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Veröffentlicht am 02.11.2020

Spannend und trotz sprachlichen Schwächen sehr lesenswert

Der Glanz der neuen Zeit
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Inhalt:
Im zweiten Band der Speicherstadt-Sage ist gerade der erste Weltkrieg vorbei und Mina ist mittlerweile mit Frederik verheiratet und Mutter einer kleine Tochter. Obwohl es gerade nichts zu handeln ...

Inhalt:
Im zweiten Band der Speicherstadt-Sage ist gerade der erste Weltkrieg vorbei und Mina ist mittlerweile mit Frederik verheiratet und Mutter einer kleine Tochter. Obwohl es gerade nichts zu handeln gibt, fährt sie täglich ins Kontor, um dort nach dem Rechten zu sehen und wird dort von ihrer kleinen Schwester Agnes, die sie fortan öfter ins Kontor begleitet, auf die Idee gebracht, mit ihrem Schwiegervater Handel zu betreiben. Dieser hat schliesslich eine Kaffeeplantage und wäre somit die perfekte Quelle. Nur schade, dass Frederik, der immer noch als Soldat tätig ist, und sein Vater sich vor Jahren zerstritten haben.
Mina und ihr Schwiegervater werden sich aber handelseinig und die junge Frau beginnt, das Geschäft neu aufzubauen, was ihrem kontrollsüchtigen und verschwenderisch lebenden Ehemann gar nicht gefällt.

Meine Meinung:
Auch der zweite Teil der Speicherstadt-Saga liest sich nur so weg, was sicher an der Sprache liegt (dazu unten mehr), aber auch am Aufbau. Immer wieder kommt Spannung auf, zahlreiche Konflikte innerhalb der Familie entstehen und weitere Figuren kommen hinzu, die zuerst ihren eigenen Platz in der Geschichte finden müssen. Die Geschichte wirkt trotzdem nicht überladen, was mir sehr gut gefallen hat. In Hinblick auf den dritten Teil ist schon einiges angedeutet und einzelne offene Fragen warten noch darauf, beantwortet zu werden. Trotzdem endet der zweite Band nicht komplett verzettelt, sondern mit einem passenden Meilenstein für alle Figuren. Nur leider sind die letzten paar Seiten einen grossen Zeitsprung von der restlichen Handlung entfernt und einige Dinge sind mir und vielen anderen Teilnehmer:innen der Leserunde ein wenig zu schnell aufgelöst worden. Der Weg dahin wäre spannend gewesen und dem Buch hätten einige Seiten mehr gar nicht geschadet.
Ansonsten aber hat mir der zweite Band dieser Reihe wirklich gut gefallen und die Figuren haben es mir angetan. Sie alle sind äusserst liebevoll und einfallsreich beschrieben und haben ihren ganz eigenen Charakter. Allen voran natürlich Mina. Sie steht für sich ein, führt die Geschäfte, ist immer für ihre Freunde und ihre Familie da und muss sich zudem noch gegen ihren unnützen Ehemann behaupten. Aber auch ihre Grossmutter Hiltrud, die in diesem Band eine grosse Entwicklung durchmacht und ihre ein wenig angestaubten Prinzipien auch einmal hintenanstellt oder Minas Pensionatsfreundin Irma, die einen noch wichtigeren Part in Irmas Leben einnimmt, sind äusserst gelungen dargestellt. Minas Schwiegervater Paul, der sich als enorm herzlicher und vernünftiger Mann und somit als komplettes Gegenteil von Frederik herausstellt, sowie zwei alte Bekannte, die ebenfalls mehr und weniger erwartet auftauchen, sorgen für ordentlich Wirbel und einige spannende und herzerwärmende Momente und Minas Schwester Agnes ist zu einer jungen Frau herangewachsen, die ebenfalls beginnt, ihren eigenen Weg zu suchen, was mich sehr gefreut hat.

Sprache:
Auch schon im ersten Band habe ich den Fluss der Sprache gelobt. Das hat mir auch in "Der Glanz der neuen Zeit" sehr gefallen und ausserdem wird auch wieder Spannung erzeugt und die Szenen zwischen Mina und Frederik haben nicht nur mir Bauchschmerzen und grösstes Unwohlsein verursacht. So werden die verschiedensten Stimmungen eingefangen, die bei einzelnen Szenen gekonnt aufflackern gelassen werden. Nur gelingt dies nicht so konstant und andere Ereignisse, Formulierungen und Beschreibungen plätschern ein wenig gar unaufgeregt dahin. Die Sprache wirkt manchmal wie in einem typischen Wohlfühlroman, obwohl so viele nicht ganz einfache Themen behandelt werden.
Einzelne Wiederholungen, wie das omnipräsente Wort "patent" oder auch die oft wiederholte Phrase "ich traue ihm nicht weiter, als ich spucken kann", von Heiko, waren mir ein wenig zu viel des Guten. Ich denke, dass ein paar ausgewähltere Worte und passgenauere Formulierungen nicht nur dem Lesefluss sondern auch der Handlung gut getan hätten.
Ausserdem finden sich im Buch einige Aussagen, die ein wenig ins Nichts führen. Beispielsweise verspricht Mina ihrer Tochter, einen Schneemann zu bauen. Dieser wird dann gar nicht gebaut und die Geschichte geht einfach weiter. Auch geht es um Dinge, die Mina unbedingt hätte erfahren wollen, dazu hätte sie lediglich einige Briefe öffnen müssen, was sie aber nie getan hat. Es sind so kleine Details, die nicht immer etwas mit dem Fortgang der Handlung zu tun haben, aber nicht ganz schlüssig und stimmig wirken und deshalb den Eindruck vermitteln, da wäre nicht immer alles zu Ende gedacht oder ausformuliert worden.

Meine Empfehlung:
Einzelnen Abzügen in der Sprache und dem Aufbau zum Trotz ist dieser zweite Band der Reihe eine gelungene, spannende Fortsetzung, die ich gerne weiterempfehle. Vor allem deshalb, weil eine starke Protagonistin geschildert wird, die für sich einsteht und zahlreiche Hürden überwinden muss. Dies lässt tief in eine ganz andere, spannende Zeit blicken, in denen Frauen vieles vergönnt war, in der aber auch einige Umbrüche stattgefunden haben, die um so neugieriger auf den dritten Band der Reihe blicken lassen.

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Veröffentlicht am 28.10.2020

Perfekte Unterhaltung fürs Herz

Monsieur Thomas und das Geschenk der Liebe
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Inhalt:
Er ist Arzt und arbeitet seit vielen Jahren in der Nähe von Kriegsschauplätzen und mitten in Krisengebieten auf der ganzen Welt. Seit einiger Zeit hat er in einem kleinen Tal in Kaschmir eine zweite ...

Inhalt:
Er ist Arzt und arbeitet seit vielen Jahren in der Nähe von Kriegsschauplätzen und mitten in Krisengebieten auf der ganzen Welt. Seit einiger Zeit hat er in einem kleinen Tal in Kaschmir eine zweite Heimat gefunden, arbeitet dort als Dorfarzt und Vermittler und beteiligt sich aktiv am Dorfleben. Eher überraschend wird er von seinem besten Freund mit den Fotos einer jungen Frau konfrontiert, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten scheint und seine Tochter sein soll. Hals über Kopf reist er zurück in seine alte Heimat Paris und macht sich auf die Suche nach dieser jungen Frau und seiner damaligen grossen Liebe Céline, die er für seine Arbeit verlassen hat. Komplett überfordert mit den technologischen Neuerungen der letzten Jahre bewirbt er sich um eine Stelle als Altenheimdirektors und die gar nicht senilen Bewohner:innen des Heims stellen ihn nicht nur vor neue Herausforderungen, sondern erweisen sich auch als Lebensschule und Lebenshilfe der anderen Art.

Meine Meinung:
Schon länger ist es her, dass ich die drei anderen bei Goldmann erschienenen Bücher von Gilles Legardinier ("Julie weiss, wo die Liebe wohnt","Mademoiselle Marie hat von der Liebe genug" und "Monsier Blake und der Zauber der Liebe") verschlungen habe. Der Autor, der zuerst in der Filmbranche gearbeitet hat, hat einfach ein Händchen für charmant-schrullige Settings, die mit viel Humor, Lebensweisheit und wundervoll beschriebenen Figuren für feinfühlige und sehr romantische Unterhaltung sorgen. Man fühlt sich mitten in eine romantische Komödie aus Frankreich versetzt und kann abtauchen in eine Welt, in der die Menschen zueinander finden und sich gegenseitig Steine aus dem Weg räumen.
Dieses Buch ist nicht anders und obwohl sich alles einigermassen vorsehbar entwickelt (aber wann nicht in diesem Genre), hat mich vor allem der Humor sehr gut unterhalten. Die Szenen, wie die Bewohner:innen des Altersheim versuchen, ihre Bleibe zu retten und der Inspektorin vorgaukeln, zu krank zu sein, um umgesiedelt zu werden, sind auch einfach zu herrlich. Aber immer mal wieder erklingen auch leise und poetische Töne und gerade die Szenen, in denen Thomas sich um seine Tochter Emma sorgt oder ihrem Freund hilft, sie erneut zu erobern, sind herzerwärmend und sehr berührend gestaltet.
Ich kann mir gut vorstellen, dass man ein wenig in der Stimmung für diese Art von Literatur sein muss, aber für mich war das gerade eine perfekte, unterhaltsame, tiefsinnige und intelligente Lektüre fürs Herz.


Meine Empfehlung:
Dieses Buch ist wie spezielle Praline. Zartbitter, sehr süss und vielleicht hat es sogar eine salzige Note. Es unterhält bestens, portraitiert liebevoll sehr schrullige, aber liebenswerte Menschen und erwärmt von innen heraus den Körper und die Seele. Von mir gibt es für diese romantische Komödie eine sehr herzliche Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 21.10.2020

LEST DIESES BUCH

Ich bin Linus
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Inhalt:
Manchmal sind wir uns selber ein Gefängnis. Manchmal sehen wir nicht das in uns, was andere schon lange erkannt haben. Und manchmal wissen wir nicht, dass es möglich ist, unsere tiefsten Träume ...

Inhalt:
Manchmal sind wir uns selber ein Gefängnis. Manchmal sehen wir nicht das in uns, was andere schon lange erkannt haben. Und manchmal wissen wir nicht, dass es möglich ist, unsere tiefsten Träume und Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen und uns neu zu erschaffen. So ist es Linus ergangen. Linus, der - wie so viele von uns - von Geschlechterrollen geprägt ist. Mädchen können im Einkaufszenter zwischen Spielwaren und Kleidung in pink und lila wählen, Jungs bleiben grün und blau vorbehalten. Männer benehmen sich so, Frauen halt anders. Dass man diese Bilder aufbrechen kann, mit den Rollen und Attributen spielen darf und soll, das wird vielen von uns, die sich in ihrem - von Geburt an von der Aussenwelt zugeschriebenen - Geschlecht wohl fühlen und vielleicht sogar noch weiss und heterosexuell sind, gar nie klar. Und was es bedeutet, diesen Schritt zu wagen und sich auf die Suche nach sich selber und einem ganz neuen Frauen- oder Männerbild und den zahlreichen Kombinationen und Möglichkeiten dazwischen zu machen und dies darüber hinaus noch in die Öffentlichkeit zu tragen, können sich viele von uns nicht annähernd vorstellen. Aber Linus hat es getan. Linus ist der Mann geworden, der er schon immer war und durch die Dokumentation seines Weges in den sozialen Medien und nun auch in Buchform ist er nicht nur verletzlich und angreifbar, sondern gleichzeit und vielmehr genau das Vorbild für zahlreiche Menschen geworden, das er sich als Kind gwünscht hätte.

Über Linus:
Es freut mich sehr, dass ich Linus seit eingen Jahren von Instagram kenne und auch seinem Buchblog schon länger folgen darf. Seine Buchtipps sind Gold wert und blicken stets über den heteronormativen Tellerrand hinweg, was ich natürlich nicht nur als Pädagogin sondern einfach nur als Mensch als um so bereichernder empfinde. Sehr gerne wollte ich deshalb auch "Ich bin Linus" lesen und kann selber kaum glauben, dass ich das Buch - abgesehen von den letzten dreissig Seiten, die ich dann gestern noch gelesen habe - innerhalb eines (vollen) Arbeitstages verschlungen habe.

Meine Meinung:
"Ich bin Linus" ist ein positives Buch, das einen nicht ganz einfachen Weg zeigt, aber ermutigt, diesen Weg um jeden Preis zu gehen und sich dadurch selber zu befreien. Linus berichtet aber auch über unschöne Seiten seines Weges, beispielsweise über die Ablehnung, die er durch die Aussenwelt aber auch manchmal sich selber erfahren hat, die Hasskommentare, die Verfolgung und auch die Gewalt mit der trans Menschen immer noch begegnet wird. Dies hat mich tief berührt und sprachlos gemacht und bei den Seiten, in denen Linus über sein Datingverhalten spricht, wollte ich ihn einfach nur in den Arm nehmen und sagen "du bist gut, du bist genug, du hast alles Glück und alle Liebe der Welt verdient".
Sehr informativ werden ausserdem Behördengänge, medizinische Möglichkeiten und Tipps und Tricks für den Alltag beschrieben. Was sich an Regeln und Gesetzen so absurd und skurril liest, ist für zahlreiche Menschen, die sich mitten in ihrer körperlichen und/oder sozialen Transition befinden, bittere und alltägliche Realität. Diese Diskriminierung muss wirklich ein Ende haben. Ist es denn so schwierig, Menschen in ihrem eigenen Werden und Sein zu unterstützen? Linus macht es uns besonders einfach (was zusätzlich zum packenden Stil für diese Lektüre spricht): er liefert praktische Tipps, wie man sich sprachlich richtig ausdrücken, für trans Menschen einen sicheren Hafen schaffen und sie auf ihrem Weg unterstützen kann. Ausserdem finden sich im Anhang noch weiterführende Buchtipps.

Meine Empfehlung:
Dieses Buch zeigt auf, was es bedeutet, in Deutschland trans zu sein. Was es bedeutet, einen so grossen und wichtigen Schritt auf sich selber zuzugehen und wie sehr Intoleranz und Diskriminierung im sich selbt als fortschrittlich bezeichnenden Westeuropa immer noch unsere Sprache, eine medizinische Routinekontrolle, unsere öffentlichen Gebäude, unser Verhalten und unsere Denkmuster prägen. Abgesehen davon, dass Linus ein wundervoller Mensch ist und dass es sich lohnt, ihm zuzuhören (egal, über was er spricht), hilft dieses Buch auch, sich alltäglichen Denk- und Verhaltensmuster bewusst zu werden und diese aufzubrechen, um Raum für mehr Akzeptanz und Sicherheit zu schaffen.

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Veröffentlicht am 18.10.2020

Kritisch und äusserst unterhaltsam

Die Ladenhüterin
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Inhalt:
Keiko ist anders. Sie wirkt auf andere Menschen speziell und weiss oft nicht, wie sie sich gegenüber ihren Mitmenschen verhalten soll. Also hat sie sich sorgfältig die Umgangsformen ihrer Mitarbeiter:innen ...

Inhalt:
Keiko ist anders. Sie wirkt auf andere Menschen speziell und weiss oft nicht, wie sie sich gegenüber ihren Mitmenschen verhalten soll. Also hat sie sich sorgfältig die Umgangsformen ihrer Mitarbeiter:innen angeeignet, deren Körpersprache, Stimmlage und Wortwahl kopiert und schafft es so, sich perfekt in ihre Position als Aushilfsverkäuferin in einem kleinen Supermarkt einzugliedern. Die Arbeitsabläufe, die festgelegten Höflichkeitsformen und die immer gleichen Tätigkeiten und Floskeln geben ihrem Alltag Struktur. Sie ist vielleicht sogar glücklich und sieht einen Sinn in ihrem Leben. Doch die anhaltenden Fragen nach einem Mann und Kindern sowie einem "richtigen Beruf" ihres Umfeldes bringen sie ins Zweifeln und sie beschliesst, sich einen Mann ins Leben zu holen, der ihr schönes, über Jahre hinweg aufgebautes System, sich in der Gesellschaft zu bewegen, durcheinander bringt.

Meine Geschichte als Verkäuferin:
Schon wieder habe ich durch Marias Lesekreis einen buchigen Schatz entdecken dürfen und ich habe das Buch auch noch rechtzeitig gelesen, heute nämlich findet unter diesem Post die (spoilerfreie) Schlussdiskussion statt. Schaut da also gerne vorbei.
Gleich die ersten Sätze haben mich total in ihren Bann gezogen und ich habe mich an meine Zeit als Verkäuferin in der Bäckerei zurückerinnert. Drei Jahre lang habe ich während des Gymnasiums und den ersten zwei Studienjahre dort gejobbt, immer mehr Verantwortung übernommen und vor allem in den Semesterferien im Sommer fast Vollzeit und ansonsten an jedem Wochenende und Feiertag dort gearbeitet und so die dem Geschäft eigenen Abläufe verinnerlicht und die aberwitzigsten Erfahrungen mit Kund:innen und Mitarbeiter:innen gemacht. Eine Szene in Muratas Buch - die Szene, in der Keiko noch von der Arbeit träumt und von ihrer eigenen Stimme, die "herzlich willkommen" ruft, erwacht - hat mich so sehr an mich selber erinnert. Gerade in den Semesterferien, wenn ich manchmal zehn oder zwölf Wochen fast oder ganz Vollzeit in der Bäckerei gearbeitet (und daneben unterrichtet, geübt, Konzerte gespielt, für Prüfungen gelernt, Nachhilfe gegeben, gebabysittet und Arbeiten geschrieben) habe, bin ich irgendwann komplett am Ende meiner Kräfte davon erwacht, wie ich massenweise Croissants (in der Schweiz natürlich "Gipfeli") in zahlreiche Tüten gepackt habe. Ich sass im Bett und habe mit meinen Händen die Bewegungen des Einpackens gemacht. Dann wusste ich jeweils, dass es wieder Zeit für eine Pause war und habe mein Pensum zurückgefahren.

Meine Meinung:
Aber auch abgesehen von meinem persönlichen Wiedererkennungswert habe ich dieses äusserst gesellschaftskritische Buch sehr gerne und heute innerhalb von kürzester Zeit verschlungen. In "Die Ladenhüterin" wird vor allem der von aussen forcierte Drang, sich sowohl im beruflichen als auch privaten Bereich nahtlos in die Gesellschaft einzugliedern, thematisiert. Es scheint mir, wenn ich mir andere Kritiken und vor allem auch andere Literatur aus Japan anschaue, ein Drang zu sein, der in Japan noch mehr vorherrscht, als hier. Die Haltung, dass man der Gesellschaft - vor allem als Frau - nur dienlich ist, wenn man sich entweder fortpflanzt und/oder einem wichtigen Beruf nachgeht, lässt sich natürlich auch in der Schweiz und den umliegenden Ländern finden, aber es scheint mir so, als würde diese fast schon zwanghafte Eingliederung eines jeden Individuums in das vorherrschende einheitlich machende System in Japan noch einmal ganz andere Züge annehmen.
Und hier kommt Keiko ins Spiel. Keiko, die nicht versteht, warum man um einen verstorbenen Vogel trauern muss, wenn man ihn doch auch einfach essen kann und Keiko, die schon wüsste, wie sie ihren schreienden Neffen zum Verstummen bringen würde und dabei wäre nicht endloses Schaukeln, sondern vielmehr ein Messer die Lösung. Aber Keiko ist nicht grausam, vielmehr ist sie über alle Massen praktisch veranlagt. Und diese Veranlagung lässt sie auch zur logischen Überlegung kommen, dass ein Mann im Haus die Fragen nach einem Mann im Haus würde verstummen lassen. Dass dies natürlich nicht aufgeht und vor allem ihr sorgsam und seit Jahren bewährtes System durcheinander bringt, stellt sie vor neue Herausforderungen, welchen sie mit dem ihr eigenen Pragmatismus, Verstand und ihrer Leidenschaft für den Beruf begegnet.

Schreibstil:
Kurze, prägnante Sätze, die dennoch genau beschreiben, was vor sich geht und auch viel zwischen den Zeilen lesen lassen, machen den Schreibstil dieses Buches aus. Sayaka Murata trifft mit ihrer Sprache mitten ins Herz und schafft eine Protagonistin, die man - ein wenig schrullig hin oder her - einfach lieben muss. Die Übersetzerin Ursula Gräfe, die ja auch für ihre Murakami-Übersetzungen bekannt ist, hat ganze Arbeit geleistet und wundervolle Worte für dieses erfrischende und kritische Buch gefunden.

Meine Empfehlung:
Ich empfehle euch dieses herzerwärmende, zum Schmunzeln und Nachdenken bringende Buch, das so liebenswert erzählt, wie sich das Leben als eigentlich glückliche Aussenseiterin in einer nach Vereinheitlichung schreienden Gesellschaft anfühlt, sehr gerne weiter.

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Veröffentlicht am 17.10.2020

Zu brav, zu stereotyp

Mängelexemplar
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Inhalt:
Karo hat schon einige Schicksalsschläge hinter sich, steckt in einer unglücklichen Beziehung fest und verliert ihren Job. Ihre Trauer und Angst lähmen sie und sie beginnt, ihr Leben zu sortieren, ...

Inhalt:
Karo hat schon einige Schicksalsschläge hinter sich, steckt in einer unglücklichen Beziehung fest und verliert ihren Job. Ihre Trauer und Angst lähmen sie und sie beginnt, ihr Leben zu sortieren, sich Hilfe zu holen und sich von Dingen und Menschen, welche sie unglücklich machen, zu trennen. Zur Angst kommen Panikattacken hinzu und Karo realisiert, dass die Psyche nicht eine Wohnung ist, die man einfach abstauben und umräumen kann und schon ist alles wieder gut. Um tiefe und alte Wunden heilen zu lassen, braucht es mehr Zeit und Unterstützung, als sie erwartet hat. Und auf diesem Weg begleiten wir sie ein Stück.

Meine Meinung:
So gut und spannend dieses Buch auch klingt und so wichtig es auch ist, über psychische Erkrankungen zu lesen, sprechen und schreiben, so unpassend erscheint mir "Mängelexemplar" als Grundlage für den Austausch über dieses wichtige Thema. Das Buch war mir zu brav, zu oberflächlich, zu stereotyp und ein wenig zu gewollt provokativ. Der Stil erinnert sehr stark an eine Mischung aus "Axolotl Roadkill" und "Drüberleben". Einerseits gewollt überspitzt, was die Schilderungen der psychischen Erkrankung anbelangt und andererseits gekünstelt intellektuell, wenn es um den sprachlichen Ausdruck geht. Radikal war das nicht, eher ermüdend. Als tieftraurig und leidenschaftlich habe ich "Mängelexemplar" ebenfalls nicht erlebt, eher ähnlich brav wie "Schäfchen im Trockenen". Es stört mich sehr, dass dieser Schreibstil anscheinend ein Merkmal für zeitgenössische Literatur vor allem von Frauen sein soll (auf der Seite des Verbrecher Verlags finden sich Hinweise darauf in den Pressestimmen) und ich frage mich wirklich, ob es die Idee sein soll, dass man in der zeitgenössischen, Missstände anprangernden Literatur (vor allem als Frau) über ernste, anspruchsvolle Themen nur noch gewollt provokativ, ein wenig derb aber trotzdem gerade noch brav genug, dass sich niemand auf den Schlips getreten fühlt, schreiben darf. Wenn jemand Wut und Schmerz ausdrücken will, soll diese Person doch wütend und schmerzvoll schreiben. Gerne düster, brutal, heftig, aber - wenn es der Person besser entspricht - auch melancholisch, leise und zart. Dieser nichtssagenden Einheitsbrei, bei dem irgendwie jedes Buch, zu dem ich aktuell greife, ähnlich klingt, ist mir leider zu undifferenziert, was schade ist, weil so Themen, die mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten oder auch Autor*innen, welche gelesen werden sollten, in der Masse untergehen.

Mein Fazit:
Das Buch kommt in den offenen Bücherschrank, weil ich mir sicher bin, dass es jemand anderem viel besser gefallen wird als mir. Es ist nicht schlecht geschrieben, es ist nicht langweilig, aber es ist ein wenig nichtssagenden, was schade ist, weil das sehr viel Potenzial auf der Strecke geblieben ist.

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