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Veröffentlicht am 12.07.2020

Was ist Heimat?

Ich bleibe hier
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Ein eigentümliches Bild, das der Blick auf den Reschensee bietet. Eine spiegelglatte Oberfläche, aus deren Mitte ein Kirchturm ragt. Was ist hier geschehen? Und was hat es mit den Menschen gemacht, denen ...

Ein eigentümliches Bild, das der Blick auf den Reschensee bietet. Eine spiegelglatte Oberfläche, aus deren Mitte ein Kirchturm ragt. Was ist hier geschehen? Und was hat es mit den Menschen gemacht, denen keine andere Wahl blieb, als ihre Heimat zu verlassen?

Diesen Fragen geht der mehrfach ausgezeichnete Autor Marco Balzano in seinem neuen Roman „Ich bleibe hier“ nach, in dem er aus Sicht von Trina, Lehrerin und Bäuerin, die damaligen Ereignisse rekapituliert und den Leser am Beispiel des Städtchens Graun mit der schmerzhaften Geschichte Südtirols vertraut macht. Italienisch oder Deutsch, Mussolini oder Hitler. Eine Region, die vor dem Zweiten Weltkrieg zum Spielball der Mächte wird.

Die Muttersprache ist ein zentrales Thema, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Sie stiftet Identität, dient aber gleichzeitig auch als Kontrollmechanismus der Herrschenden und ist auch dafür verantwortlich, dass nach der Zwangsitalienisierung Südtirols unter Mussolini viele Grauner ein strammes Deutschtum entwickeln und empfänglich für Hitlers „Heim ins Reich-Ruf“ werden. Es sind nicht viel, die bleiben, die weder dem einen noch dem anderen trauen, sondern misstrauisch sowohl gegenüber dem Duce als auch dem Führer sind. Die an ihrer Heimat hängen, sich ihre Skepsis bewahren, diese aber dennoch verlassen müssen. Trotz aller Widerstände lassen die Italiener von dem Staudamm-Projekt nicht ab, siedeln die Übriggebliebenen um, die sie mit lächerlichen Ausgleichszahlungen für den Verlust ihrer Heimat entschädigt haben. Wie es endet, ist bekannt. Das Tal wird 1950 geflutet.

„Ich bleibe hier“ ist eine Geschichte des Untergangs. Sie klagt nicht an, aber rüttelt auf, denn Balzano gibt in diesem dicht erzählten Roman den Vertriebenen eine Stimme. Er taucht in seine Figuren ein, schildert deren Gefühlswelt ohne überflüssige Sentimentalität und beeindruckt mit seiner klaren Sprache gerade deshalb den Leser. Jedenfalls werde ich beim nächsten Urlaub in Südtirol die zweisprachigen Hinweisschilder mit anderen Augen sehen.

Veröffentlicht am 09.07.2020

Unbefriedigende Lektüre

Der Würfelmörder (Ein Fabian-Risk-Krimi 4)
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Eine Information vorweg. Das Buch ist bereits 2019 unter dem Titel „10 Stunden tot“ erschienen. Eine Verkaufsstrategie, die mittlerweile bei vielen Verlagen Usus ist, aber (hoffentlich) den Leser verärgert.

Und ...

Eine Information vorweg. Das Buch ist bereits 2019 unter dem Titel „10 Stunden tot“ erschienen. Eine Verkaufsstrategie, die mittlerweile bei vielen Verlagen Usus ist, aber (hoffentlich) den Leser verärgert.

Und auch nachdem man das Buch zuklappt, entpuppt es sich nicht nur deshalb als Mogelpackung. Warum? Die Gründe dafür sind vielfältig, am schwersten wiegt allerdings meiner Meinung nach, dass der Autor die Erwartungen seiner Leser massiv enttäuscht.

Das Team der alkoholkranken Kripochefin Tuvesson ermittelt in verschiedenen Fällen, wobei Fabian Risk, „Starermittler“ und Namensgeber der Reihe, bis in den Spätsommer beurlaubt ist und ansonsten weitestgehend seine eigene Suppe kocht, heißt einem alten Fall nachgeht, wenn er nicht gerade mit seinem deprimierenden Privatleben beschäftigt ist.

Tuvesson hingegen geht in Reha, obwohl die Hütte brennt. Wenn das bei der schwedischen Polizei üblich ist, wundert es mich nicht, dass Anzeigen dort nicht ernst genommen bzw. bearbeitet werden. So geschehen im Fall „Molly“.

Molly wird gestalkt, jemand dringt während sie schläft in ihr Schlafzimmer ein, fotografiert sie und schneidet ihre Ponyfransen ab. Die Polizei quittiert ihre Befürchtungen mit einem Schulterzucken. Wie die Geschichte endet, kann man sich denken, ist ja ein Thriller. Sie wird ermordet, stirbt einen qualvollen Tod.

Ein Flüchtlingskind verschwindet, und die Bereitschaft der Polizei, der Sache nachzugehen, ist auch eher gering. Lediglich Kriminalinspektorin Irene Lilja beharrt darauf, sich darum zu kümmern, und sie hat recht. Das Kind wird in der Waschküche tot aufgefunden. Ein fremdenfeindlicher Übergriff?

Und dann noch besagter Würfelmörder, der seine Opfer nach dem Zufallsprinzip auswählt. In diesem Fall tappt die Polizei komplett im Dunkeln.

Zwei weitere Punkte sind mir während des Lesens sehr unangenehm aufgefallen: Zum einen habe ich mich an der äußerst vulgären Sprache gestört, an Schimpfwörtern, die Frauen gegenüber inflationär gebraucht wurden. Nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern in SMS oder um dem Ärger über eine Kollegin Ausdruck zu verleihen (Beispiel Kim Z.). Zum anderen gibt mir das Frauenbild, das hier transportiert wird, stark zu denken. Egal, wie gut diese Frauen im Job/Alltag sind, in ihren Partnerschaften lassen sie sich klein halten, stehen nicht für sich ein und lassen es sogar zu, dass sie geschlagen werden – ohne sich zu wehren. Das geht überhaupt nicht.

Aber zurück zum Thema. Verschiedene Fälle, verschiedene Handlungsstränge. Jeder für sich eigentlich interessant. Aber was macht der Autor daraus? Sozusagen nichts. Ein einziger Fall wird zweifelsfrei aufgeklärt, nämlich der von Molly. Die anderen harren der Auflösung, und wenn man diese haben möchte, muss man den Nachfolgeband lesen.

Dieses Konzept mag in Fernsehserien funktionieren, für die der Autor in der Vergangenheit Drehbücher geschrieben hat, bei Thrillern/Krimis ist die Erwartungshaltung der Leser eine andere. Wenn ein Autor annähernd 2.500 Seiten braucht (für die gesamte Reihe), um einen schlüssigen Thriller zu schreiben in dem alle Feuer, die er bis dato gezündet hat, gelöscht werden, sollte er es vielleicht mit einem anderen Genre versuchen. Ein Krimi/Thriller verlangt nach einer Auflösung, mehr ist dazu nicht zu sagen. Punkt.

Veröffentlicht am 08.07.2020

Basics vom Küchenprofi

Hausgemacht & eingekocht
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Konservierungsmittel, Farbstoffe, künstliche Aromen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, und das ist nur die Speerspitze der Inhaltsstoffe, ohne die mittlerweile kaum noch ein Nahrungsmittel aus ...

Konservierungsmittel, Farbstoffe, künstliche Aromen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, und das ist nur die Speerspitze der Inhaltsstoffe, ohne die mittlerweile kaum noch ein Nahrungsmittel aus der Lebensmittelindustrie auskommt. Als Folge davon kämpfen viele Menschen mit Unverträglichkeiten und Allergien. Aber Abhilfe ist mit dem neuen Kochbuch von Alfons Schuhbeck „Hausgemacht & Eingekocht“ in Sicht. Und die Ausrede, dass man keine Zeit zum Kochen hat, greift hier nur bedingt, denn kaum ein Rezept liegt in der Zubereitungszeit bei über 30 Minuten.

In erster Linie werden hier Basics vermittelt, Das beginnt mit einem Crash-Kurs zum Einkochen und detaillierten Informationen zur alternativen Methoden des Haltbarmachens. Es folgen die „Klassiker fürs ganze Jahr“: Soßen und Dressings, aber auch Rezepte für Granola und Ketchup und – meine Favoriten – Gemüsebrühpulver und Salzzitronen. Die nachfolgende Gliederung orientiert sich an den Jahreszeiten, wobei hier von Limonaden, Likören, Kräutern, Rillette, Pickles, Kuchen und Gebäck so ziemlich alles dabei ist, was man sich vorstellen kann. Am informativsten sind meiner Meinung nach die Rezepte für Herbst/Winter, bei denen Schuhbeck auch die Technik des Fermentierens im Detail beschreibt. Hinweise zur Resteverwertung sowie ein Saisonkalender runden den positiven Eindruck dieses auch optisch sehr ansprechenden Kochbuchs ab, das sich gleichermaßen für erfahrene Hobbyköche als auch für blutige Anfänger eignet.

Die benötigten Zutaten sind nicht exotisch sondern überall erhältlich und werden im Idealfall dann verarbeitet, wenn sie Saison haben. Und natürlich sollte man Wert auf regionale Produkte legen, die man im Idealfall direkt beim Erzeuger z.B. im Hofladen einkauft.

Eine Anmerkung habe ich aber noch für das Lektorat: Das Remouladenrezept ist mit „Remoulade ohne Ei“ überschrieben. Und was findet man in der Zutatenliste? Richtig, ein hart gekochtes Ei.

Veröffentlicht am 06.07.2020

Da sage noch einer, die Briten könnten nicht kochen

Greenfeast: Frühling / Sommer
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Dass täglicher Fleischverzehr zum einen der Ökobilanz schadet und zum anderen der Gesundheit auf Dauer nicht zuträglich ist, wissen wir mittlerweile alle und haben (hoffentlich) daraus Konsequenzen gezogen. ...

Dass täglicher Fleischverzehr zum einen der Ökobilanz schadet und zum anderen der Gesundheit auf Dauer nicht zuträglich ist, wissen wir mittlerweile alle und haben (hoffentlich) daraus Konsequenzen gezogen. Salat, Gemüse und Obst gehören täglich auf den Tisch, und zwar nicht nur als dekorative Beilage.

Diesem geänderten Essverhalten trägt der Frühling/Sommer-Band „Greenfeast. Das kleine Buch der grünen Küche“ Rechnung. Der britische Food-Journalist Nigel Slater hat darin über 110 vegetarische Rezepte gesammelt, die für Abwechslung auf dem Teller sorgen, schnell zubereitet sind – ein nicht zu unterschätzender Faktor - und keine Konzessionen hinsichtlich Optik und Geschmack machen. Manche Kombinationen mögen auf den ersten Blick gewagt erscheinen z.B. überbackener Feta mit Honig, aber genau das macht den Reiz für die Geschmacksnerven aus. Und es funktioniert!

Die Zutaten sind, auch wenn sie manchmal auf den ersten Blick exotisch erscheinen, den Jahreszeiten angemessen und überall erhältlich, auch wenn man nicht in der Großstadt lebt. Falls nicht, können sie problemlos ausgetauscht bzw. ersetzt werden. Anstelle von Freekeh habe ich polierten Dinkel genommen, Za'atar habe ich mir selbst gemischt, helle Misopaste durch kräftig gewürzte Gemüsebrühe ersetzt – und es hat funktioniert. Die Rezepte sind unkompliziert, der zeitliche Aufwand überschaubar, ebenso das benötigte Equipment. Vieles lässt sich in einem Topf, einer Pfanne, einer Auflaufform zubereiten, sodass man nach dem Kochen nicht stundenlang die Spuren beseitigen muss.

Ich tue mich schwer damit, Nigel Slaters Publikationen auf den Begriff Kochbuch zu reduzieren. Für mich sind sie in erster Linie Inspiration, da ich üblicherweise kein Rezeptkocher bin, sondern eher nach Anregungen suche und mich hier gerne verleiten lasse, Neues auszuprobieren. Und ich schätze seine klugen Gedanken und die kleinen Essays, die die Rezepte begleiten und den einen oder anderen Denkanstoß geben.

Veröffentlicht am 03.07.2020

Vom Gehen und Bleiben

Aus und davon
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Elisabeth, die „Eli-Oma“, hat Enkel-Dienst. Ihre Tochter gönnt sich eine Verschnaufpause in den Vereinigten Staaten und sie managt derweil den Familienalltag in der Stuttgarter Ostendstraße mit den beiden ...

Elisabeth, die „Eli-Oma“, hat Enkel-Dienst. Ihre Tochter gönnt sich eine Verschnaufpause in den Vereinigten Staaten und sie managt derweil den Familienalltag in der Stuttgarter Ostendstraße mit den beiden Kindern. Raus aus dem vertrauten Habitat in Hedelfingen in eine Umgebung, die ihr äußerst suspekt ist, die so gar nichts mit der gewohnten Aufgeräumtheit zu tun hat, die ihr bisheriges Leben bestimmt hat, sie mit Herausforderungen konfrontiert, denen sie sich anfangs nicht gewachsen fühlt, schlussendlich aber doch bewältigt. Auch – und vor allem – durch den Blick zurück.

„Aus und davon“ ist aber mehr als ein bloßer Familienroman. Hahn richtet ihren Blick entlarvend, aber nie wertend, auf die kleinen und großen Fluchten aus brüchigen Beziehungen, auf das Weggehen und das Dableiben, auf das sich Davonstehlen aus Lebensumständen, die die Freude am Leben im Keim ersticken. Elisabeth hat es schon einmal geschafft, konnte sich aber dennoch nicht völlig von ihrer pietistischen Sozialisation lösen, auch wenn sie glaubte, ihr durch die Heirat mit Hinz entkommen zu sein. Jetzt hat er sie nach seinem Schlaganfall verlassen, ist weg mit einer Reha-Bekanntschaft. Auch ihre Tochter Cornelia braucht wieder Luft zum Atmen, nachdem ihr Mann sie verlassen hat und zurück in seine griechische Heimat gegangen ist. Ob ihr die USA-Reise auf den Spuren ihrer ausgewanderten Großmutter dabei helfen kann?

Drei Ebenen aus Vergangenheit und Gegenwart, die Hahn gekonnt verbindet. Natürlich der Stuttgarter Alltag mit Elisabeth und den beiden Enkeln, Cornelias Erlebnisse während ihrer Reise und dazu dann noch der Rückblick auf die Geschichte der Großmutter. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, bedingen und beeinflussen sich gegenseitig, zeigen Zusammenhänge auf und heilen am Ende. Jeden einzelnen. Zumindest ein bisschen.