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Veröffentlicht am 16.11.2021

Verpasste Chance

Das Haus in der Half Moon Street
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Historische Kriminalromane gibt es wie Sand am Meer. Und auch die Verortung von Zeit und Raum, heißt das Viktorianische Zeitalter und London, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Sie sind mal mehr, mal weniger ...

Historische Kriminalromane gibt es wie Sand am Meer. Und auch die Verortung von Zeit und Raum, heißt das Viktorianische Zeitalter und London, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Sie sind mal mehr, mal weniger gelungen, was meist darin begründet ist, ob es dem/der Autor*in gelingt, die gesellschaftliche Realität sowie den etablierten strengen Moralkodex dieser Zeit zu transportieren. Oft beschränkt sich dies auf wabernde Nebel, die sich im Schein der Gaslaternen vom Themse-Ufer aus ausbreiten und über das Kopfsteinpflaster der Elendsviertel legen.

Glücklicherweise verzichtet Alex Reeve in seinem Erstling „Das Haus in der Half Moon Street“ auf die Nebelschleier, verharrt aber dennoch weitestgehend in den gängigen Narrativen dieses Genres. Die Quartiere sind trostlos, die Lebensbedingungen im Bauch der Metropole von ständigen Existenznöten geprägt, speziell für die Frauen, die oft keinen anderen Ausweg als die Prostitution sehen, um zu überleben. Oder auch nicht, denn viele verrecken elendig auf dem Küchentisch einer Engelmacherin.

Doch es gibt etwas Neues, nämlich die Hauptfigur, Leo Stanhope. Geboren als Charlotte, Tochter eines Landpfarrers, früh wissend, dass sein Geschlecht nicht seiner Identität entspricht, hat er sich auf den Weg in die Metropole gemacht und arbeitet nun als Assistent in der Londoner Gerichtsmedizin, immer bemüht, sein Geheimnis zu bewahren. Einzige Vertraute ist Maria, eine junge Frau, die als Prostituierte arbeitet und in die er verliebt ist. Als sie tot aufgefunden wird, scheint er zunächst der einzige Verdächtige zu sein, was schließlich mit seiner Verhaftung endet. Doch hinter den Kulissen werden die Fäden gezogen, Leo kommt frei und setzt alles daran, den wahren Mörder seiner großen Liebe in einer Welt voller Lügen zu finden, ohne das Geheimnis seiner Identität zu verraten.

Aus diesen Gegebenheiten hätte man einen interessanten Kriminalroman entwickeln können. Hätte…hat man aber nicht. Die Story bleibt über weite Strecken diffus, angefüllt mich Nebensächlichkeiten, die Charakterzeichnungen überzeugen allesamt nicht. Der Zwiespalt, in dem sich Leo befindet, wird lediglich an körperlichen Merkmalen festgemacht, und zwar so, als ob dies alles wäre, was Transgender-Personen beschäftigt. Das hätte man durchaus differenzierter darstellen können und sollen. Man spürt zwar die Unsicherheit des Protagonisten, aber dessen ständiges Zaudern, sein Klagen zieht die Handlung über Gebühr in die Länge, ohne für einen Fortschritt zu sorgen, und zwar in jeder Hinsicht, insbesondere was die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur angeht. Aber vielleicht tut sich in dieser Richtung ja etwas in dem Nachfolgeband „Der Mord in der Rose Street“, der im Mai 2022 erscheinen wird.

Veröffentlicht am 14.11.2021

Eine dunkle Epoche der russischen Geschichte

Der kalte Glanz der Newa
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„Der kalte Glanz der Newa“ ist der Auftakt einer geplanten Trilogie (der zweite Band ist im Original für 2022 angekündigt). Hinter dem Pseudonym Ben Creed verbirgt sich das britische Autorenduo Chris Rickaby ...

„Der kalte Glanz der Newa“ ist der Auftakt einer geplanten Trilogie (der zweite Band ist im Original für 2022 angekündigt). Hinter dem Pseudonym Ben Creed verbirgt sich das britische Autorenduo Chris Rickaby und Barney Thompson, letzterer einstmals Student am Konservatorium St. Petersburg, mit Sicherheit für die stimmigen Beschreibungen hinsichtlich des musischen Aspekts verantwortlich. Aber dieser Thriller hat wesentlich mehr zu bieten. Neben einem fesselnden Plot zeichnet er sich vor allem durch dessen Verankerung in dem historischen Kontext aus, der ein Gefühl der nachprüfbaren Authentizität vermittelt. Dabei nie trocken und belehrend, dennoch aber informativ die besondere Atmosphäre dieser dunklen Epoche der russischen Geschichte transportierend.

Leningrad im Winter 1951. Noch sind die Wunden des Zweiten Weltkrieges nicht verheilt. Nicht nur die Temperaturen sind eisig, auch durch die Gesellschaft weht ein rauer Wind. Die stalinistischen Säuberungen haben Wunden geschlagen und Misstrauen gesät. Die Macht des Staates ist allgegenwärtig. Willkür greift um sich, jeder kann verhaftet werden, in einem Gulag enden. Ein falscher Schritt, ein unbedachtes Wort, das Leben ein Balanceakt auf dem Drahtseil.

Als auf einem Bahngleis fünf sorgfältig arrangierte Leichen gefunden werden, betraut man Revol Rossel mit dem Fall. Einst war er ein begabter Violinist, jetzt dient er nach einem brutalen Verhör mit der Geheimpolizei, in dessen Verlauf seine Finger verstümmelt wurden, bei der Miliz. Das aber nur dank seiner Verdienste während des Krieges und der Belagerung. Eine Entscheidung, die er auch wegen des spurlosen Verschwindens seiner Schwester getroffen hat, auf deren Rückkehr, ob lebendig oder tot, er noch immer hofft.

Die Leichen sind verstümmelt, alle Identifikationsmerkmale entfernt. Die Untersuchungen ergeben, dass sie brutal gefoltert wurden, bevor sie einen qualvollen Hungertod gestorben sind. Eine der Leichen trägt die Uniform der Geheimpolizei, weshalb Rossel fest damit rechnet, dass diese den Fall übernehmen wird. In der Zwischenzeit ermittelt er äußerst vorsichtig und muss zu seinem Entsetzen feststellen, dass er die Opfer kennt, stehen sie doch alle mit dem Musikkonservatorium, an dem auch er studiert hat, in Verbindung. Je tiefer er in den Fall einsteigt, desto gefährlicher wird es für ihn, denn die Spuren führen auch in den Kreml…

Veröffentlicht am 13.11.2021

Ein Schiff, 200 Frauen und ein Mord

Niemandsmeer
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Im 19. Jahrhundert ist es im Britischen Empire gängige Praxis, einen Teil der verurteilten Straftäterinnen ans Ende der Welt zu deportieren. Die Schwere des Vergehens ist dafür nicht ausschlaggebend, manchmal ...

Im 19. Jahrhundert ist es im Britischen Empire gängige Praxis, einen Teil der verurteilten Straftäterinnen ans Ende der Welt zu deportieren. Die Schwere des Vergehens ist dafür nicht ausschlaggebend, manchmal reicht dafür schon ein Bagatelldelikt. Möglichst weit weg ist die Devise. Was eignet sich dafür besser als Tasmanien, die zu Australien gehörende Insel 240 km südlich des Festlands, bis 1855 Van Diemen’s Land genannt. 73.000 Straftäterinnen werden dorthin deportiert, bevorzugtes Ziel ist dabei Port Arthur, zwischen 1830 und 1877 das größte Gefängnis des Empire außerhalb des Mutterlandes.

Der Hintergrund von Hope Adams‘ „Niemandsmeer“ ist historisch verbürgt, ebenso das Ergebnis der Handarbeit während des dreimonatigen Aufenthalts auf See, bekannt als der Rajah-Quilt, der noch heute in der National Gallery of Australia ausgestellt ist. Fiktiv hingegen sind die Ereignisse an Bord sowie die geschilderten tragischen Schicksale der Frauen, die in Rückblicken erzählt werden. Adams erzählt deren Geschichten unaufgeregt, aber sehr empathisch. Unterschiedliche Leben am Rand einer Gesellschaft, die kein Erbarmen kennt. Perspektivlose Leben, die sich im Kern gleichen, ausnahmslos geprägt von Erniedrigung und Armut. Ein historischer Roman, der ein Thema der britischen Historie aufgreift, das nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Wir schreiben das Jahr 1841. Im April sticht ein Schiff von England aus mit Ziel Van Diemen’s Land in See, an Bord fast 200 Frauen (sowie einige wenige Kinder), allesamt wegen kleiner Vergehen verurteilt. Zusammengepfercht auf engstem Raum muss die lange Passage bewältigt werden. Mit an Bord ist die idealistische Kezia Hayter, die die Aufsicht über die Frauen hat. Ein von ihr initiiertes Projekt, das Nähen eines Quilts, soll deren Gemeinschaftsgefühl stärken. Doch dann wird eine ihrer Schutzbefohlenen erstochen, und es gilt, den Mörder/die Mörderin zu entlarven. Keine leichte Aufgabe für Kezia, den Kapitän und den Geistlichen, denn schließlich könnte es jeder/jede sein. Aber auch eine andere Passagierin fürchtet um ihr Leben, hat sie sich doch unter falscher Identität der Gruppe angeschlossen, um dem Galgen zu entgehen…

Veröffentlicht am 11.11.2021

Schottisch schwarz

Bobby March forever
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Der schottische Autor Alan Parks hat seine im Januar 1973 startende Harry McCoy Reihe analog der Monate auf zwölf Bände angelegt. Die beiden ersten Monate sind bereits abgearbeitet (Blutiger Januar, Tod ...

Der schottische Autor Alan Parks hat seine im Januar 1973 startende Harry McCoy Reihe analog der Monate auf zwölf Bände angelegt. Die beiden ersten Monate sind bereits abgearbeitet (Blutiger Januar, Tod im Februar), weiter geht es mit März und „Bobby March Forever“.

Eine Bemerkung für all jene, die noch nichts von Parks gelesen haben. Er hat jahrelang im Musikbusiness gearbeitet, lässt immer wieder Infos zu Musikern, Bands und Veranstaltungen einfließen und vermittelt so auch einen guten Überblick über Zeitgeist und Szene der damaligen Zeit (wobei Bobby March ein fiktiver Charakter ist).

Sommer 1973: Bobby March wird tot im Hotelzimmer aufgefunden. Überdosis. Ein begnadeter Gitarrist, der bei den Stones einsteigen hätte können, von dem sogar Keith Richards nach seinem Vorspielen begeistert war. Jetzt aber nur ein neuer Zugang im Club 27. Harry McCoy soll die Todesumstände aufklären, sollte sich aber gleichzeitig um zwei verschwundene Mädchen kümmern, eines davon die Nichte seines Ex-Chefs und Mentors Murray. Aber sein neuer Boss DI Raeburn hat andere Pläne für ihn, will ihn von den Ermittlungen ausschließen und dafür mit Routineermittlungen zu einer Serie von Raubüberfällen zuschütten. Das Verhältnis der beiden ist von einer tiefen Abneigung geprägt. Raeburn weiß, dass McCoy der bessere Polizist ist, und McCoy verabscheut diesen unangenehmen, gewalttätigen, bis ins Mark korrupten und von Ehrgeiz zerfressenen Vorgesetzten. Also macht’s Harry wie immer, lässt Raeburn Raeburn sein, vertraut auf seinen Instinkt und ermittelt gemeinsam mit Wattie auf eigene Faust. Und dann muss er sich auch noch um Stevie Cooper, seinen Freund aus Kindertagen, kümmern, der in Glasgows Unterwelt die Fäden zieht, dick im Drogengeschäft vertreten ist und selbst an der Nadel hängt.

Hört sich nach einem überladenen Plot an? Ist es aber zu keinem Zeitpunkt, da Parks bis zum Ende sämtliche Fäden souverän in der Hand hält und die Schnittstellen logisch aufbaut. Er zeigt uns die düsteren Seiten der schottischen Metropole, nimmt uns mit in die heruntergekommenen Viertel und hat mit Harry McCoy einen Charakter geschaffen, der mit seiner eigenwilligen Arbeitsmoral vor allem Gerechtigkeit für diejenigen sucht, die im Schatten stehen.

Schottisch-schwarze Atmosphäre, Zeitkolorit und Musik der 70er sowie ein sympathischer, loyaler Ermittler, all das verpackt in eine vielschichtige Krimihandlung. Das ist es, was diese Reihe auszeichnet. Lesen!

Veröffentlicht am 10.11.2021

Kritisch, entlarvend, unterhaltsam

Reichtum verpflichtet
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Die de Rignys sind eine einflussreiche bretonische Sippe, die im Lauf der Zeit mit durchaus fragwürdigen Mitteln ein beachtliches Vermögen angehäuft hat. Aber wie so oft profitieren nicht alle Familienmitglieder ...

Die de Rignys sind eine einflussreiche bretonische Sippe, die im Lauf der Zeit mit durchaus fragwürdigen Mitteln ein beachtliches Vermögen angehäuft hat. Aber wie so oft profitieren nicht alle Familienmitglieder gleichermaßen davon. Die einen haben Geld, die anderen nicht. Die einen sind moralisch, die anderen skrupellos.

Mit Blanche hat es das Leben nicht gut gemeint. Seit einem Unfall gehbehindert, fristet sie ihr Berufsleben in einem anspruchslosen Job im Justizministerium, wo sie tagein, tagaus Unterlagen in der Gerichtsreprografie einscannt. Ist zwar nicht das, wofür sie promoviert hat, sichert aber zumindest den Lebensunterhalt und bietet ihr die Gelegenheit, brisante Informationen aus diesen Dokumenten an dubiose Gestalten zu verhökern und so ihr Gehalt aufzubessern. Als sie per Zufall herausfindet, dass sie mit den de Rignys verwandt ist, offenbar aber zu dem verarmten Zweig gehört, erwacht ihr Interesse und sie beginnt mit der Recherche, getrieben von dem Wunsch, an das Familienerbe zu kommen. Nicht für sich, nein, zumindest nicht alles. Sie möchte die Welt besser, gerechter machen, das Geld dafür investieren, begangenes Unrecht an Mensch und Natur auszumerzen. Aber dafür braucht sie einen Plan, muss in der Erbfolge nach oben rücken, und um das zu bewerkstelligen, darf sie nicht zimperlich sein…

„Reichtum verpflichtet“ bewegt sich auf zwei Zeitebenen, vergleicht die gegenwärtige Ungleichheit in der Gesellschaft mit der des Jahres 1870/71, und erzählt die Geschichte von Blanches Ahnen Auguste de Rigny, ein Anhänger der Pariser Commune, der ihr gar nicht so unähnlich ist. Beide Außenseiter, beide willens, zur Veränderung der jeweiligen Gesellschaft beizutragen, in der der Wert des Einzelnen an seinen monetären Mitteln gemessen wird.

Kapitalismus- und gesellschaftskritisch, provokant, hochpolitisch, aber auch bissig, ironisch und entlarvend. Ein Roman über unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit.