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Veröffentlicht am 09.01.2023

Spannende Spurensuche in der Familiengeschichte

Saubere Zeiten
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Jakob Auber, Journalist in Berlin und Enkel eines ehemals reichen Waschmittelfabrikanten, fährt zu seinem im Sterben liegenden Vater nach Hause in seine alte Heimat Trier. Der Kontakt ist seit Jahren lose, ...

Jakob Auber, Journalist in Berlin und Enkel eines ehemals reichen Waschmittelfabrikanten, fährt zu seinem im Sterben liegenden Vater nach Hause in seine alte Heimat Trier. Der Kontakt ist seit Jahren lose, die Mutter tragisch früh verstorben,  die Verhältnisse innerhalb der Familie von Sprachlosigkeit geprägt. Über das Vermächtnis seines Vaters wird er mit der Geschichte seiner Familie im Dritten Reich, der Nachkriegszeit und der Zeit des Wirtschaftswunders konfrontiert. Er macht sich auf Spurensuche und taucht ein in eine Geschichte aus Opportunismus und Verdrängung, Aufstieg und Niedergang, Schuld und Sühne, Liebe und Verlust und kommt dunklen Geheimnissen auf die Spur.

Der Roman ist spannend geschrieben und eng verbunden mit der deutschen Geschichte in den 30er bis 50er Jahren. Nach anfänglicher Begeisterung wurden meine hohen Erwartungen leider nicht ganz erfüllt. Die Dialoge empfand ich häufig als platt und inhaltsleer. Der Protagonist und sein ständiger Alkoholkonsum wurden mir im Verlauf des Buches immer fremder und seinen besten Freund Ben empfand ich als oberflächlich und unsympathisch. Umso gelungener fand ich die Zeichnung seines Vaters Hans, der mir sehr ans Herz wuchs und dessen Schmerz und Einsamkeit ich sehr gut mitfühlen konnte.

Das Vorgehen von Jakob Auber bei seinen Nachforschungen erscheint mir erstaunlich unstrukturiert für einen studierten Journalisten. Er geht nur die Dokumente im Archivzimmer des Vaters durch und stellt keine weiteren Recherchen an. Ich hätte erwartet, dass er über Behörden, die örtliche jüdische Gemeinde und offizielle historische Archive zumindest versucht, mehr darüber herauszufinden, was mit dem Ehepaar Stein passiert ist und wie die genauen Umstände der Enteignung waren. Auch dass er die Schlüsselfigur Bella nicht googelt oder telefonisch kontaktiert oder überhaupt in Erfahrung bringt, ob sie noch lebt, bevor er nach Rio fliegt, wirkt auf mich etwas seltsam. 

Die Geschichte ist in Teilen sicher die Geschichte vieler Familien im Deutschland der damaligen Zeit. "Saubere Zeiten" greift die Schatten der Vergangenheit gekonnt auf, bleibt aber stellenweise zu sehr an der Oberfläche. Ich hätte mir manchmal noch mehr Tiefgang gewünscht und auch einen ausführlicheren und tiefer gehenden Austausch zwischen Jakob und Bella. 

Der Roman bietet insgesamt eine interessante und lesenswerte Geschichte, die zum Nachdenken anregt und mich dazu gebracht hat, über meine eigene Familie und das, was letztlich bleibt, zu reflektieren.

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Veröffentlicht am 21.09.2024

skurriles Buch mit teils verstörender Thematik

Sturm überm Winkelhaus
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Ich muss sagen, dass es mir selten so schwer fällt, eine Rezension zu schreiben, wie bei diesem Buch, da ich den Eindruck habe, dass die Geschichte sowohl bei den Eltern als auch den Kindern sehr unterschiedlich ...

Ich muss sagen, dass es mir selten so schwer fällt, eine Rezension zu schreiben, wie bei diesem Buch, da ich den Eindruck habe, dass die Geschichte sowohl bei den Eltern als auch den Kindern sehr unterschiedlich aufgenommen werden könnte und möglicherweise polarisiert. Anhand der Kurzbeschreibung hatte ich etwas völlig anderes erwartet, und die Auszeichnung mit diversen Preisen in Norwegen hat mich neugierig gemacht. Das sehr farbenfrohe Cover deutet auf ein eher harmloses Kinderbuch hin.

Sam, Gabriel und Fleming Brattbakk ziehen mit ihrer Mutter nach Gørja, eine Stadt, in der es alle paar Jahre zu einem merkwürdigen Wetterphänomen kommt. Über Wochen stürmt es, und jedes Mal verschwinden dabei auf unerklärliche Weise Kinder. Kurz nachdem die Brattbakks dort angekommen sind, zieht wieder ein Sturm auf und ein Junge verschwindet. Zudem stellt Sam fest, dass sich ihre Mutter zunehmend merkwürdig benimmt. Sie wirkt kontrollsüchtig, überwacht ihre Kinder, achtet zwanghaft auf deren Fitness- und Ernährungszustand, verabreicht sogar Anabolika

Die Atmosphäre im Buch wird immer beklemmender, und Sam entwickelt Angst vor ihrer Mutter. Nun tritt im Buch ein Thema in den Vordergrund, das ich in einem Kinderbuch ab 10 Jahren nicht erwartet habe. Normalerweise achte ich sehr darauf, in einer Rezension nicht zu spoilern. Ich habe mich jedoch dazu entschieden, hier zumindest ansatzweise darauf einzugehen, da dieses Thema möglicherweise nicht für alle Kinder geeignet ist: Es geht um Kannibalismus, da Sam zunehmend davon überzeugt ist, dass ihre Mutter Kinder isst bzw. diese den Geschwistern als Mahlzeit vorsetzt, und auch sie und ihre Geschwister verspeisen möchte. Zweideutige Aussagen und merkwürdige Geschehnisse lassen dies möglich erscheinen. Auch das Töten und Verspeisen eines Haustieres durch die Mutter wird angedeutet. Beides hat meinen Sohn (10) sehr verstört, und ich bin froh, dass wir das Buch gemeinsam (vor-)gelesen haben, so dass ich mit ihm über alles sprechen konnte. Kannibalismus war ihm bis dahin noch kein Begriff, und es hat ihn sichtlich aufgewühlt.

Ich war nach dem Buch sehr zwiegespalten. In einem ersten Impuls empfand ich das Buch als ungeeignet für 10-Jährige, andererseits sind Kinder oft sehr fantasievoll und malen sich düstere Dinge aus, die sich vielleicht auch in diesem Buch spiegeln. In jedem Fall ist es stellenweise sehr makaber und skurril. Ich habe meinen Sohn zu seiner Meinung befragt, und er würde das Buch nicht nochmal lesen wollen. Das Thema Kannibalismus befremdete ihn, er vermisste zudem eine echte Handlung und meinte, es würde im Buch zu wenig passieren, so dass es eigentlich auch nicht spannend sei. Ich verstehe, was er meint, in gewisser Weise dreht sich alles um Sams Verdacht, aber die äußere Handlung tritt auf der Stelle. Zudem scheinen uns die Charaktere auch wenig plausibel zu handeln: Angesichts von Sams ungeheurem Verdacht isst sie relativ ungerührt von den Fleischmahlzeiten.

Mein Sohn liest sehr gerne altersgemäße Fantasy-Literatur, auch „Harry Potter“, „Keeper of the Lost Cities“, „Die Insel der wandernden Flüche“ und ähnliches, und ich würde ihn nicht als besonders ängstlich bezeichnen. Angesichts unserer Eindrücke kann ich dieses Buch nicht uneingeschränkt für Kinder ab 10 Jahren empfehlen, und ich bin doch etwas verwundert darüber, dass es mit dem norwegischen Pendant des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet wurde. Interessanterweise wird im Buch Roald Dahls Werk „Hexen hexen“ kurz genannt, und auch Dahls Kinderbücher weisen teils makabre und verstörende Züge auf.

Insgesamt konnte uns das Buch leider nicht überzeugen, und ich hätte es meinen Sohn nicht guten Gewissens alleine lesen lassen.

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Veröffentlicht am 18.07.2024

Leider enttäuschend

Elsie und das Karibu
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Elsie ist 10 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater und ihrer älteren Schwester Desiree zusammen, ihre Mutter ist aus nicht näher genannten Gründen seit Kurzem „verschwunden“. Bei der Wohnungsauflösung eines ...

Elsie ist 10 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater und ihrer älteren Schwester Desiree zusammen, ihre Mutter ist aus nicht näher genannten Gründen seit Kurzem „verschwunden“. Bei der Wohnungsauflösung eines Bekannten der Familie, der ins Seniorenheim zieht, sucht sich Elsie den ausgestopften Karibukopf aus, der fortan an der Wand ihres Zimmers hängt und zu ihrer Überraschung mit ihr spricht. Als Elsie sich auf die Suche nach ihrer Mutter macht, steht ihr das Karibu mit Rat zur Seite.

Die Familiensituation wirkte von Anfang an sehr merkwürdig auf mich. Der Vater verschweigt, weshalb die Mutter „verschwunden“ ist, eine echte Kommunikation in der Familie findet nicht statt. Elsie sollte mit zehn Jahren alt genug sein, die Wahrheit zu verstehen, wenn sie ihr altersgerecht vermittelt wird. Die Figuren wirken allesamt sehr oberflächlich, so dass es mir schwerfiel, eine emotionale Beziehung zu ihnen aufzubauen. Elsie handelt derart naiv und unwissend, dass es für eine Zehnjährige äußerst unglaubwürdig wirkte und zunehmend nervig war. Sie wirkte auf mich wie eine Erstklässlerin. Mein Sohn, ebenfalls zehn Jahre alt, hat das Buch nach einem Drittel abgebrochen, da er Elsie zu „kindisch“ fand.

Leider wird nicht erklärt, warum das Karibu, das Elsie bereits seit Jahren kennt, plötzlich sprechen kann. Elsie nimmt das nach anfänglichem kurzem Erstaunen auch einfach so hin. Die Bemerkungen und Ratschläge des Karibus sind teilweise durchaus humorvoll formuliert, konnten die Geschichte letztendlich jedoch auch nicht retten.

Das Buch enthält einige schwarzweiße Zeichnungen, die leider ebenfalls nicht unseren Geschmack trafen. Sie wirken sehr flüchtig hingekritzelt und teilweise unpassend. So sieht der jugendliche Freund der Schwester wie ein Mann Mitte 40 aus.

Insgesamt hat das Buch unsere Erwartungen nicht erfüllt. Zehnjährige Kinder, die bereits an deutlich komplexere Geschichten mit intelligenten Charakteren und elaborierten Plots gewöhnt sind, werden mit diesem Buch leider deutlich unterfordert.

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Veröffentlicht am 23.05.2024

Leider enttäuschend und sachlich ungenau

Die kurze Stunde der Frauen
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Anhand der Kurzbeschreibung hatte ich eine tiefgehende, stichhaltig begründete und differenzierte Analyse der Lebensrealität der Frauen in der Nachkriegszeit und deren Auswirkungen auf das Geschlechterverständnis ...

Anhand der Kurzbeschreibung hatte ich eine tiefgehende, stichhaltig begründete und differenzierte Analyse der Lebensrealität der Frauen in der Nachkriegszeit und deren Auswirkungen auf das Geschlechterverständnis erwartet. Leider wurde ich enttäuscht. Miriam Gebhardt räumt zwar mit dem Mythos der Trümmerfrauen auf (dies ist allerdings nicht neu), bleibt aber analytisch doch sehr an der Oberfläche. Es fehlt ein stringenter roter Faden, und vieles wiederholt sich in den Kapiteln, zum Teil sogar wortwörtlich. Dem wichtigen Aspekt der Schuldfrage bzw. dem Unschuldsmythos der deutschen Frauen widmet sie leider nur ein kurzes Kapitel. Hier hatte ich mir eine deutlich ausführlichere Auseinandersetzung erhofft.
Auch mit Miriam Gebhardts Herangehensweise konnte ich mich nicht anfreunden. Besonders stört mich, dass sie von der aktuellen Warte der Emanzipation heraus urteilend auf die Frauen der Nachkriegszeit blickt. Dies klingt teilweise herablassend und geht für mich an der damaligen Lebensrealität der normalen Bevölkerung unmittelbar nach Kriegsende vorbei: „Der Lohn der Frauen war nicht die Karriere, nicht einmal die gleiche Bezahlung, wenn sie arbeiten gingen, sondern die Würdigung als Überlebenskünstlerinnen. Sie ließen sich davon überzeugen, dass sie beim Einkochen, beim Feilschen auf dem Schwarzmarkt und bei ihren viele km langen Märschen mit schweren Rucksäcken Bedeutendes leisteten.“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwa im Hungerwinter 1946/47 potentielle Karrieremöglichkeiten für die durchschnittliche Frau maßgeblich waren, und ich sehe ihre Leistung, die Familie unter widrigsten Umständen durchzubringen, durchaus als bedeutend an.
Einige Stellen klingen doch sehr bemüht feministisch, beispielweise wenn die Autorin den Umstand, dass zum Trümmerräumen Frauen vor allem dann zwangsverpflichtet wurden, wenn sie in der NSDAP oder anderen NS-Organisationen politisch aktiv waren, kommentiert mit: „Als müssten sie sich, weil sie sich vermeintlich männlich verhalten hatten, auch männlich im Ertragen der Sühnemaßnahme zeigen.“
Als wirklich ärgerlich empfinde ich, dass Gebhardt zur Unterstützung ihrer Thesen häufig einseitig argumentiert und dabei relativierende Fakten unter den Tisch fallen lässt. So schreibt sie beispielsweise: „Die jungen Frauen müssen die neuen Frauenpflichten, die das NS-Regime verordnet - wie den Reichsarbeitsdienst, den Sanitätsdienst oder Haushaltsausbildungen - in ihre Laufbahn einbauen.“ Hier suggeriert der Begriff „Frauenpflichten“ eine einseitige Belastung der Frauen, doch der Reichsarbeitsdienst ab 1935 galt für beide Geschlechter – er war für junge Männer verpflichtend und für Frauen bis 1939 freiwillig. An anderer Stelle heißt es: „Das Schicksal der oft vaterlos aufgewachsenen Frauen und der Kriegerwitwen, die meistens auf eine tragische Art und Weise miteinander verstrickt waren, stand den Babyboomern als Menetekel vor Augen. (…) Vor diesem Hintergrund – der Weitergabe von Einstellungen zwischen den Generationen – ist meines Erachtens die weltweit unvergleichlich hohe weibliche Teilzeitquote in Deutschland, sprich: die zögerliche Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben, noch immer eine Folgeerscheinung der Nachkriegszeit.“ Hier bleibt unerwähnt, dass in Europa die weibliche Teilzeitquote heute in Österreich, den Niederlanden und der Schweiz deutlich höher ist als hierzulande. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg durchaus relevant, da es der These des Buches zuwiderzulaufen scheint. Ferner spielen für die „Beliebtheit“ der Teilzeitarbeit bei Frauen neben traditionellen Normen noch weitere Faktoren eine Rolle, etwa die konkrete Ausgestaltung des Arbeitsrechts, der Sozialversicherung und die Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Auch die Stundenzahl, die unter Vollzeit verstanden wird, variiert innerhalb Europas stark.
Ebenfalls deutliche Unstimmigkeiten weisen die Fallbeispiele im Buch auf. In Kapitel 5 bezieht sich Gebhardt auf ein Klassenbuch von Abiturientinnen aus dem Jahr 1932: Im Abschnitt „Hoch abgesprungen …“ schreibt sie zunächst, dass Ilse mit dem Tod ihres Mannes im Krieg fertigwerden musste. Später in „Verkäuferinnen“ steht jedoch, dass sich Ilse und ihr Mann nach dem Krieg aufgrund der langen Trennung auseinandergelebt hatten und sich dann trennten. Auch das Fallbeispiel um Bernhardine S. in Kapitel 9 weist bezüglich Alters- und Jahresangaben gleich drei Widersprüche auf. Diese Schludrigkeiten lassen bei mir Zweifel an der Sorgfalt der Quellenarbeit aufkommen. Ebenfalls sehr ärgerlich ist, dass in vielen Fallbeispielen die Quelle nicht wörtlich zitiert, sondern bereits zusammengefasst und interpretiert wiedergegeben wird. So kann ich mir als Leser*in kein eigenes Bild machen. In der Kurzbeschreibung ist davon die Rede, dass Gebhardt für dieses Buch „in bis dahin unerreichter Dichte Selbstzeugnisse von Frauen ausgewertet“ hat. Leider geht nirgendwo hervor, wie viele Quellen hierfür wirklich herangezogen wurden. Die Zahl der im Buch aufgeführten Fallbeispiele ist jedoch recht überschaubar.
Insgesamt bleibt das Buch weit hinter meinen Erwartungen zurück. Neue Erkenntnisse konnte ich kaum daraus gewinnen. Die Informationen zu den bekannten politisch prägenden Frauen wie Elisabeth Schwarzhaupt und den vier weiblichen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates waren mir bereits bekannt. Aufgrund zahlreicher Unstimmigkeiten und vieler schwammiger und eher oberflächlicher Aussagen kann ich das Buch leider nicht empfehlen.

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Veröffentlicht am 30.04.2024

Oberflächlicher als erwartet

Sorry not sorry
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Die Leseprobe zu „Sorry, not sorry“ klang äußerst vielversprechend, und als Frau habe ich mich selbst schon oft genug über mich geärgert, wenn mir klar wurde, wie häufig ich mich vorauseilend für irgendetwas ...

Die Leseprobe zu „Sorry, not sorry“ klang äußerst vielversprechend, und als Frau habe ich mich selbst schon oft genug über mich geärgert, wenn mir klar wurde, wie häufig ich mich vorauseilend für irgendetwas entschuldige, mich schäme oder mich zurücknehme, um andere nicht zu verletzen oder die vermeintliche Harmonie nicht zu gefährden. In den letzten Jahren habe ich begonnen, ganz bewusst diese Verhaltensweisen abzulegen, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Ich hatte mir von diesem Buch tiefere Einblicke in die gesellschaftlichen, politischen, soziologischen und kulturellen Hintergründe erhofft, die diesem meist typisch weiblichen Verhalten zugrunde liegen, und auch konkrete Ansätze, dieses zu verändern. Leider bleibt Anika Landsteiner argumentativ doch sehr an der Oberfläche, und mir fehlt ein tiefgründiger, wissenschaftlich fundierter Ansatz, der zu einem höheren Erkenntnisgewinn führt. Stattdessen reiht sie Altbekanntes aneinander, setzt den Fokus auf bereits hinreichend durchgenudelte Themen wie Schönheitsideale, die Konsumindustrie oder die Darstellung klassischer Geschlechter- und Beziehungsrollen in Film und Fernsehen. Da ich quasi nie fernsehe, schon gar nicht die von ihr aufgeführten Reality-Formate oder Serien wie „Sex and the City“, waren diese Kapitel für mich komplett uninteressant. An vielen Stellen tritt die Thematik „Scham“ eher als Feigenblatt auf, um gegen die von ihr grundsätzlich als patriarchal eingestufte Kernfamilie ins Feld zu ziehen oder über Abtreibung zu schreiben. Auch das Thema Verhütung geht die Autorin erstaunlich oberflächlich an und verschenkt hier, gerade im Hinblick auf die Selbstermächtigung jüngerer Leser*innen, Potenzial. Wichtige Themenfelder wie gelebte Partnerschaft, Familie, Erziehung und Arbeitswelt, in denen falsche bzw. anerzogene Scham einen wichtigen Punkt darstellt, fehlen hingegen komplett. Insgesamt hatte ich mir von diesem Buch deutlich mehr Tiefgang und Substanz erwartet.

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