach eigener Aussage lange gebraucht, um diese Geschichte zu Papier zu bringen. Er hat das Buch in sechs Teile geteilt und viele unterschiedliche Aspekte des Lebens aufgegriffen. Der zu Beginn noch recht humorvolle Stil ändert sich leider im Laufe des Buches. Zumindest mir ging ab dem vierten Teil die anfängliche Freude verloren. Die Räubergeschichte hat meine Begeisterung für dieses Buch zerstört. Und die folgenden Kapitel erzählen für meinen Geschmack zu viel. Doch das muss jeder selbst erkunden.

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Veröffentlicht am 03.10.2024

Über die Liebe

Die schönste Version
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Dieses Buch zu lesen schmerzt. Es hat in meinem Kopf viele Fragen entstehen lassen. Wieso gieren Jugendliche so sehr nach Liebe, dass vor allem Mädchen alles mit sich machen lassen? Warum bringt ihnen ...

Dieses Buch zu lesen schmerzt. Es hat in meinem Kopf viele Fragen entstehen lassen. Wieso gieren Jugendliche so sehr nach Liebe, dass vor allem Mädchen alles mit sich machen lassen? Warum bringt ihnen niemand rechtzeitig bei, sich gegen tätliche Übergriffe zu schützen?

Doch von vorn: Jella glaubt in Yannick den Menschen gefunden zu haben, mit dem echte Liebe möglich ist. Bis er sie während eines Streites würgt. Da flieht sie zurück ins Elternhaus.
In den nächsten Tagen lässt sie ihre Vergangenheit Revue passieren. Sie denkt zurück an ihre Jugend, an ihre Freundin, mit der sie sich extra schön hergerichtet hat, um Jungs zu gefallen. Und an ihre ersten Erfahrungen, die mir vor Entsetzen die Atemluft raubten.
Yella ist nicht dumm, sie studiert und verdient sich in einer Bibliothek ihren Unterhalt. Als Yannick in ihr Leben tritt, fühlt sie sich geliebt. Ihr Leben verändert sich, sie ziehen zusammen. Er, der erfolglose Künstler, Sohn reicher Eltern, engt sie aber auch ein. Gesteht ihr weniger Freiraum zu. Immer öfter kommt es zu Auseinandersetzungen, die mit eine Versöhnung enden. Bis alles eskaliert und sie in ein Trauma reißt.

Es ist nicht das erste Buch, das ich in letzter Zeit über toxische Beziehungen las. Das scheint augenblicklich eines der Modethemen zu sein. Wahrscheinlich reichen Zeitungsmeldungen über Familiendramen nicht aus, um die Gesellschaft aufzurütteln. Können Bücher mehr bewirken? Erreichen sie die richtigen Adressaten? Können sie Mädchen einen Spiegel vorhalten und sie dazu auffordern, nicht alles mit sich machen zu lassen? Wie kann man Jugendlichen näherbringen, wie wichtig Respekt für ein gelingendes Leben ist?

Fazit: Dieses Buch lässt mich aufgewühlt zurück.

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Veröffentlicht am 21.09.2024

Familiengeschichte aus Indien

Der Gott der kleinen Dinge
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Nachdem mir vor Jahren >Das Ministerium des äußersten Glücks< von Arundhati Roy sehr gut gefallen hatte, wollte ich unbedingt ihr Debüt lesen, das ebenfalls von vielen Lesern für gut befunden wurde. Doch ...

Nachdem mir vor Jahren >Das Ministerium des äußersten Glücks< von Arundhati Roy sehr gut gefallen hatte, wollte ich unbedingt ihr Debüt lesen, das ebenfalls von vielen Lesern für gut befunden wurde. Doch die Autorin hat es mir nicht leicht gemacht. Zu viele Zeitsprünge, Ausschmückungen und dadurch entstandene Längen erschwerten mir das Lesen. Die Struktur der gesamten Textes erinnerte mich an ein in sich verschlungenes Paisley-Muster.

Lange war mir nicht klar, worum es in der Geschichte geht, die um 1970 im ländlichen Indien spielt. Esthappen und Rahel sind zweieiige Zwillinge einer geschiedenen Mutter. Sie leben im Haus der Großmutter, ebenso wie ihr ebenfalls geschiedener Onkel Chacko. Sie bekommen Besuch von dessen, zum zweiten Mal verheirateten, englischen Exfrau und seiner Tochter Sophie Mol. Die ist mit ihren acht Jahren gerade mal ein wenig älter als ihr Cousin und die Cousine. Nachdem ein schrecklicher Unfall passiert ist, wird Esta zu seinem Vater geschickt („zurückgegeben“). Nun müssen die bisher unzertrennlichen Zwillinge die nächsten 23 Jahre ohne einander auskommen. Dieses Buch erzählt die gesamte Familiengeschichte; ehe zum Schluss klar wird, wie das Unglück zustande kam.

Auffallend ist die Lust der Autorin am Fabulieren:

„Nachdem die Stille erst einmal da war, blieb sie und breitete sich in Esta aus. Sie wucherte aus seinem Kopf heraus und nahm ihn in ihre morastigen Arme. Sie sandte ihre unsichtbaren mit Saugnäpfen versehenen Tentakeln in seinem Gehirn aus, wo sie die Kuppen und Täler seines Gedächtnisses absaugten, als Sätze entfernten, sie von seiner Zungenspitze fegte.“ (Seite 21)

Um die Fremdheit in Indien zu begreifen, sind zwar Erklärungen zum Verständnis von Land und Leuten unumgänglich, forderten mich als Leserin aber gewaltig heraus. Zu leicht verlor ich zwischendurch den Faden, weil die Autorin vom Hundertsten ins Tausendste kam. Die Personen blieben mir sehr lange merkwürdig fremd, so manches konnte ich nicht nachvollziehen.

Doch es gab auch Abschnitte, die mich fesselten und am Aufgeben hinderten. Ich lasse mich von meiner Lektüre gerne in fremde Länder mitnehmen und gerade Indien zeigte mir mit seinem Kastendenken, Aberglauben und seinen verschiedenen Göttern eine Welt, die mich fasziniert. Auch der immer wieder aufblitzende Humor der Autorin gefiel mir. Doch endgültig für sich eingenommen hat mich das ergreifende Ende des Buches. Das hat bewiesen, dass sich das Durchhalten gelohnt hat. Es trieb mir vor Entsetzen und Wut Tränen in die Augen.

Fazit: ein Buch für geduldige Leser, die an Längen nicht scheitern.

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