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Veröffentlicht am 20.09.2024

Roman mit komplexer Struktur

Antichristie
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2022. Die 50-jährige Durga trauert um ihre Mutter Lila, die unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Schon bald muss sie nach London aufbrechen, wo sie in einem Writer‘s Room gemeinsam mit ihren Kolleg*innen ...

2022. Die 50-jährige Durga trauert um ihre Mutter Lila, die unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Schon bald muss sie nach London aufbrechen, wo sie in einem Writer‘s Room gemeinsam mit ihren Kolleg*innen eine antirassistische Neuverfilmung der Werke Agatha Christies schreiben soll. Doch dann geschieht das Unerwartete: die Queen stirbt und versetzt ganz Großbritannien in den Ausnahmezustand. Protestierende finden sich vor dem Florin Court ein, in dem der Writer‘s Room stattfindet, weil sie nach der Queen nicht auch noch die Queen of Crime „verlieren“ wollen. Mitten in all diesen Wirren passiert es: Durga reist durch die Zeit und findet sich im Jahr 1906 in India House wieder – im Körper eines jungen Mannes – und nennt sich selbst Sanjeev.

„Antichristie“ ist der neuste Roman der Schriftstellerin Mithu Sanyal und wird komplex auf mehreren Handlungs- und Zeitebenen erzählt, die einander nach und nach immer mehr durchdringen. Da ist auf der einen Seite die Gegenwart im Jahr 2022, in der Durga Diskussionen darüber führt, warum Hercule Poirot nicht auch Schwarz sein könnte. Auf der anderen Seite ist da die Vergangenheit im Jahr 1906 in India House, einer Unterkunft für indische Studenten in Großbritannien und Zentrum des antikolonialen Widerstands. Dann springen wir aber auch immer wieder in Durgas Vergangenheit, um die Beziehung zu ihrer Mutter, zu ihrem Mann Jack oder ihrer besten Freundin Nena zu ergründen.

Gekonnt verwebt die Autorin Fiktion mit Geschichte, denn vieles hat sich tatsächlich so in India House abgespielt. Im Körper von Sanjeev, aber noch mit ihrem eigenen Wissen und ihren Erinnerungen ausgestattet, lernt Durga historische Persönlichkeiten kennen. Im Zentrum steht dabei Savarkar, ein indischer Revolutionär, der zum Zeitpunkt der Handlung ebenso bekannt war, wie Gandhi. Mit ihm diskutiert sie über Themen wie gewaltfreien Widerstand und schließt zunehmend die Menschen in India House in ihr Herz. Als dann auch noch der britische Geheimdienstchef Curzon Wylie aus einem verschlossenen Raum im Haus verschwindet und Revolutionär Madan, den übrigens Durgas Mutter Lila sehr verehrte, seiner Ermordung verdächtigt wird, stellt sie selbst Ermittlungen an – mit der Hilfe von Sherlock Holmes.

„Antichristie“ ist sicherlich ein antikolonialer Roman, aber auch so vieles mehr: ein Locked Room Mystery, ein Füllhorn an Popkultur-Anspielungen, eine Geschichte über Trauer, über Cancel Culture, über studentisches Leben in India House, aber eben auch über Widerstand gegen den Staat und die Frage, was dieser darf und was nicht. Es ist aber vor allem eine Geschichte über Schmerz in all seinen unterschiedlichen Formen, die wir durch Durga/Sanjeevs Augen aus einer deutschen, indischen und britischen Perspektive erleben.

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Veröffentlicht am 19.09.2024

Interessanter Reihenstart!

Mord in der Charing Cross Road
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Sally Merton arbeitet als Buchhändlerin im Ladengeschäft der Gebrüder Heldar in der Charing Cross Road 200. Eines Abends kommt es zu einem Streit zwischen ihr und Butcher, einem der leitenden Angestellten. ...

Sally Merton arbeitet als Buchhändlerin im Ladengeschäft der Gebrüder Heldar in der Charing Cross Road 200. Eines Abends kommt es zu einem Streit zwischen ihr und Butcher, einem der leitenden Angestellten. Fred Malling, einer der Packer, mischt sich ein, es fallen einige unschöne Worte und Butcher stürmt wütend davon. Am nächsten Morgen wird er tot in seinem Büro aufgefunden und der Verdacht fällt sofort auf Fred. Doch Sally glaubt fest an seine Unschuld und macht sich gemeinsam mit Johnny Heldar, dem Juniorpartner, auf die Suche nach dem wahren Täter.

„Mord in der Charing Cross Road“ von Henrietta Hamilton ist der erste Band der Reihe um das Ermittlerduo Sally und Johnny und wurde bereits 1956 im Original veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung stammt von Dorothee Merkel. Die Handlung spielt nach dem zweiten Weltkrieg und wird aus der Perspektive der Protagonistin Sally in der dritten Person und der Vergangenheitsform erzählt. Neben dem eigentlichen Kriminalfall zeigt der Roman auch die unterschiedlichsten persönlichen Schicksale, welche die Belegschaft durch und nach dem Krieg erleiden mussten.

Neben dem Mord an dem unsympathischen Butcher gibt es für Sally und Johnny auch noch ein weiteres Mysterium zu lösen. Ein Geist, der seit dem 19. Jahrhundert im Haus spuken soll und eigentlich bereits ausgetrieben war, scheint plötzlich wieder aufgetaucht zu sein. Sally und Johnny tauschen gemeinsam Theorien und Hinweise aus, führen Befragungen durch und machen sich auf die Suche nach einer logischen Erklärung für die Geistersichtung. Dass sie sich dabei durchaus annähern, deutet schon der Untertitel der Reihe an.

„Mord in der Charing Cross Road“ ist ein unterhaltsamer, spannender Kriminalroman, der jedoch auch mit einigen Klischees arbeitet. Dem Handlungszeitraum irgendwann in den 50ern ist sicherlich zu verdanken, dass ein gewisses Frauenbild herrscht und auch die Kunden werden stereotyp dargestellt. Johnny, der im Zentrum steht, zeichnet sich zum Glück durch eine recht modernes, offenes Weltbild aus und behandelt Sally und sein gesamtes Umfeld mit Achtung. Ein interessanter Reihenstart!

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Veröffentlicht am 12.09.2024

Emotionaler Roman über Trauer und Schuld

Das Archiv der Herzschläge
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Nach dem Tod seiner Mutter reist der Kinderbuchillustrator Shūichi in seinem Heimatort, um sein Elternhaus zu renovieren und anschließend zu verkaufen oder zu vermieten. Vor Ort trifft er den achtjährigen ...

Nach dem Tod seiner Mutter reist der Kinderbuchillustrator Shūichi in seinem Heimatort, um sein Elternhaus zu renovieren und anschließend zu verkaufen oder zu vermieten. Vor Ort trifft er den achtjährigen Kenta, der immer wieder um das Haus schleicht und Gegenstände aus der Garage stiehlt, wo jede Menge wertlose Erinnerungsgegenstände gelagert sind. Shūichi erfährt, dass seine Mutter dem Jungen bei den Hausaufgaben half und beschließt, das selbst fortzuführen. Zwischen beiden entwickelt sich eine Freundschaft, doch etwas scheint Kenta zu belasten.

„Das Archiv der Herzschläge“ ist der dritte, im Deutschen erschienene Roman der italienischen Autorin Laura Imai Messina, die mit ihrer Familie in Tokio lebt. Die deutsche Übersetzung stammt von Viktoria von Schirach. Der Roman weist eine besondere Struktur auf und ist zunächst in drei Teile gegliedert, von denen jeder auf der Insel Teshima beginnt. Es wird hauptsächlich aus der Perspektive des Protagonisten Shūichi erzählt, immer wieder sind jedoch auch Kapitel eingeschoben, in denen zwei Jungen sich unterhalten, deren Identität erst im Verlauf der Handlung gelüftet wird.

Im Zentrum des Romans steht sicherlich das Thema Trauer und Verlust. Neben seiner Mutter hat Shūichi noch eine weitere Person in seinem Leben verloren, von seiner Ehefrau ist er geschieden. Darüber hinaus spielt natürlich auch der Titel gebende Herzschlag eine Rolle, denn auf der einen Seite hat das real existierende „Archiv der Herzschläge“ auf der Insel Teshima eine große Bedeutung für die Figuren und auf der anderen Seite ist Shūichi herzkrank. Im Verlauf der Geschichte wird er neue Beziehungen knüpfen und seinem Leben wieder einen Sinn geben.

„Das Archiv der Herzschläge“ ist ein sehr emotionaler Roman, dessen Enthüllungen im Laufe der Handlung wirklich berühren. Zudem lässt die Autorin Charaktere aus ihren beiden anderen Romanen auftreten, was eine schöne Verbindung schafft und quasi ein eigenes Universum erschafft. Wer schon ihren Roman „Die Telefonzelle am Ende der Welt“ mochte, wird diesen Roman sicher lieben und sofort Lust auf eine Reise zur Insel Teshima bekommen.

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Veröffentlicht am 11.09.2024

Eine Buchhändlerin in der Krise

Die einsame Buchhändlerin von Tokio
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Nach der Trennung von ihrem Mann fühlt Buchhändlerin Nanako Hanada sich einsam. Doch eines Tages erfährt sie von „ThirtyMinutes“, einer Dating-App, über die sich Menschen zu einem 30-minütigen Gespräch ...

Nach der Trennung von ihrem Mann fühlt Buchhändlerin Nanako Hanada sich einsam. Doch eines Tages erfährt sie von „ThirtyMinutes“, einer Dating-App, über die sich Menschen zu einem 30-minütigen Gespräch verabreden sollen. Das möchte auch Nanako ausprobieren und da Bücher nun einmal ihre Leidenschaft und Expertise sind, verspricht sie jedem Date am Ende einen persönlichen Buchtipp. Innerhalb eines Jahres trifft die Buchhändlerin so nicht nur jede Menge interessante Menschen, sondern beginnt auch, ihr eigenes Leben und ihre Ziele zu überdenken.

„Die einsame Buchhändlerin von Tokio“ ist die autobiografische Geschichte der Buchhändlerin Nanako Hanada; die deutsche Übersetzung stammt von Sabrina Wägerle. In insgesamt sieben Kapiteln sowie einem Pro- und einem Epilog schildert Hanada ihre seltsamen, unangenehmen, aber auch humorvollen oder emotionalen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Am Anfang zieht ihr Profil hauptsächlich eine bestimmte Sorte Männer an – vielleicht auch, weil sie sich selbst in der App als „sexy Buchhändlerin“ vorstellt. Dann folgen aber immer mehr bedeutsame Begegnungen, die zu beruflichen Kontakten oder Freundschaften führen.

Ich muss zugeben, dass ich mir etwas anderes unter diesem Buch vorgestellt hatte. Der japanische Titel lässt sich ungefähr übersetzen als „Im Laufe eines Jahres traf ich 70 Menschen auf einer Dating-Seite und empfahl ihnen Bücher, die zu ihnen passten.“ - und genau das ist Programm. Nanako Hanada trifft auf eine neue Person, es folgt ein 30-minütiges Gespräch und dann empfiehlt sie im Nachgang ein Buch. Ich hatte gehofft, dass das Thema der Literaturtipps mehr im Vordergrund stehen würde, aber tatsächlich geht es hauptsächlich um Hanadas Lebenskrise und die Frage, wie ihre weitere Zukunft aussehen soll.

Die Art und Weise, auf die „Die einsame Buchhändlerin von Tokio“ erzählt wird, machte es mir nicht ganz einfach, einen Bezug zur Protagonistin aufzubauen. Warum es genau zur Trennung von ihrem Mann gekommen ist, konnte ich nicht recht fassen und auch die berufliche Unzufriedenheit blieb für mich etwas schwammig.

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Veröffentlicht am 09.09.2024

Zauberhaftes Vorlesebuch

Lina und der Schnee-Engel
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Als die kleine Lina eines Nachts aufwacht, sieht sie zu ihrer Verwunderung einen Engel neben ihrem Bett. Der erzählt ihr, dass sie selbst ihn ins Leben gerufen hat, als sie im letzten Winter draußen einen ...

Als die kleine Lina eines Nachts aufwacht, sieht sie zu ihrer Verwunderung einen Engel neben ihrem Bett. Der erzählt ihr, dass sie selbst ihn ins Leben gerufen hat, als sie im letzten Winter draußen einen Schnee-Engel gemacht hat. Nun ist Lina krank und der Engel verspricht ihr, sie zu beschützen. Tatsächlich ist das Mädchen bald darauf wieder gesund, doch sie sehnt sich nach ihrem Schnee-Engel. Und so viel sie auch nach ihm ruft, er will einfach nicht auftauchen. Da schmiedet Lina einen aberwitzigen Plan, um den Engel aus der Reserve zu locken.

Die nordirische Autorin Maggie O‘Farrell ist bisher hauptsächlich für ihre Romane bekannt, so zum Beispiel für „Judith und Hamnet“ oder „Porträt einer Ehe“. Im Jahr 2020 erschien jedoch ihr erstes Kinderbuch „Lina und der Schnee-Engel“, das nun auch in deutscher Übersetzung von Kerstin Rabe vorliegt. Die wunderbaren Illustrationen stammen von der kroatisch-italienischen Künstlerin Daniela Jaglenka Terrazzini und sind im Inneren des Buches mit schimmernden Akzenten und auf dem Cover mit Silberfolie verziert, was dem Ganzen einen wertigen, künstlerischen Anstrich verleiht.

Erzählt wird die Geschichte von einem allwissenden Erzähler, der jedoch die ganze Zeit über bei Lina bleibt. Über das kleine Mädchen erfahren wir eigentlich nur, dass sie gesundheitlich etwas angeschlagen zu sein scheint, aber dennoch einen starken Willen und verrückte Ideen hat. Ihre Familie liegt ihr sehr am Herzen und so beschließt sie, dass auch sie alle einen eigene Schnee-Engel benötigen, aber leider lässt der Schneefall auf sich warten. Was nun?

„Lina und der Schnee-Engel“ ist eine zauberhafte Geschichte über Familie und eine unsichtbare Macht, die uns beschützt. Obwohl es sich hier um einen Engel handelt, ist die Geschichte jedoch nicht religiös aufgeladen, sondern erklärt dessen Existenz als eine Art Magie. Somit eignet sie sich für alle Kinder – und vielleicht besonders solche, die mit Ängsten zu kämpfen haben.

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