Das Leben offline
Zeiten der LangeweileWie wäre es, wenn man alle seine Social Media-Profile löschen würde? Oder noch radikaler: Sich vom Internet abwenden würde? Genau das tut die Protagonistin in Jennifer Beckers Roman "Zeiten der Langeweile". ...
Wie wäre es, wenn man alle seine Social Media-Profile löschen würde? Oder noch radikaler: Sich vom Internet abwenden würde? Genau das tut die Protagonistin in Jennifer Beckers Roman "Zeiten der Langeweile". Aus der Angst davor, dass sie gecancellt werden könnte oder dass man sie aufgrund alter Artikel und Beiträge bloßstellen könnte, löscht sie allmählich alles über sich aus dem Internet.
Was sich zunächst als spektakulär anhört, entpuppt sich in der Realität eher als unaufregend und langwierig. Auf ihre Abschiedsnachricht reagiert kaum jemand, ihre Einladung, Signal runterzuladen, nimmt nur eine Freundin an und der Prozess, einen alten Blogeintrag aus der Google Suchergebnisliste zu löschen, dauert viel länger als gedacht.
Was als impulsive Aktion beginnt, nimmt plötzlich immer größere Ausmaße an. Während die Protagonistin zu Beginn noch die Streamingdienste nutzt, sich Youtube-Videos ansieht, auf Signal chattet und Wikipedia-Artikel liest, wird sie mit der Zeit immer radikaler in ihrer Abkehr von der digitalen Welt.
Und plötzlich ist da Zeit für die Dinge, die sie seit Jahren nicht mehr gemacht hat: Bücher in einem richtigen Buchladen kaufen zum Beispiel, Zeitungen lesen und jeden Tag Sport machen.
Gleichzeitig leidet ihr Sozialleben, ihre Integration ins Alltagsleben. Immer öfter fällt ihr auf, dass sie ausgegrenzt wird, von Personen ebenso wie von Strukturen. Sie versteht Witze nicht mehr, ist nicht mehr up to date, ist in mancherlei Hinsicht nicht mehr Teil der Welt.
Der Roman hat mir als Leserin vor Augen geführt, wie abhängig wir vom Internet sind. Und das in jeder Hinsicht, sei es Fernsehen, Musik, Banking, Wissen, Dating, Kommunikation, usw. Sich davon vereinnahmen zu lassen ist mehr als leicht, sich davon loszulösen überhaupt nicht. Becker stellt das mit ihrem Roman auf anschauliche Weise dar.
Gleichzeitig habe ich den Roman nicht als ein Plädoyer für eine komplette Abwendung vom Internet verstanden. Er verherrlicht keine Extreme. Stattdessen zeigt er, wie schnell auch der digital Detox krankhafte Formen annehmen kann.
Für mich ein gelungenes Debüt und ich bin gespannt auf mehr von Jenifer Becker!