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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein wichtiges und starkes Buch

Die Entscheidung
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Amélie Cordonnier hat mit “Die Entscheidung” einen Roman über verbale Gewalt in der Ehe und in der Familie geschrieben. Ihrer Protagonistin sind die Wutausbrüche ihres Mannes Aurélien nicht unbekannt. ...

Amélie Cordonnier hat mit “Die Entscheidung” einen Roman über verbale Gewalt in der Ehe und in der Familie geschrieben. Ihrer Protagonistin sind die Wutausbrüche ihres Mannes Aurélien nicht unbekannt. Schon vor sieben Jahren gab es eine Zeit, in der er sie täglich beleidigte. Depressionen und eine vorläufige Trennung waren das Ergebnis. Doch er versicherte ihr, dass er sich therapieren lassen würde, dass er sich bessern würde. Bis zu dem Tag, an dem der Roman ansetzt.

Dreckige Sau oder Hündin, Ratte und Rhinozeros oder fette Kuh sind einige der eher harmlosen Beschimpfungen, mit denen die Protagonistin ständig konfrontiert wird. Sie notiert sie in einer Liste, die bereits seitenlang ist und die in ihr die Hoffnung aufrecht erhält, dass sich die Worte woanders festsetzen als in ihr.

Bemerkenswert ist, dass der Roman nie urteilend auf seine Figuren blickt, sondern ihnen gerecht zu werden versucht. Denn in gewisser Weise sind alle Beteiligten Gefangene der Gewalt, die über sie hereinbricht. Auréliens Wut- und Beleidigungsausbrüche gleichen Anfällen, in denen er die Beherrschung über sich verliert, aber die er schon kurze Zeit später wieder aufrichtig bereut. Sie entziehen sich seiner Kontrolle, sind eine Erkrankung, der er nicht Herr werden kann. Der Roman verurteilt Aurélien also nicht und stellt die Beziehung zwischen den Eheleuten nicht ausschließlich als eine Täter-Opfer-Beziehung dar. Das ist neben der wichtigen Thematik eine seiner großen Stärken.

Ebensowenig wird die Unfähigkeit der Protagonistin, sich von der Beziehung loszureißen, kritisiert. Denn: “Der Stärkste ist nicht immer der, von dem man es denkt. Der Schwächste übrigens auch nicht.”

Auf wenigen Seiten schreibt Amélie Cordonnier auf bewegende, schonungslose und konfrontative Weise darüber, was verbale Gewalt mit einem Menschen und sogar mit einer ganzen Familie macht. Sie legt das offen dar, was normalerweise nur hinter verschlossenen Türen stattfindet und sich den Blicken der Öffentlichkeit entzieht, auch weil es keine eindeutig physischen Spuren hinterlässt. Ein wichtiges und starkes Buch!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Eine Zeitreise

Deutschland in den Goldenen Zwanzigern
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Trotz der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme sind die Zwanzigerjahre für uns im Nachhinein von einer Aura des Glamours, der ausschweifenden Feste und eines lebendigen Nachtlebens umgeben. ...

Trotz der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme sind die Zwanzigerjahre für uns im Nachhinein von einer Aura des Glamours, der ausschweifenden Feste und eines lebendigen Nachtlebens umgeben. Nicht umsonst werden sie als golden oder als roaring bezeichnet. Für Deutschland muten die Zwanziger dabei ganz besonders als Lichtblick und als eine kurze Verschnaufpause in dieser durch Kriege und Krisen geprägten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Sie sind die Zeit der Hoffnung, der Emanzipation, der neuen Freiheiten und technischen Errungenschaften. Sie sind die Schaffensphase von Bertolt Brecht, von Alfred Döblin, Vicky Baum, Walter Benjamin, Erich Kästner und Marlene Dietrich. Theater, Kinos, Varietés und Kabaretts blühen in ihr auf und das Bauhaus und die Neue Sachlichkeit tun ihr Übriges, um den Mythos der Zwanziger zu bereichern und zu verstärken.

Doch die Zwanziger waren nicht nur Rausch, Fest und Fortschritt. Sie waren Zeuge des zum Scheitern verurteilten Versuchs einer ersten Republiksgründung und Demokratie in Deutschland. Putschversuche, Aufstände, Straßenschlachten, politische Gewalt und Morde sowie eine erstarkende rechte Bewegung und die Gründung von rechten Bündnissen waren Teil des politischen Alltags. Unsicherheit in der Bevölkerung resultierte daraus und wurde durch die gravierende Armut und Arbeitslosigkeit verstärkt. Auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Inflation und der Mangel an Wohnraum schürten die Ängste der Menschen.

Die Zwanziger sind also sowohl die Zeit der Krisen und Unsicherheiten als auch der Revolutionen, Aufbrüche und Erfindungen. Das Buch versucht der Vielschichtigkeit, die die Zeit auszeichnet, gerecht zu werden und sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Es widmet sich den Intellektuellen genauso wie den Bauern, dem Medium des Films genauso wie den neuen Haushaltsgeräten.

Das Buch bietet mit seinen Beiträgen unterschiedlicher Autoren, mit Interviews, Fotos und Zitaten aus Zeitdokumenten einen umfassenden Einblick in die Zwanzigerjahre. Der Anhang mit einer Chronik, zahlreichen Buchempfehlungen und einem Personenregister rundet das Leseerlebnis außerdem ab und ebnet den Weg für weiterführende Lektüren. Das Buch nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, die Freude macht und bereichert!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Erweitert den Horizont

Das Geräusch einer Schnecke beim Essen
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Auf einer Reise nach Europa steckte sich die Autorin des Buches mit einem Virus an und war jahrelang an ihr Bett gefesselt. Zur Aufmunterung brachte ihr eine Freundin ein Alpenveilchen, an dessen Topf ...

Auf einer Reise nach Europa steckte sich die Autorin des Buches mit einem Virus an und war jahrelang an ihr Bett gefesselt. Zur Aufmunterung brachte ihr eine Freundin ein Alpenveilchen, an dessen Topf eine Schnecke hing. Fortan wird die Schnecke zum festen Bestandteil des Alltags der kranken Autorin. Sie beobachtet sie, macht sich mit ihren Eigenarten vertraut, baut ihr ein Terrarium, versorgt sie mit der richtigen Nahrung und darf schließlich sogar Zeuge davon werden, wie die Schnecke Eier ablegt und ihr Nachwuchs schlüpft.

Genau wie Bailey selbst, muss die Schnecke sich zunächst mit einer neuen Situation zurechtfinden. Sie wurde ihrem natürlichen Habitat entrissen, findet sich in einem Raum ohne Nahrung wieder und knabbert notgedrungen an Briefen und Papier, um zu überleben. Durch den Überlebenswillen und den Rhythmus der Schnecke ändert sich die Sicht der Autorin auf ihre eigene Situation und auf die Welt. Völlig neue Perspektiven eröffnen sich ihr, zum Beispiel wenn sie darüber nachdenkt, wie es sich anfühlen muss, in und mit einem Schneckenhaus zu leben.

Der neue Mitbewohner bietet Abwechslung, aber er lässt Bailey vor allem achtsamer werden und löst Bewunderung und Respekt für eine Gattung von Tieren in ihr aus, die eine der erfolgreichsten überhaupt ist und bereits seit über einer halbe Milliarde Jahren existiert. Durch die Schnecke entwickelt sie ein neues Verhältnis zur Natur, das gleichzeitig auch dem Leser die Augen für das Leben von Schnecken öffnet. Die Schnecke wird zu einem Individuum mit einem ganz eigenen Charakter. Bailey bezeichnet sie als elegant, mutig und abenteuerlustig. Sie ist überzeugt, dass ihre Schnecke bewusste Entscheidungen trifft, dass sie lernt und sich erinnern kann.

“Das Geräusch einer Schnecke beim Essen” ist eine Bereicherung für jeden Leser, denn wer wusste schon vor der Lektüre, dass eine Landschnecke 2640 Zähne hat und 80 Zahnreihen, die sich erneuern? Oder dass Schnecken sich hauptsächlich auf ihren Geruchs- und Tastsinn verlassen, dass sie taub sind und ihre Sicht nur auf die Wahrnehmung von hell und dunkel beschränkt ist? Bailey verbindet dieses Wissen mit ihren Beobachtungen und mit literarischen Zitaten, die zusammen ein rundes, spannendes und vielschichtiges Bild ergeben. Spätestens mit diesem Buch hat die Schnecke so ihren wohlverdienten Platz in der Literatur gefunden.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Junge verschlingt Universum

Der Junge, der das Universum verschlang
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Der Protagonist des Romans Eli Bell ist zu Beginn der Geschichte zwölf, wächst in einem trostlosen und heruntergekommenen Vorort von Brisbane auf und ist mit Slim befreundet, einem verurteilten Mörder, ...

Der Protagonist des Romans Eli Bell ist zu Beginn der Geschichte zwölf, wächst in einem trostlosen und heruntergekommenen Vorort von Brisbane auf und ist mit Slim befreundet, einem verurteilten Mörder, der schon mehrmals aus dem Gefängnis geflohen ist.
Elis Bruder August spricht nicht mehr und schreibt stattdessen nur noch Sätze mit dem Finger in die Luft, die Eli für alle anderen übersetzt.
Die beiden Brüder haben den Drogenentzug ihrer Mutter miterlebt und mussten nicht nur aufeinander aufpassen, sondern auch auf die Erwachsenen um sie herum.
Als Eli erfährt, dass seine Mutter und ihr Lebensgefährte Lyle in den Drogenhandel verwickelt sind und als Lyle kurze Zeit später entführt wird und die Mutter ins Gefängnis muss, ändert sich das Leben der beiden Jungen schlagartig. Doch Eli weigert sich, den für ihn vorgezeichneten Weg zu gehen und stellt sich dem Schicksal in die Quere.

Damit ist zwar der Inhalt kurz zusammengefasst, aber das alleine reicht bei diesem Roman nicht. Denn der Roman ist in erster Linie die Geschichte eines Jungen, der die Trostlosigkeit, die Gewalt, die Drogen und das Graue um ihn herum mit den Farben seiner eigenen Fantasie vermischt.
Nur durch Elis ganz besondere Sicht auf die Welt, ist es überhaupt möglich, dass die Geschichte trotz ihrer schwierigen Themen nie erdrückend wirkt. Stattdessen findet sie einen Weg, die Kindheitstraumata der beiden Brüder auf lyrische, poetische und magische Weise wiederzugeben. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fantasie fließen ineinander und machen diesen Roman zu einem besonderen Leseerlebnis.

Ich habe einen Kritikpunkt, der sich allerdings nicht auf den Roman selbst bezieht, sondern auf den deutschen Titel. Es hätte meiner Meinung nach in Bezug auf die Geschichte viel mehr Sinn ergeben, wenn man den englischen Titel wortwörtlich übersetzt hätte: Junge verschlingt Universum.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Kraftvoll und tiefgründig

Elmet
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Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die ...

Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die Autorin ihre Geschichte ansiedelt. Zwar spielt die Geschichte in der Gegenwart, doch der Bezug zu den Kelten und zu vorangegangenen Zeiten, der schon durch den Titel hergestellt wird, ist allgegenwärtig. Die erzählte Welt zeichnet sich durch etwas Archaisches, Rohes und Ursprüngliches aus.
Umso faszinierender ist es, dass es Mozley gelingt, in dieser Welt, die zeitlos scheint, Kritik an unserer Gesellschaft und am Kapitalismus zu üben. Sie schreibt über soziale Ungerechtigkeit, über die ungleiche Aufteilung von Kapital und Besitz, über Armut, die Ausbeutung von Arbeitern und die Gier.

Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Problemen steht ein bärtiger Riese mit seinem kleinen Sohn und der raubvolgelhaften Tochter. So jedenfalls beschreibt der Roman seine eigenen Protagonisten und zeichnet mit dieser Charakterisierung das Bild einer ungleichen Familie. Daniel und Cathy sind 14 und 15 Jahre alt. Ihre Mutter hat die Familie verlassen und auch der Vater ist während ihrer Kindheit immer wieder abwesend, bis er eines Tages entschließt, auf einem Stück Land in der Heimat seiner Frau ein Haus für sich und die Kinder zu bauen.
Zusammen leben die Drei fortan im Einklang mit sich selbst und mit der Natur. Doch ihr friedliches Zusammenleben findet ein jähes Ende, als Mr Price, einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Landbesitzer der Gegend, ihnen verwehrt, weiterhin auf dem Grundstück im Wald zu wohnen.

Fiona Mozleys Debütroman ist kraftvoll, tiefgründig und endet für die meisten Leser sicher nicht mit der letzten Seite. Denn man will der Geschichte noch nachlauschen, will nicht plötzlich, sondern nur ganz allmählich aus ihr heraustreten und ich denke, das ist es, was einen gelungenen Roman auszeichnet.

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