Lesenswert für jeden Literaturfreund
REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock ...
REZENSION – Mit seinem nicht nur literaturhistorisch äußerst interessanten Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ - im Februar beim Verlag C. H. Beck erschienen - hat Autor Uwe Wittstock das dramatische Kapitel deutscher Literaturgeschichte fortgeschrieben, das er zwei Jahre zuvor mit seinem Band „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hatte. Mittels tragischer Einzelschicksale bekannter Schriftsteller wie Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin und anderer, die nach Machtergreifung der Nazis in Frankreich Zuflucht gesucht hatten, erzählt Wittstock nun in seinem neuen Band, wie diese nach Besetzung und der Kapitulation der Grande Nation unter schwierigsten Bedingungen in den Monaten zwischen Mai 1940 und Oktober 1941 versuchten, in das nicht von den Nazis besetzte Südfrankreich und schließlich nach Marseille, dem einzigen noch freien Hafen an der Atlantikküste, zu kommen, um von dort nach Übersee fliehen zu können. Vor allem aber würdigt Wittstock den selbstlosen Einsatz des jungen amerikanischen Journalisten Varian Fry (1907-1967), dem es nach Gründung eines von ihm in New York mit finanzieller Unterstützung wohlhabender Amerikaner initiierten „Emergency Rescue Committee“ gelang, in diesen 18 Monaten mit Hilfe seines in Marseille aufgebauten Rettungsnetzwerks „Centre Américain de Secours“ etwa 2 000 deutschsprachige Kulturschaffende zur Flucht aus Frankreich zu verhelfen.
Wittstock schildert, journalistisch anhand von Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews recherchiert - zwar chronologisch geordnet, aber szenarisch wechselnd - den Mut mancher, aber auch die Selbstaufgabe anderer Exilanten wie im Falle des fast 70-jährigen Heinrich Mann. Dass Frys Wirken nicht immer Erfolg hat, zeigt der Suizid des verzweifelten Walter Benjamin. Andere entwickeln eine unbedingte Entschlossenheit zur Weiterflucht wie Anna Seghers, die sich über hunderte Kilometer zu Fuß auf den Weg macht.
Während über die Schicksale der Exilanten vieles bekannt ist, geriet der heldenhafte Einsatz des amerikanischen Fluchthelfers Varian Fry in Vergessenheit. Im Gegenteil: Schon während seines Einsatzes in Marseille bekam er zunehmend Schwierigkeiten mit dem New Yorker US-Hilfskommittee, das ihn 1940 nach Frankreich entsandt hatte. Man warf ihm seine Arbeit als illegaler Fluchthelfer vor, statt nur Geld und Lebensmittel an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Schließlich fordert man ihn sogar zur Rückkehr in die USA auf. „Fry ist empört. Angesichts der Situation in Marseille erscheinen ihm solche Anweisungen unzumutbar, zumal wenn sie von Leuten kommen, die in Amerika in warmen Wohnungen an reich gedeckten Tischen sitzen und keine persönlichen Risiken eingehen.“ An seine Frau schreibt er: „Dieser Job ist wie der Tod – unumkehrbar. Wir haben hier etwas begonnen, das wir nicht ohne Weiteres beenden können.“
Erst 1994 wurde ihm eine angemessene Ehrung als erster amerikanischer „Gerechter unter den Völkern“ in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem zuteil sowie 1998 als Ehrenbürger Israels. Im Epilog seines Buches „Marseille 1940“ wundert sich auch Wittstock über die bis heute anhaltende Missachtung dieses Fluchthelfers: „Überraschend ist, wie wenig Anerkennung Varian Fry und seine Leute in Deutschland gefunden haben, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihnen doch einiges zu verdanken hat.“ Nicht einmal die von ihm Geretteten schrieben mehr als ein paar Zeilen in ihren Autobiografien. Auch der Varian Fry gewidmete Essay "Der Engel von New York" der ins Pariser Exil verbannten Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894-1982) wurde bislang nicht veröffentlicht.
Deshalb kann man den Band „Marseille 1940“ nun als angemessene Würdigung dieses „amerikanischen Schindlers“ ansehen. Aber nicht nur aus diesem Grund, sondern auch wegen Wittstocks lebendiger Schilderung der bewegenden Einzelschicksale, die nur stellvertretend für viele andere Exilanten stehen, ist dieser Band unbedingt lesenswert. „Marseille 1940“ ist zwar ein für Literaturkenner interessantes Sachbuch - und doch noch mehr: Es ist eine für jedermann leicht lesbare und spannend geschriebene Erzählung über ein vielleicht vielen noch unbekanntes düsteres Kapitel deutscher Geschichte.