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Veröffentlicht am 31.05.2024

Geschichte mit Sogwirkung

Gebranntes Kind
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Am Tag der Beerdigung von Bengts Mutter schaut er aus dem Fenster in das finstere Januarlicht. Mutter war krank. Etwas mit dem Herzen. Gegenüber in der Metzgerei war sie von einem Stuhl gefallen. Hinter ...

Am Tag der Beerdigung von Bengts Mutter schaut er aus dem Fenster in das finstere Januarlicht. Mutter war krank. Etwas mit dem Herzen. Gegenüber in der Metzgerei war sie von einem Stuhl gefallen. Hinter ihr, einer der Metzger nahm gerade ein Lamm aus und hat es nicht gesehen.

Der Vater hat nicht geweint. Sein Arm ist hart und schwer. Vaters zwei Schwestern haben den Kaffee vorbereitet und das Wohnzimmer geschmückt. Die eine ist schön, die andere hässlich. Die schöne liebt der Vater, weil er alles liebt was schön ist.

Nach der Arbeit schleppt Vater einen großen schwarzen Hund an, den er Hector nennt. Er hätte ihn in einer Zoohandlung gekauft, damit sie nicht so allein waren. Bengt fängt an dem Vater zu misstrauen und folgt ihm, wenn der abends mit dem Hund das Haus verlässt. Schon bald fühlt sich der Vater verfolgt und pausiert in einem Café, um sich hinter einer Zeitung zu verstecken und den Verfolger vorbeiziehen zu lassen.

Die ganze Wohnung ist durch Mutter imprägniert. Hier ein Brief in der Schublade, dort ein Strumpf, eine Brosche. Bengt kann sich nicht mehr auf sein Studium konzentrieren. Er geht nicht mehr zur Uni, dem Vater erzählt er von anstehenden Prüfungen und wie er den Lesungen beigewohnt hat, das macht dem Vater Freude.

Am Abend trifft Bengt seine Freundin Berit, die weint immer. Manchmal möchte er Berit mehr wehtun, als sie nur in den Oberarm zu kneifen, aber dann weint sie noch mehr.

Fazit: Von Anfang an hat mich die Geschichte Bengts gefesselt. Wie er seine Umwelt beobachtet und die falschen Intentionen in seine Mitmenschen hineininterpretiert. Mitanzusehen, wie Bengt sich fast in einen Wahn von Reinheit hineinsteigert, schmerzt. Seine Moralvorstellungen, mit denen er sich über die Welt der Erwachsenen stellt und sich selbst betrügt. Seine obsessiven Fantasien und sein selbstzerstörerisches Verhalten erschrecken. Die ersten Seiten musste ich mich an den nüchternen Schreibstil und die kurzen Sätze ohne Nebensätze gewöhnen. Die Sprache ist hart und zeichnet eine zerstörerische Destruktion. Alles wirkt real, der Charakter des Antihelden bis in die kleinste Ecke ausgeleuchtet. Ein wenig hat mich die Geschichte an den „Fänger im Roggen“ erinnert. Diese Geschichte Stig Dagermans, der sich mit 31 das Leben nahm, erstmals veröffentlicht 1948, hat viele negative Gefühle in mir geweckt. Wahrscheinlich hätte ich diesen bemitleidenswerten Antihelden versucht zu schlagen, wenn er mir in meinem Leben begegnet wäre. Diese Geschichte mit Sogwirkung, hat nichts an Aktualität eingebüßt und sollte eigentlich als Unterrichtsmaterial an Schulen dienen.

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Veröffentlicht am 28.05.2024

Großartig. So humorvoll und selbstironisch

Kummer aller Art
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Die Zwergpinscherdame Lori zittert wenn sie draußen ist. Vermutlich hat sie genausoviel Angst, wie ihr Besitzer Herr Pohl. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Lori die gleichen Ängste plagen, wie Herrn ...

Die Zwergpinscherdame Lori zittert wenn sie draußen ist. Vermutlich hat sie genausoviel Angst, wie ihr Besitzer Herr Pohl. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Lori die gleichen Ängste plagen, wie Herrn Pohl, denn der hat Angst vor dem Innenraum eines Flugzeugs, aber auch vor der Enge in Aufzügen. Immer, wenn sich die Türen schließen, schießt das Adrenalin durch seine Blutbahn und, da gleicht er sich seiner Hündin an, lähmt ihn.

Frau Wiese und die Protagonistin sind sich darin einig, was hervorragend dazu neigt, den Schlaf zu verhindern. Es sind die bräsigen Schafe, die, fängt man an sie zu zählen, bockig dazu neigen eben nicht zu springen. Auch Mahnungen sagt man nach, dass sich der geschuldete Betrag in schlaflosen Nächten eher vergrößert.

Sorgen haben in durchwachten Nächten bekanntlich sehr, sehr leichtes Spiel, wie Halbstarke, die auf dem Schulhof einen Erstklässler vermöbeln. S.17

Sie mag keine Frisöre, weniger weil die sie mehr oder weniger verändern. Nein, sie fürchtet sich vor dem Gespräch, dem sie nicht ausweichen kann. Heute allerdings ist ihr Haarstylist angenehm zurückhaltend. Dafür hat er den Spiegel mit augenscheinlich sinnigen Sprüchen verziert: Nur, wer sich bedingungslos liebt, kann auch andere bedingungslos lieben! „Das ware toll, oder?“ sagt die alte Dame neben ihr mit der Alufolie auf dem Kopf. Und dann gesteht die Protagonistin ihr, dass sie sich nicht bedingungslos liebt:

Wenn ich zum Beispiel jemanden oder mich selbst sehenden Auges hinters Licht führe, wenn ich meinen Mut nicht zusammennehme, sondern ihn verstreut herumliegen lasse, wenn ich schon am Morgen innerlich herummäkele, wenn ich meinen Sohn anherrsche, obwohl ich eigentlich gar nicht auf ihn, sondern auf einen Abgabetermin wütend bin, wenn ich „Ja natürlich“ sage, obwohl ich eigentlich „Um Gottes willen, bloß nicht!“ sagen will, ist meine Zuneigung zu mir überschaubar. S. 61

Fazit: Ich liebe dieses Buch! Mariana Leky hat mich rundum bereichert. Hat mir kleine Geschichten aus dem Alltag von Hinz und Kunz geschenkt und mir eine wunderbare Zeit beschert. So humorvolle und selbstironische Einblicke in die labile Psyche meiner Mitmenschen, die ich so gut nachempfinden kann, weil auch ich Ängste habe, Zwänge, Zweifel und Gedanken, die ich meinem größten Feindin nicht wünsche. Selten habe ich so gute Portäts über die unterschiedlichsten mentalen Verfassungen gesehen, gespickt mit einem schelmischen Augenzwinkern, außer vielleicht bei Paul Watzlawick. Ihr Schreibstil und die Metaphern machen ihre Geschichten so lebhaft bildlich. Dieses weise, menschenfreundliche Büchlein, das es jetzt auch im Taschenbuchformat gibt, hat sich verständlicherweise einen wohlverdienten Rang auf der Spiegel-Bestsellerliste ergattert.

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Veröffentlicht am 27.05.2024

Ein wichtiges Buch zum Thema Rassismus

Maud Martha
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Maude Martha Brown lebt im Chicago der 1940er-Jahre. Als fünfjähriges schwarzes Mädchen wünscht sie sich nichts mehr, als gerngehabt zu werden, was gar nicht einfach ist, denn neben ihrer zwei Jahre jüngeren ...

Maude Martha Brown lebt im Chicago der 1940er-Jahre. Als fünfjähriges schwarzes Mädchen wünscht sie sich nichts mehr, als gerngehabt zu werden, was gar nicht einfach ist, denn neben ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Helen scheint sie zu verschwinden.

An einem Schultag im roten Backsteingebäude machte die Sonne kleine Versprechungen. Da wehten mit dem Wind die Kinder heran und um punkt fünf nach neun war der Schulhof leergefegt, keine Kappe oder Haarschleife mehr zu sehen.

Wenn ihre Eltern streiten träumt die kleine Maude von Gorillas, die aus dem Zoo auszubrechen drohen.

Bei einem Besuch im Regal Theater sah Maude Howie Joe Jones, ein riesiges braunes Etwas, dessen Stimme Maude nicht beeindruckte, es hatte sie nicht gepackt.

Das Publikum hatte applaudiert. Befremdlich ausgelassen gestampft. Die Finger in den Mund gesteckt und gepfiffen. S. 20

Sie würde sich nie so zur Schau stellen, ihr inneres nach außen kehren. Sie wollte kein Star sein, wollte der Welt einfach eine gute Maud Martha schenken.

Wenn Maude im Zug saß stellte sie sich vor nach New York zu fahren. Sie lehnte sich im Plüsch zurück und träumte von dem überteuren italienischen Geschirr, den antiken Porzellanfiguren in hellblau und gold. Frauen in schlichten Kleidern zu keineswegs schlichten Preisen, wie sie sich so lässig bewegten als trügen sie irgendwelche Fetzen.

Fazit: Maude Martha ist der einzige Roman, den Gwendolyn Brooks geschrieben hat. Für einen ihrer Gedichtbände hat sie den Pulitzerpreis bekommen. Maude Martha ist eine autofiktionale Erzählung mit kurzen Kapiteln, die recht unabhängig voneinander, wie Kurzgeschichten geschrieben sind. Die Autorin gibt einen klaren Eindruck ihrer Zeit, über ihr Leben und ihren Alltag als „Schwarze Frau“, wie sie sich selbst bezeichnete. Die Sprache ist leichtfüßig und einfallsreich. Die Themen schwer und ungerecht. Es geht um herablassende privilegierte weiße Frauen, die sich für wertvoller halten als ihre schwarzen Angestellten. Weiße Frauen, die so problemlos wie widerspruchslos das N….Wort benutzen. Weihnachtsmänner, die ein schwarzes kleines Mädchen keines Blickes würdigen. Gwendolyn Brooks beschreibt den Rassismus, die Ungleichheit ihrer Zeit, wie ihre Hautfarbe, das Maß ihres Selbstwerts bestimmt, die Art ihrer Ehe und das Glück ihrer Kinder. Es geht um Selbstbestimmung, Anstand und Selbstachtung.

Wie kann man einer Gesellschaft mit Selbstbestimmung begegnen, wenn diese das nicht vorsieht? Wie lässt sich Anstand kultivieren, wenn einem das Zuhause jederzeit von der Bank entrissen werden kann? Wie entwickelt man Selbstachtung, wenn man das weniger geliebte Kind der Eltern ist? Wenn hellhäutigere Schwarze aufgrund der dunkleren Hautfarbe auf einen herabschauen? Wenn ein Mann die Beziehung zu einer Frau nicht aus Begehren, sondern aus einem realistischen Blick auf die eigenen Möglichkeiten eingeht? S. 147

Daniel Schreiber

Ein erhellendes kleines Buch, das kaum etwas an Aktualität eingebüßt hat, das ich unbedingt empfehlen möchte.

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Veröffentlicht am 24.05.2024

Das hat mir insgesamt gar nicht gefallen

Experienced. Die Liebe bietet unbegrenzte Möglichkeiten
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Bette hasst den Sommer, das Schwitzen, ihr Körper dick, prall und warm, wie ein aufgehender Teig. In Meis kühler Baumwollbettwäsche, nach ausgiebigem Sex allerdings, fühlt sie sich ganz wohl in ihrer Haut. ...

Bette hasst den Sommer, das Schwitzen, ihr Körper dick, prall und warm, wie ein aufgehender Teig. In Meis kühler Baumwollbettwäsche, nach ausgiebigem Sex allerdings, fühlt sie sich ganz wohl in ihrer Haut. Seit fünf Monaten sind sie zusammen. Mei ist Bettes Comingout. Sie träumt von einer rosigen Zukunft mit Mei, kann sich ein Leben mit der etwas älteren Künstlerin so gut vorstellen, bis Mei ihr einen Vorschlag macht. Bette soll sich drei Monate austoben, andere Frauen daten und lieben lernen. Wenn Bette dann immer noch mit Mei zusammen sein will, werden sie ein festes Paar.

Bette ist am Boden. Verstört verlässt sie die Wohnung von Mei, die sie drei Monate nicht sehen wird. Sie kommt verheult und verschwitzt, zu spät zum Semesterabschlusstreffen. Ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Ash freut sich dennoch sie zu sehen und spürt sofort, dass etwas nicht stimmt. Nachdem Bette ihr Herz ausgeschüttet hat, zeigen sich alle angemessen entrüstet. Ash und ihr Freund Tim helfen Bette eine Datingapp zu installieren, weil sie Meis Plan unbedingt folgen will. Bette swiped ein paar Frauen aus der Nähe und dated die erste in einer Bar.

Fazit: Das war gar nicht meins. Der Plot ist einfach. Junge Frau outet sich lesbisch zu sein, findet in der Liebe zu Frauen das, was ihr vorher gefehlt hat, Humor, Einfühlungsvermögen und Leidenschaft. Auf der Suche nach der großen Liebe geht sie durch Höhen und Tiefen, um am Ende die richtige zu finden. Die Sprache hat mich nicht mitgenommen. Die Protagonistin fand ich wegen ihrer Leidensfähigkeit ungemein nervig. Die ganze Geschichte hat sich arg in die Länge gezogen und war mir zu oberflächlich. Am ehesten würde ich das ganze mit Sex and the City vergleichen, allerdings hatte die Serie mehr Tiefe. Außerdem hat mich die Wortwahl abgeschreckt. Das Wort heiß fiel zu oft, die gleichen Szenen wiederholten sich und konnten mich dennoch nicht mitreißen, insgesamt zu viel Sex und für meinen Geschmack zuviel Oralverkehr. Einige wenige humorvolle Dialoge, haben keine Qualitätsverbesserung gebracht.

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Veröffentlicht am 22.05.2024

Ein wunderbar bewegendes Buch

Auf Erden
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Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? ...

Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? „Fahr einfach, meinetwegen im Kreis bis der Tank leer ist“: Katharina fuhr mit dem Mietwagen, der klapperte und fauchte durch die Nacht und sie erinnerten sich an damals.

Sunny war zwei, als sie mit den Händen an das Krankenhausbett gefesselt war. Der Durst rieb wie Schmiergelpapier in ihrem Hals. Vater kam, löste die Fesseln, ließ sie trinken, hob sie hoch und trug sie nach Hause. Auf eigene Verantwortung riefen sie ihm hinterher.

Sunnys Vater kaufte Musikinstrumente, an die sie sich herantasteten und richtete ihr und ihren beiden Brüdern einen Proberaum unter seiner kleinen Tischlerwerkstatt ein.

Sunny traf Jessi zum ersten Mal in der Schulaula und sah verstohlen auf die feinen Narben an Jessis Handgelenken. Später fand sie heraus, dass sie von ihrem Vater geschlagen wurde, was sie mit einer übergroßen Sonnenbrille zu verbergen suchte.

Katharina, das war die ohne Vater, er war weggegangen als sie noch ganz klein war. Sunny sah ihren Kummer, wenn sie anderen Vätern mit ihren Kindern beim Spiel zusah.

Alma, die vierte im Bunde hatte sie einmal mit ihrem Vater in der Stadt getroffen. Er war klein, sprachlos und seine Augen blickten nervös umher. Es war Alma unangenehm, dass Sunny ihn so angestarrt hatte.

Sie waren vier Mädchen, die nichts trennen konnte, bis sie älter wurden, ihre Berufe, andere Freundinnen fanden und das Band poröser wurde.

Fazit: Ein schönes Porträt über Freundschaft, unterschiedliche Herkunftsfamilien, über gesunde (nicht toxische) Männlichkeit, Verlust und den Umgang mit Trauer. Obwohl Anne Kanis eine Ich-Erzählung geschaffen hat, so authentisch wie ein Memoir oder eine Biografie, ist ihre Geschichte fiktiv. Voller Sensibilität erzählt sie die Freundschaft von vier Freund
innen, die sich einige Lebensjahre begleiten und die so unterschiedlich sind wie ihre Väter. Obwohl die Autorin viele traurig stimmende Momente einbringt, macht sie auch Mut, darüber, wie das Leben immer weiter geht und wie wir Herausforderungen meistern, um geläutert und/oder bestärkt daraus hervorzugehen. Ich habe mich in den Charakter von Sunnys Vater verliebt und dieses wunderbar bewegende Buch sehr gerne gelesen.

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