Profilbild von HenrietteFriederike

HenrietteFriederike

Lesejury-Mitglied
offline

HenrietteFriederike ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit HenrietteFriederike über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.11.2024

hautnah. lebendig. wichtig.

In die andere Richtung jetzt
0

85% der Weltbevölkerung machen nur 11% der Berichterstattung in Deutschland aus, schreibt der Reporter Navid Kermani. Kein Wunder, dass das Wissen über den Globalen Süden gering und einseitig ist. Auch ...

85% der Weltbevölkerung machen nur 11% der Berichterstattung in Deutschland aus, schreibt der Reporter Navid Kermani. Kein Wunder, dass das Wissen über den Globalen Süden gering und einseitig ist. Auch er, der Islamwissenschaftler und Schriftsteller ist, kennt sich bislang mit Ostafrika wenig aus. Deswegen reist er dort hin und trifft Menschen, die ihm vom Alltag berichten – in Madagaskar, Mosambik, Sudan, Kenia, Äthiopien und Tansania.

Es sind keine schönen und hoffnungsvollen Geschichten, die ihm erzählt werden. Sondern sie handeln von Hunger, Vergewaltigung, Dürre, Gewalt, Krieg. Der europäische Kolonialismus, korrupte Eliten, Klimawandel, Fundamentalismus und wirtschaftliche Interessen an Bodenschätzen werden als Gründe für die fatalen Lebensumstände genannt.

Er hätte auch von den vielen positiven Geschichten und Begegnungen schreiben können, sagt Kermani. Von Gelassenheit, Freundlichkeit, den Umgang mit Kindern, spektakulären Landschaften oder jahrtausende alten Kulturen. Doch das wäre ein anderes Buch gewesen. Denn: „es war nicht meine Aufgabe, die Schönheit zu beschreiben oder auch nur die Normalität. Der ganze Anlass der Reise war schließlich, dass in Madagaskar Hunger herrschte, und bei uns bekam es kaum jemand mit. Es stimmt, ich hatte mir vorgenommen, auch über das Leben zu schreiben, aber dann erschien mir die Not so viel dringlicher.“ (S. 267).

»In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika« beruht auf Kermanis Reportagen für die ZEIT, in denen er sich auch den Raum nimmt zum Nachdenken und Reflektieren. Leise prangert es die Ungerechtigkeiten an. Dabei lässt der Autor den OstafrikanerInnen den Vortritt, ihre Perspektive zu schildern – ohne mit erhobenen Zeigefinger oder hochtrabend akademischen Duktus zu erklären oder zu kontextualisieren. Nein; das Buch liefert keine Analysen oder Antworten, sondern schöpft seine Kraft durch die hautnahen und lebendigen Erzählungen normaler Menschen. Stolz und resilient erzählen die ProtagonistInnen, wertschätzen ihre Kultur und Heimat und schildern gleichzeitig eindrücklich unvorstellbares Leid. Die Geschichten zwingen uns, nicht wegzusehen. Zwingen uns, sie ernst zu nehmen.

(Rezension zuerst erschienen im HABARI-Magazin des Tanzania Network e.V. 2024/04)

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.08.2024

Dieses Buch erhellt, macht nachdenklich, gar wütend, aber stimmt auch hoffnungsvoll.

Beklaute Frauen
0

Was haben die Kernphysikerin Lise Meitner, die entscheidende Beiträge zur Entdeckung der radioaktiven Kernspaltung leistete, die Biochemikerin Rosalind Franklin, die die menschliche DNA entschlüsselte, ...

Was haben die Kernphysikerin Lise Meitner, die entscheidende Beiträge zur Entdeckung der radioaktiven Kernspaltung leistete, die Biochemikerin Rosalind Franklin, die die menschliche DNA entschlüsselte, die Autorin Mary Shelley, die Frankenstein schreib und die feministische Aktivistin Olympe de Gouges, die für Menschenrechte für alle eintrat, gemeinsam? Sie sind Frauen – und wurden für ihre Erfolge nie so gefeiert wie ihre männlichen Kollegen!

Vielmehr noch: ihr Einfluss wurde aus der Geschichte radiert, für ihre Leistungen bekamen Männer die Auszeichnungen. Sie wurden von Männern gebremst, ausgenutzt und ihrer Chancen beraubt. In ihrem Sachbuch „Beklaute Frauen“ stellt die Historikerin Leonie Schöler, die unter anderem auf Instagram und TikTok unter @heeyleonie Geschichtswissen vermittelt, einige der unsichtbaren Heldinnen der Geschichte vor. Sie zeigt auf, wie Denkerinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen im Schatten ihrer Ehemänner, Väter, Vorgesetzten oder Kollegen in Vergessenheit geraten sind.

Klug analysiert die Autorin, wie Hochzeit und Kinder die Frauen ausbremste, wie systematische Bevorteilung von Männern die Geschichtsschreibung nach wie vor beeinflusst und Macht dadurch reproduziert wird: Wer vergibt Stipendien an wen, wer bestimmt über Auszeichnungen, wer verteilt Forschungsprojekte? Sie zeigt, warum und wie weibliche, aber auch Schwarze, migrantische, behinderte, queere Leistungen unsichtbar gemacht wurden und werden.

Das Sachbuch ist dicht und geht facetten- und kenntnisreich auf verschiedene Zeiten und europäische Länder ein. Die einzelnen Biographien stehen nicht lose nebeneinander, sondern werden kontextualisiert und in einen Zusammenhang gestellt. Es geht nicht um Einzelschicksale, sondern um ein diskriminierendes System. Ein wichtiges Buch, das Pflichtlektüre werden sollte und aufgrund seiner lebendigen Sprache auch nicht langweilig zu lesen ist!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.01.2024

informativ, wichtig, gut

Der verschwiegene Völkermord
0

Vergessen, verschwiegen, nostalgisch verklärt, gerühmt oder traumatisch? Die Beschäftigung mit der deutsch-tansanischen Kolonialgeschichte könnte unterschiedlicher und widersprüchlicher nicht sein. Wie ...

Vergessen, verschwiegen, nostalgisch verklärt, gerühmt oder traumatisch? Die Beschäftigung mit der deutsch-tansanischen Kolonialgeschichte könnte unterschiedlicher und widersprüchlicher nicht sein. Wie gut, dass sich diese Neuerscheinung dem gewichtigen Thema widmet. Der Soziologe und Journalist Aert van Riel fokussiert dabei den Umgang
mit dem Maji-Maji-Krieg und führte Interviews mit Betroffenen, Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen, Museumsmitarbeiterinnen sowie Politikerinnen.

„Der verschwiegene Völkermord“ versteht sich als Kompaktinformation, die zunächst auf den Verlauf des Maji-MajiAufstands eingeht, um danach dessen Auswirkungen bis heute zu beleuchten. Geschätzte 150.000 bis 300.000 Tote haben die Diskussion ausgelöst, ob der Krieg als „Völkermord“ zu werten ist. Durch die brutale „Politik der verbrannten Erde“ sind viele tausend Ostafrikaner*innen verhungert oder verloren ihr Obdach. Die gezielte Zerstörung der landwirtschaftlichen Flächen hatte zudem schwerwiegende ökologischen Konsequenzen: Buschland und Wild breiteten sich rasant aus, und der Touristenmagnet Nyerere-(ehemals Selous-)Nationalpark konnte somit nur deshalb entstehen, erklärt van Riel, dass nach dem Krieg weite Flächen für Menschen unbewohnbar blieben. Auch heute noch gilt als koloniales Erbe, dass die Regionen Südtansanias (also Schauplätze des Maji-Maji-Kriegs) im Vergleich zum Rest des Landes arm sind, sich durch höhere Kindersterblichkeit und niedriges ProKopf-Einkommen auszeichnen. Gleichzeitig ist der Widerstand, der auf Swahili „Befreiungskrieg“ (Vita vya Ukombozi) heißt, dank der Vereinigung vieler Volksgruppen gegen die Kolonialmacht ein kostbares historisches Vermächtnis für das tansanische Ideal der
nationalen Einheit.

Bei Riels Buch irritieren stellenweise Verallgemeinerungen, ungeachtet ihrer Komplexität einseitige Darstellungen der Geschehnisse sowie inhaltliche Abschweifungen. Schade ist außerdem, dass zivilgesellschaftliches Engagement, etwa von Seiten des Tanzania Networks oder Berlin Postkolonial nicht stärker Erwähnung findet, sondern vor allem aufgezeigt wird, was in Deutschlands Umgang mit der Kolonialgeschichte nicht getan wird.

Insgesamt ist „Der verschwiegene Völkermord. Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika“ eine kompakte und interessante Lektüre, die zum Allgemeinwissen und – wie der Reihentitel „Neue kleine Bibliothek“ suggeriert – in jeden Bücherschrank gehören sollte. Die Kapitel sind flüssig geschrieben und enthalten keine bloße Aufreihung von Fakten und Jahreszahlen, sondern viele anschauliche Fallbeispiele, Personenbeschreibungen und Beziehungen von damals zu heute. Dennoch ist der Text kurz und knackig.

Fazit: informativ, wichtig, gut! Wer sich also eingehender mit dem kolonialen Erbe beschäftigen möchte, dem sei die dieses Buch wärmstens empfohlen.

(Diese Rezension erschien zuerst im HABARI 04/2023 "Schulpartnerschaften" des Tanzania Network e.V., S.65-68)

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
Veröffentlicht am 16.08.2023

Endlich! Liebevolles, ausführliches und hübsches Tansania-Kochbuch

Eine kulinarische Reise durch Tansania
0

Endlich! Bislang gab es noch kein deutschsprachiges Kochbuch speziell für die tansanische Küche, sondern lediglich englische oder ganz Afrika umfassende Ausgaben, die einige wenige Speisen aus Sansibar ...

Endlich! Bislang gab es noch kein deutschsprachiges Kochbuch speziell für die tansanische Küche, sondern lediglich englische oder ganz Afrika umfassende Ausgaben, die einige wenige Speisen aus Sansibar vorstellten. Die Tansanierin aus Österreich, Vera Lifa Seiverth, unternimmt in diesem farbenfrohen Band eine kulinarische Reise durch das abwechslungsreiche Angebot Tansanias. Die Rezepte für Pilau (Gewürzreis), Kochbananencurry sowie Fruchtlimonaden und süße Schleckereien zeigen auch die indischen, arabischen und europäischen Einflüsse auf die Landesküche. Für jeden Geschmack ist etwas zu finden: Scharfes, Würziges, Süßes, fruchtig Frisches.

Die Autorin gibt Tipps zu den Zutaten, die im deutschsprachigen Raum nur schwer zu bekommen sind, und schlägt Alternativen vor. Jedes einzelne Gericht wird kommentiert und mit wissenswerten Fakten ergänzt. Außerdem schreibt sie eine kurze Einführung über einheimische traditionelle Esskulturen. Die anschaulichen Bilder lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Fazit: Ein schönes Kochbuch für alle, die in Deutschland die tansanische Küche vermissen, und Fern- bzw. Heimweh haben. In diesem Sinne: Karibu chakula na mlo mwema! ( Willkommen zum Essen und guten Appetit!)

Rezension zuerst erschienen im HABARI-MAGAZIN 02/2020 des Tanzania Network e.V.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.08.2023

Plädoyer für eine angemessenere Betrachtung der deutschen Kolonialgeschichte

Kritik des deutschen Kolonialismus
0

Es gibt zahlreiche gute Überblickswerke über die deutsche Kolonialgeschichte, und auch die Frage nach kolonialen Kontinuitäten wurde bereits vielfach behandelt. Braucht es also noch weitere Ausführungen? ...

Es gibt zahlreiche gute Überblickswerke über die deutsche Kolonialgeschichte, und auch die Frage nach kolonialen Kontinuitäten wurde bereits vielfach behandelt. Braucht es also noch weitere Ausführungen? Ja, sage ich nach Lektüre der vorliegenden Sammlung, herausgegeben von Geschichtslehrer Wolfgang Geiger und Politikwissenschaftler und Soziologe Henning Melber. Vor dem Hintergrund der Anerkennung des Genozids in Südwestafrika (Namibia) durch die deutsche Politik und dem sogenannten Historikerstreit 2.0, ob und wie Kolonialismus und Holocaust zusammenhängen, tauchen Fragestellungen auf, die noch nicht beantwortet wurden. Das Buch liefert neue Impulse, die zur Beschäftigung mit dem Thema befähigen und motivieren.

Der Band gliedert sich in drei Abschnitte: Das einführende Kapitel stellt grundsätzliche Überlegungen an zur Geschichte und erinnerungskulturellen Wahrnehmung des Kolonialismus in Deutschland. Im ersten Thementeil geben die Autoren an den Beispielen Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika, den Südseegebieten und Kiautschou einen knappen Einblick in historische und spezifische Eigenheiten des jeweiligen Gebiets. Ein Augenmerk der Beiträge liegt auf den kolonialen Kontinuitäten in der Gegenwart. Auch die Täter-Opfer-Dualität wird an einigen Stellen aufgebrochen, stattdessen die heterogene Gruppe der Einheimischen skizziert, die zwischen Kooperation und Widerstand eigenständige Rollen einnahmen. Der zweite Thementeil bietet Anregungen zum geschichtsdidaktischen Umgang mit Kolonialismus und der Auseinandersetzung mit einseitigen eurozentrischen Bildern in Schulunterricht und Museen.

Vieles ist nicht neu, einiges verkürzt dargestellt. Allerdings erhebt das Buch nicht den Anspruch, sich tiefergehend mit der historischen Dimension deutscher Kolonialgeschichte zu befassen. Vielmehr liegt seine Besonderheit darin, dass durch die Ergänzung von Personen aus dem Globalen Süden und/oder Betroffenen die Darstellungen an Tiefe gewinnen und zum Perspektivenwechsel anregen. Beispielsweise ordnet der namibische Aktivist Israel Kaunatjike, der sich seit Jahren für die Anerkennung des Genozids an Ovaherero und Nama einsetzt, die jüngsten Geschehnisse kritisch ein und erklärt, warum die deutsche Politik nicht weit genug geht. Der Tansanier Mnyaka Sururu Mboro, Gründungs- und Vorstandsmitglied von Berlin Postkolonial, bereichert das Kapitel zu Deutsch-Ostafrika mit Erläuterungen, wie sich Menschen in Tansania an die Kolonialzeit erinnern und erklärt, warum Begriffe wie „Häuptling“ oder „Aufstand“ mit Vorbehalt zu sehen sind.

Ein feministischer Wermutstropfen hingegen bleibt: Nur einer von zwölf (!) Beiträgen wurde von Frauen verfasst. Insgesamt sind die fast 200 Seiten mit neuen Argumenten ein Plädoyer für die angemessenere und sensiblere Betrachtung der deutschen Kolonialgeschichte.

Rezension zuerst erschienen im HABARI-MAGAZIN 04/2021 des Tanzania Network e.V.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere