Denkmale
Marseille 1940Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30.01.1933 nimmt das Unheil seinen Anfang. Grundrechte werden abgeschafft, Regimekritiker schikaniert, verfolgt, verhaftet. Angst um Leib und Leben ...
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30.01.1933 nimmt das Unheil seinen Anfang. Grundrechte werden abgeschafft, Regimekritiker schikaniert, verfolgt, verhaftet. Angst um Leib und Leben greift um sich. Zahllose Intellektuelle verlassen daraufhin Deutschland, viele von ihnen suchen Zuflucht in Frankreich. Doch was anfangs als sicherer Hafen erscheint, erweist sich spätestens nach dem nationalsozialistischen Einmarsch und der Auflösung der Dritten Französischen Republik durch das Vichy-Regime als Illusion. Die Lage ist für die Emigranten dramatisch, spitzt sich zu, ihre Sicherheit ist in Gefahr. Wenn sie ihr Leben retten wollen, müssen sie auf dem schnellsten Weg das Land verlassen.
Hier setzt Uwe Wittstocks Chronologie „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ an, denn es ist die französische Hafenstadt im Süden, die Anna Seghers, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Heinrich und Golo Mann, und noch viele andere hoffen lässt, dieser ausweglosen Situation zu entkommen. Nicht zuletzt, weil es von dort aus Fluchtrouten Richtung Westen gibt. Zu Fuß über die Pyrenäen, Spanien durchquerend nach Portugal, oder im direkten und besten Fall mit einem Schiff nach Amerika.
Hilfestellung dabei leisten dabei der amerikanische Journalist Varian Fry und das von ihm gegründete „Emergency Rescue Committee“. Fry kümmert sich mit seinen Helfern vor Ort um die Exilanten, besorgt Pässe, Transit- und Aus- und Einreise-Visa, auch wenn das amerikanische Konsulat ihm immer wieder Steine in den Weg legt und die Hilfe verweigert, weil sie panische Angst davor haben, Linksintellektuelle ins Land zu lassen.
Nicht alle konnten gerettet werden, und dennoch, trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten können Varian Fry und seine Helfer weit über 2000 Menschen die Flucht ermöglichen und sie so vor dem sicheren Tod bewahren.
Wittstock hat sich in seiner chronologischen Darstellung an die Fakten gehalten und auf die Quellen gestützt (siehe dazu auch die umfangreiche Bibliografie am Ende des Buches). Und obwohl es ein Sachbuch ist, hat es durch die Vielzahl der beschriebenen Schicksale fast schon romanhafte Züge und ist wegen der anschaulich und feinfühlig beschriebenen Schicksale sehr anrührend, aber gleichzeitig auch unglaublich spannend. Das Buch schafft ein literarisches Denkmal für Varian Fry und seine Helfer, beschreibt deren Tatkraft, Mut und Menschlichkeit. Aber es ist auch ein Denkmal für alle diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten und zu einem Neuanfang gezwungen waren, sowie eine Erinnerung an all die Literaten, Künstler, Intellektuelle, an die Menschen, denen dies nicht gelungen ist. Ganz große Leseempfehlung!
Ergänzend dazu empfehle ich Jean Malaquais‘ Roman „Planet ohne Visum“ und die siebenteilige Miniserie „Transatlantic“, aktuell bei Netflix verfügbar.