Literarisch und verstörend
TampaAlissa Nutting, Dozentin für English Literature aus Ohio, legte 2013 ihren ersten Roman "Tampa" vor, der Anfang 2014 auf Deutsch erschien. Es handelt sich um ein in hohem literarischen Stil geschriebenes, ...
Alissa Nutting, Dozentin für English Literature aus Ohio, legte 2013 ihren ersten Roman "Tampa" vor, der Anfang 2014 auf Deutsch erschien. Es handelt sich um ein in hohem literarischen Stil geschriebenes, zutiefst verstörendes und irritierendes Meisterwerk.
Im Zentrum der Handlung steht Celeste, eine junge High-School-Lehrerin Ende Zwanzig, die ihren Beruf keineswegs aus pädagogischer Berufung ergriffen hat, sondern die einzig und allein aus dem Zweck in die Schule geht, um dort nach Jungen Ausschau halten zu können, die sie in ihrer Freizeit missbrauchen kann. Anders gesagt: Die Lehrerin ist pädophil und nutzt ihren Beruf als Deckmantel, um ihre abseitigen Neigungen ausleben zu können.
Als ich zum ersten Mal von dem Roman erfuhr, war mein erster Impuls, ihn nicht zu lesen und ihn in eine Schublade mit anderen vermeintlich skandalösen Werken zu stecken wie etwa dem unsäglichen und unerträglich schlechten, langweiligen und oberflächlich nach Aufmerksamkeit gierenden "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche. "Tampa" ist jedoch absolut das Gegenteil.
Ja, der Roman ist pornographisch – sehr sogar. Ja, der Roman behandelt ein verbotenes, daher selbstverständlich skandalträchtiges Thema. Aber "Tampa" ist so gekonnt, in einem solch literarischen Stil geschrieben, dass das Lesen fast einen Genuss darstellt. Die Beschreibungen sind göttlich, das sanfte Dahinplätschern des Erzählens wirkt sich prächtig auf den Lesefluss aus. Die Story ist spannend geschrieben und ebenso inszeniert, der Leser wird buchstäblich zum Verschlingen des Buches animiert. Ich hatte es nach eineinhalb Tagen durch.
Von seiner moralischen, über die Handlung hinausweisenden Aussage hat der Roman ebenfalls viel zu bieten. Zunächst einmal natürlich die Thematisierung der Pädophilie, die Darstellung der Auswirkungen auf die traumatisierten Kinder (vor allem am Ende) und die Selbstgerechtigkeit und eigentliche Gefühllosigkeit, wenn Celeste ihre Opfer mehr wie Fleischstücke beim Metzger behandelt als wie Mitmenschen.
Dann aber – und das ist auch ganz wichtiger meiner Meinung nach – die Thematisierung des in unserer westlichen Gesellschaft so eigenen und charakteristischen Hasses allen Unattraktivem und Älteren gegenüber: Celeste zeigt sich angewidert, wenn eine hässliche Schülerin sie anspricht: "Ihre Augen und ihre Nase waren so klein und nichtssagend, dass man fast nur die Zahnspange sah. Wie gern hätte ich sie... gefragt: Darf man überhaupt so aussehen wie du?" (S. 19). Die vom Sex regelrecht besessene Lehrerin beschreibt die Hand einer Kollegin, die sie nicht mag, als "Schweineklaue" (S. 69) und mokiert sich über "irgendein grausiges Geschöpf, dessen Kinn und Füße im Vergleich zum restlichen Körper monströs erschienen" (S. 20).
Nichts hasst Celeste so sehr wie ältere, verwelkende und imperfekte Körper: "Wie bei einem Kind löste der Gedanke an Paare mittleren Alters... Entsetzen und Abscheu in mir aus" (S. 47). In solchen Passagen erinnert Celeste nur zu brutal an uns selbst, an unsere heutige Gesellschaft, in der nur vermeintlich gut aussehende Menschen, nur schönheitsoperierte Top-Models und gutaussehende Menschen eine Chance haben und alle anderen verteufelt werden und in der Versenkung verschwinden.
Letzten Endes ist "Tampa" daher ein zutiefst moralisches Buch. Celeste Price gleicht einer Fleisch gewordenen Anklage an unsere westliche, auf Konsum, Sex und Äußerlichkeiten reduzierte Welt und beinhaltet gleichzeitig den Aufruf, uns endlich wieder zu mäßigen. Insofern stellt "Tampa" nicht nur eine flammende Streitschrift gegen die Pädophilie dar, sondern Alissa Nutting hält uns auch den Spiegel vor und hinterfragt unsere eigenen moralisch-ästhetischen Grundsätze. Gerade in einer Zeit, in der in Deutschland sogenannte "Teenie-Bordelle" im Kommen sind, sollten wir uns fragen, ob wir unsere sexuelle Offenheit und unsere übersexualisierte Dauer-Hedonie nicht endlich einmal auf den Prüfstand stellen sollten.
Ich war auf ein oberflächlich um Aufmerksamkeit heischendes Möchtegerndebüt gefasst. Alissa Nuttings "Tampa" ist jedoch tief sensibel, tragisch berührend und hochintelligent; ich möchte sogar fast sagen, es ist in unserer Gesellschaft überfällig geworden.