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Veröffentlicht am 14.05.2017

Wenn die neue Zeit auf den Trümmern der Vergangenheit entstehen soll

Der Trümmermörder
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Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg, es ist der Hungerwinter 1946/4. Eine tote Frau wird in den Trümmern gefunden, nackt, mit Strangulationsspuren. Polizei-Oberinspektor Frank Stave, er wird während der ...

Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg, es ist der Hungerwinter 1946/4. Eine tote Frau wird in den Trümmern gefunden, nackt, mit Strangulationsspuren. Polizei-Oberinspektor Frank Stave, er wird während der Ermittlungen 43 Jahre alt werden, wird mit der Aufklärung betraut. „Die Briten haben nach dem Einmarsch im Mai 1945 Hunderte Polizisten entlassen – jeden, der bei der Gestapo war, der hohe Funktionen hatte, der irgendwie politisch aufgefallen war. Leute wie Stave, die im alten Regime als „links“ galten und die man auf unbedeutenden Posten kaltgestellt hatte, sind geblieben.“ S. 11 Ihm zur Seite gestellt werden ein Kollege von der Sitte, Polizeiinspektor Lothar Maschke - schließlich war die Frau unbekleidet, sowie der britische Verbindungsoffizier Lieutenant James C. MacDonald - Hamburg ist britisch besetzte Zone.

Die Stadt ist von Flüchtlingen überschwemmt, displaced persons (DP) aus KZs, Flüchtlingen aus den früheren Ostgebieten, Kriegsheimkehrer, Versprengte, Ausgebombte, das erschwert die Suche nach der Identität des Opfers. Auch Stave lebt nun in einem Nachbarhaus, seit seine frühere Wohnung in der Ahrensburger Straße 91 zusammen mit seiner Frau den Bomben zum Opfer fiel; man kann die Häuser übrigens auf Google Maps sehen, die Beschreibung der Häuser entspricht der im Buch und die Lücke durch die Bomben besteht bis heute: https://www.google.de/maps/@53.5796157,10.1002102,3a,75y,128.02h,99.88t/data=!3m6!1e1!3m4!1sQ5RUCDVYeBsO3PGteJw86Q!2e0!7i13312!8i6656!6m1!1e1

Bald wird eine zweite Leiche gefunden, ein älterer Mann, auch er nackt, auch er stranguliert. Ein Serienmörder, ein Verrückter, ein mysteriöser Zusammenhang zwischen den immer noch namenlosen Opfern, zufällige Gemeinsamkeiten? Die Ermittlungen treten auf der Stelle, es gibt zunehmend Druck aus der Öffentlichkeit – regelmäßige Berichterstattung inklusive für Stave beim Leiter der Kripo, Carl „Cuddel“ Breuer https://de.wikipedia.org/wiki/CarlBreuer sowie beim Bürgermeister Max Brauer https://de.wikipedia.org/wiki/MaxBrauer, der klarmacht: „Ich aber werde nicht tatenlos zusehen, wie ein einziger verrückter Mörder eine Lage schafft, in der sich unsere Bürger nach den Nazis zurücksehnen.“ S. 222 Doch warum hat Stave das Gefühl, dass die Frau, Anna von Veckinhausen, die das zweite Opfer bei der Polizei gemeldet hat, etwas verschweigt? Er ist zunehmend fasziniert von seiner Zeugin und hat gleichzeitig Schuldgefühle, knapp 3 Jahre nach dem Tod seiner Frau und während er kein Lebenszeichen von seinem Sohn Karl hat, der sich mit 17 noch im April 1945 freiwillig gemeldet hatte. Dann wird der Ermittler wieder zu einem Tatort gerufen, ein Mann verschwindet und hinterlässt eine geheimnisvolle Botschaft und die Ermittlungsakten sind nirgends zu finden.

Stromsperren, Bezugsmarken, Hamsterfahrten ins Umland, Schwarzmarkt, Nissenhütten, Ausgangssperre, Brennhexen – all das kommt im Roman vor und bleibt dennoch, von der Wohnsituation und der Brennhexe abgesehen, für mich seltsam blutleer. Die Wohnsituation schildert Autor Rademacher plastischer, mit der Ausbombung, dem Ersatz von defektem aus kaputten Häusern, den vereisten Scheiben, den fensterlosen Wohnungen in früheren Hochbunkern, den Nissenhütten aus dünnem Wellblech, in denen man mittig am Ofen stehend von vorne glüht und hinten eiskalt bleibt. Ähnlich beschreibt er die mühselige Nahrungszubereitung auf der Brennhexe, der Rest bleibt für mich – leider – Kulisse, einzig Staves Albträume sind mit-erlebbar. Der Autor hat, wie man seinem Nachwort entnehmen kann, recherchiert, selbst der „Trümmermörder“ beruht auf einem historischen, wenn auch nie aufgeklärten Vorbild.

Der Vergleich mit dem erst im letzten Jahr veröffentlichten „Der Angstmann“ von Frank Goldammer drängt sich auf: Goldammer lässt den Leser den Krieg spüren, den Hunger, das Misstrauen, die Bombennacht, die Besatzung. Der historische Dresden-Krimi hat hier vielleicht den Vorteil, zeitlich einen größeren Zeitraum abzubilden – das ist es jedoch nicht. In Hamburg lese ich „..bis ihn draußen auf der Straße der Wind trifft wie eine eisige Faust.“ S. 274 oder „…trifft ihn der Wind wie ein Faustschlag.“ S. 99, das ist erstens eine Wiederholung über diese beiden Stellen hinaus und lässt mich zweitens den Wind nicht miterleben – Goldammer schafft das. Dafür ist bei Goldammer weniger nachvollziehbar, wie sich sein Max Heller in der NS-Zeit behaupten konnte, „seine Morde“ sind blutrünstiger. Ich kenne Dresden und Hamburg von sehr regelmäßigen Besuchen – beide Autoren nehmen in seltener Übereinkunft Abstand von Dialekt selbst bei Nebenfiguren. Da s-tolpert niemand über den s-pitzen S-tein, da gibt es kein „nu nu freiiilisch“, das ist verständlich (nachvollziehbar UND im Wortsinn), aber irgendwie schade. Straßennamen zählen beide auf – während Rademacher Gebäude beschreibt, fühle ich mich bei Goldammer in den Beschreibungen von Straßenzügen eher vor Ort (dafür sind es dann teils wieder zu viele Straßennamen). Ich mag Stave irgendwie lieber – doch sehe ich insgesamt nur 4 Sterne für einen durchschnittlich guten Krimi (gegenüber 5 für den Angstmann, den ich verschlungen hatte). Dennoch will ich dem zweiten Band eine Chance geben, weil mich das Thema der Nachkriegszeit dann doch ausreichend interessiert.

Wer eines der Bücher verschenken möchte: man merkt bei der Lektüre doch eindeutig (so man alt genug dafür ist), wo man aufgewachsen ist, als "Wessi" oder "Ossi", welche Erzählungen in der eigenen Familie weiter getragen wurden - selbst wenn man, wie ich, "dazwischen" steht. Und man merkt auch, wenn die Erinnerungen der eigenen Familie im ländlichen Raume angesiedelt waren, wo die Auswirkungen durch Selbstversorgung und "mehr Fläche pro Mensch" milder waren: hier sind Hamburg und Dresden dann doch erschreckend ähnlich.
https://www.lesejury.de/frank-goldammer/hoerbuecher/der-angstmann/9783862318308?tab=reviews&s=2#reviews

Veröffentlicht am 14.05.2017

Empfehlenswerter historischer Krimi mit dem bedrückenden Hintergrund in Dresden 1944-45

Der Angstmann
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Kriminalinspektor Max Heller ist ein Ermittler vom alten Schlag – routiniert, oft knurrig, wenig zu beeindrucken. Doch der Frauenmord, zu dem er gerufen wird, ist so grausam, dass er kaum an einen üblichen ...

Kriminalinspektor Max Heller ist ein Ermittler vom alten Schlag – routiniert, oft knurrig, wenig zu beeindrucken. Doch der Frauenmord, zu dem er gerufen wird, ist so grausam, dass er kaum an einen üblichen Täter glauben mag. Sein Vorgesetzter ist eher aus politischen Gründen im Amt und scheint eine einfache Lösung zu bevorzugen – aber das passt kaum mit der zweiten Frauenleiche zusammen, die für Heller zu viele Parallelen zum ersten Fall aufweist. Schon fängt die Bevölkerung an, in Furcht vor dem geheimnisvollen und furchtbaren „Angstmann“ zu leben, wilde Gerüchte machen die Runde. Wir sind in Dresden – und es tobt der Zweite Weltkrieg in seinen letzten Monaten. Was bedeutet da der Verlust eines weiteren Menschenlebens? Und wie einfach schiebt man etwas „den üblichen Verdächtigen“ unter, in jener Zeit sind das ein jüdischer Exmann oder Osteuropäer.

Aber welche Bedeutung haben die seltsamen Geräusche, von denen berichtet wird? Und soll Heller hier von etwas abgelenkt werden, was nicht ins offizielle Bild passt? Auch die Wege, auf denen hier einige Fahrräder unterwegs sind, sorgen für Verwirrung. Und „einfach Max Heller“ zu sein, ist nicht immer leicht, wenn man sich mit seiner Meinung und seinem Handeln jederzeit zuerst vor den Nationalsozialisten in Acht nehmen muss und dann vor der Sowjetarmee.

Frank Goldmanns „Der Angstmann“ ist nicht nur Krimi, sondern schildert auch in eindringlicher Weise die bedrückende Situation in Dresden kurz vor und kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. „Jeden Abend verließ er diese Welt, um zurückzukehren in ein warmes Heim, mit einer warmen Mahlzeit. Tag für Tag mit einem schlimmeren Gefühl der Hoffnungslosigkeit, denn der Strom der Menschen riss nicht ab. Waren ein paar hundert abgefertigt und zu ihrem neuen Bestimmungsort losgeschickt, so kamen hunderte, tausende neue Flüchtlinge nach. Ihre Sprache wurde fremder und der Wille der Einheimischen, sie aufzunehmen, sie als Landsleute anzuerkennen, wurde schwächer und schwächer, denn sie waren Konkurrenten um die wenigen Lebensmittel, um den Wohnraum, um die Kleidung. Die Angst, selbst nicht genug zu bekommen, wurde dafür stärker…“ S. 50 Das bedeutet in diesem Falle nicht nur, die eine Verknappung und die eine Ideologie zu tauschen gegen eine andere – die für Dresden verheerenden Bombenangriffe kurz vor Kriegsende findet in der beschriebenen Zeit statt. Der Autor ist Dresdner und wie alle auch jüngeren Dresdner ist er in diesem Bewusstsein, mit den Erzählungen in den Familien, aber auch mit den bis ins Heute reichenden Spuren in der Stadt aufgewachsen (ja, das gilt auch für andere Städte wie z.B. Hamburg mit dessen Feuersturm; aber hier geht es eben um Dresden). Meiner Ansicht nach gelingt ihm damit, Ereignisse, die viele Jüngere sich kaum noch vorstellen können, mit aller Not, den vielen Flüchtlingen, der Angst, dem Hunger, dem gegenseitigen Misstrauen eindringlich, eingängig und bildhaft darzustellen, während zunehmend weniger Zeitzeugen noch am Leben sind, um zu berichten von Ereignissen, die heute anderen Menschen an anderen Orten widerfahren.

Ich habe die Erzählung zuerst als Hörbuch genießen dürfen gelesen vom auch als Schauspieler arbeitenden Heikko Deutschmann, den ich wieder einmal als gute Wahl empfand. Bei Krimis als Hörbuch habe ich sonst häufig Probleme, da ich recht schnell lese und damit bei steigender Spannung häufig etwas ungeduldig werde – das war hier kein Problem: Die Handlung ist zwar oft spannend, aber weniger von der nervenzerfetzenden Art (eben ein Krimi, kein Thriller), und besticht vielmehr durch die allgemein düstere Atmosphäre der Taten und der Zeit. Das Vorlesen passt gut zu dieser Situation. Danach habe ich mir das „normale“ Buch noch besorgt,
unter anderem, weil ich so die Strecken in Dresden besser nachverfolgen konnte - ohne "Abwertung" des Hörbuchs, für mich passen einfach die unterschiedlichen Medien zu unterschiedlichen Situationen.

Nachtrag:

Der Vergleich mit dem 2012 veröffentlichten historischen Hamburg-Krimi „Der Trümmermörder“ von Cay Rademacher drängt sich auf, ich habe das Buch über den Hungerwinter '47 erst NACH dem und wegen des "Angstmann" gelesen: Goldammer lässt den Leser den Krieg spüren, den Hunger, das Misstrauen, die Bombennacht, die Besatzung. Der historische Dresden-Krimi hat hier vielleicht den Vorteil, zeitlich einen größeren Zeitraum abzubilden (der Hamburg-Krimi beschränkt sich auf drei Monate des Nachkriegsjahres 1947) – das ist es jedoch nicht. In Hamburg lese ich „..bis ihn draußen auf der Straße der Wind trifft wie eine eisige Faust.“ S. 274 oder „…trifft ihn der Wind wie ein Faustschlag.“ S. 99, das ist erstens eine Wiederholung über diese beiden Stellen hinaus und lässt mich zweitens den Wind nicht miterleben – Goldammer schafft das. Dafür ist bei Goldammer weniger nachvollziehbar, wie sich sein Max Heller in der NS-Zeit behaupten konnte, „seine Morde“ sind blutrünstiger. Ich kenne Dresden und Hamburg von sehr regelmäßigen Besuchen – beide Autoren nehmen in seltener Übereinkunft Abstand vom Dialekt selbst bei Nebenfiguren. Da s-tolpert niemand über den s-pitzen S-tein, da gibt es kein „nu nu freiiilisch“, das ist verständlich (nachvollziehbar UND im Wortsinn), aber irgendwie schade. Straßennamen zählen beide auf – während Rademacher Gebäude beschreibt, fühle ich mich bei Goldammer in den Beschreibungen von Straßenzügen eher vor Ort (dafür sind es dann teils wieder zu viele Straßennamen). Ich mag Stave irgendwie lieber – doch sehe ich insgesamt nur 4 Sterne für einen durchschnittlich guten Krimi (gegenüber 5 für den Angstmann, den ich verschlungen hatte). Dennoch will ich bei Stave dem zweiten Band eine Chance geben bzw. würde das bei Heller (es gibt noch keinen), weil mich einfach das Thema der Nachkriegszeit ausreichend interessiert.

Wer eines der Bücher verschenken möchte: man merkt bei der Lektüre doch eindeutig (so man alt genug dafür ist), wo man aufgewachsen ist, als "Wessi" oder "Ossi", welche Erzählungen in der eigenen Familie weiter getragen wurden - selbst wenn man, wie ich, "dazwischen" steht. Und man merkt auch, wenn die Erinnerungen der eigenen Familie im ländlichen Raume angesiedelt waren, wo die Auswirkungen durch Selbstversorgung und "mehr Fläche pro Mensch" milder waren: hier sind Hamburg und Dresden dann doch erschreckend ähnlich.

https://www.lesejury.de/cay-rademacher/buecher/der-truemmermoerder/9783832161545?tab=reviews&s=2#reviews

Veröffentlicht am 12.05.2017

Wohlfühlbuch mit einem Hauch Magie, viel Nostalgie und voller Humor und Zuversicht

Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge
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„Charles Bramwell Brockley reiste allein und ohne Fahrkarte in dem Zug um 14.42 Uhr von London Bridge nach Brighton. Die Keksdose von Huntley & Palmers, in der er reiste, schwankte bedenklich auf dem Rand ...

„Charles Bramwell Brockley reiste allein und ohne Fahrkarte in dem Zug um 14.42 Uhr von London Bridge nach Brighton. Die Keksdose von Huntley & Palmers, in der er reiste, schwankte bedenklich auf dem Rand des Sitzes, als der Zug in Haywards Heath ruckelnd anhielt. Aber gerade, als die Dose nach vorn rutschte und auf den Boden des Waggons zu fallen drohte, wurde sie von zwei rettenden Händen aufgefangen.“ So lauten die ersten Sätze – die weiteren habe ich im Verlauf eines Tages inhaliert.

Das Buch wird keinen Preis für hohe Literatur gewinnen – aber viele Leserherzen so wie meines. Das Bindeglied, der Kitt, die die vielen kleinen Geschichten im Buch verwebt und schließlich zusammenbringt, ist Anthony Peardew – und das Lied der Frau, die er geliebt hatte, Therese. „Anthony überraschte nichts mehr, doch ein Verlust, ob groß oder klein, bewegte ihn immer.“ Er hat seine über alles geliebte Therese verloren – und auch, was sie ihm zur Aufbewahrung gegeben hatte. Dafür sammelt er, was andere verloren haben, wie besagte Dose mit Charles Bramwell Brockley, ordentlich etikettiert, mit dem Ziel der Rückgabe. Jetzt sieht er seine Kräfte schwinden – aber da ist seine Assistentin, Laura. Auch sie hat Verluste erlitten – eine Fehlgeburt, die gescheiterte Ehe – am meisten aber hat sie sich selbst verloren, die Zuversicht, das Zutrauen in sich selbst, ihre früheren Pläne.

Das Buch wechselt die Zeitebenen und die Perspektiven zwischen diesen und noch weiteren Protagonisten, man beginnt dabei immer mehr zu erahnen, wie viele dieser Handlungsstränge zusammenführen könnten. Dabei scheut die Autorin deutliche Worte nicht, wie zum verlorenen großen blauen Knopf – Margaret. „Sechsundzwanzig Jahre waren sie verheiratet, und er hatte sich Jahr für Jahr die größte Mühe gegeben, Margaret zu zeigen, wie sehr er sie liebte. Er liebte sie mit seinen Fäusten und seinen Füßen. Seine Liebe war die Farbe ihrer Prellungen.“ Oder, wiederkehrend, der Handlungsstrang mit Eunice und Bomber: „Bomber sagte, das Wunderbare an Büchern sei, dass sie Filme seien, die sich im Kopf abspielten.“ Ja, das war ein wunderbares Kopfkino.

Autorin Ruth Hogan baut geschickt die Bögen, Brücken und Nebenstraßen ihrer Welt, die durchaus magische Komponenten hat – so wie Sunshine, die Tochter der Nachbarn, die von Kindern früher gehänselt und als behämmert beschimpft wurde, die aber nicht nur erstaunlich klar sieht, sondern auch den wahren Charakter von manchen Dingen intuitiv erfasst, so wie die Geschichten über die verlorenen Gegenstände, von denen doch eigentlich keiner wissen kann, oder wie die Musik, die plötzlich erklingt. Einem anderen als diesem bezaubernden Buch würde ich Kitsch vorwerfen – sollte das hier jemand versuchen, könnte ich mir gut vorstellen, dass dieser Mensch sicher nicht nur keine Hunde mag, keine Gimlets oder keine gute Tasse Tee, aber dafür ihn doch bitte nächtliche Musik heimsuchen möge: Al Bowlly: The very thought of you.

Perfektes Getränk zum Buch: Eine gute Tasse Tee – und später ein Gimlet.
Perfekter Film nach dem Buch: Einer flog über das Kuckucksnest.
Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Buch den gleichen Lesern gefallen könnte wie „Mr Gwyn“ von Alessandro Baricco (ohne die verschlungenen Gedankengänge) und vielleicht auch den Lesern von „Ein Mann namens Ove“ von Fredrik Backman, primär bezüglich der emotionalen Komponente.

Veröffentlicht am 10.05.2017

Achtung, Erwartungshaltung: Wirklich gut, doch eher Psychodrama denn Psychothriller

Wenn das Eis bricht
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„Wieder stellt sich dieses Gefühl ein: Ich bin in einem Film, bewege mich durch einsame Kulissen, auf dem Weg zu irgendeiner Lösung. Aber was für ein Film das ist, weiß ich nicht. Ein Drama, ein Thriller? ...

„Wieder stellt sich dieses Gefühl ein: Ich bin in einem Film, bewege mich durch einsame Kulissen, auf dem Weg zu irgendeiner Lösung. Aber was für ein Film das ist, weiß ich nicht. Ein Drama, ein Thriller? Eine Tragödie?“ S. 295 Emma, Hanne, Peter – aus der Sicht dieser drei Protagonisten, jeder als Ich-Erzähler, lesen wir diesen Roman. Auch, wenn der Satz nur von einem von ihnen stammt, könnte er doch für sie alle stehen. Emma ist Verkäuferin bei einer Bekleidungs-Kette, nachdem sie die Schule nicht beendet hatte, weil da zu viel in ihrer Kindheit war, Nagel, und ihre Eltern und der Alkohol ihrer Eltern. Jetzt hat sie eine heimliche Beziehung. Hanne, die Verhaltenspsychologin, brachte die letzten zehn Jahre die Energie nicht auf, ihren Mann zu verlassen, wie damals, vor zehn Jahren. Überall in der Wohnung sind kleine Merkzettel. Peter ist bei der Mordkommission und egal, was er tut, er wird die Toten nicht zurückbringen. Vor Beziehungen flüchtet er, da sind einfach zu viele Gräber auf dem Friedhof.

„Wer dein Freund und wer dein Feind ist, weißt du erst, wenn das Eis unter deinen Füßen bricht“ – dieses Sprichwort der Inuit ist dem Roman der schwedischen Autorin Camilla Grebe vorangestellt und in vielerlei Sicht für die Handlung programmatisch. Die Handlung ist kurz vor Weihnachten angesiedelt, es taut, aber meistens ist die Atmosphäre düster, bedrückend, sind die Protagonisten gefangen in ihrer jeweiligen Einsamkeit. Die Parallelen sind schon erschreckend, vor allem, wenn sich die Geschichten mehr und mehr offenbaren, sich die Handlungsstränge aufeinander zu bewegen.

Wollte ich das Buch als einen Psychothriller hier beschreiben, wäre das so: Was ist der Zusammenhang zwischen einem Mord auf Södermalm vor zehn Jahren, einer vor 3 Wochen niedergebrannten Garage eines umstrittenen Chefs einer erfolgreichen Bekleidungskette – und der Frau, die in seinem Haus gefunden wurde – tot, enthauptet, mit dem Kopf aufrecht daneben gestellt? Zwei Streichhölzchen bringen die Ermittlungen weiter.

Ja, das ist geschieht im Buch – aber es ist KEIN reißerischer Thriller, es wird nicht geschwelgt in Blut und Rache und Gewalt oder sexuellem Missbrauch, somit ist das Buch auch für empfindlichere Personen geeignet, auch wenn die Ermittlungen rund um diese enthauptete Frau aufgespannt werden. Für mich ist es weniger ein Psychothriller, die Tat ist quasi nur das Vehikel, anhand dessen das Drama hinter der Tat erzählt wird, und nicht nur dieses, sondern die Dramen aller Personen, in all ihrer bedrückenden Parallelität. Das ist gut geschrieben, ich brauchte nur, um zu schlafen, zwei Tage für die Lektüre – aber ich richte mich auch schon lange nicht mehr nach Klappentexten oder vorgeblichen Buchkategorien. Stattdessen hätte ich mir die Geschichte mit einem leicht anderen Fokus auch durchaus schlicht als anspruchsvollen Roman zu genannten Themen denken können, das sollte man als Leser wissen. Sprachlich hat die Autorin das drauf, auch wenn sie sonst bisher mit ihrer Schwester gemeinsam Kriminalromane geschrieben hat, in der Konstruktion, den Ideen und so schönen Erkenntnissen wie „Liebe ist ein Reflex, denke ich. Etwas, das wir einfach tun, wie schlafen oder essen. Und vielleicht verlieben wir uns in einen Menschen, der uns bekannt vorkommt, wie Heimat irgendwie. Der uns daran erinnert, wie das Leben war, ehe wir von all den Verlusten getroffen wurden.“ S. 570 Eine positive Überraschung, aber anders, als gedacht!

Kritikpunkte: könnte bitte ein Mann nicht einfach nur Bindungsängste haben (das soll es nämlich wirklich einfach so geben; ja, das meine ich zynisch), OHNE dass eine Tragödie erzählt und damit das Klischee des beschädigten Ermittlers bemüht werden muss? Außerdem moniere ich die Aufmachung des Buches: 608 Seiten finde ich nicht praktisch für ein Taschenbuch – das kann man nur sehr schwer ohne Leserillen auf dem Buchrücken lesen und überhaupt halten, auch wenn Klappenbroschur dafür schon die deutlich höherwertige Aufmachung ist und die hängenden Eiszapfen als Lack mit der leichten plastischen Wirkung sonst schön und passend zum Titel, Motto und der Jahreszeit im Buch ist.

Veröffentlicht am 08.05.2017

Beuteschema

Das Grauen in dir
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„Da lag so viel in dem Blick dieses Jungen. Flehen, betteln, Todesangst. Und all das erregte ihn. Er wusste gar nicht, was am meisten. Dann griff er nach dem Ende des Gürtels.“ S. 74
Doch von vorne: Andrea ...

„Da lag so viel in dem Blick dieses Jungen. Flehen, betteln, Todesangst. Und all das erregte ihn. Er wusste gar nicht, was am meisten. Dann griff er nach dem Ende des Gürtels.“ S. 74
Doch von vorne: Andrea und Gregory Thornton und ihre neunjährige Tochter Julie sind auf dem Weg in den Urlaub, in ein Bed & Breakfast auf der Insel Skye. Kurz vor der Ankunft bekommen sie es noch mit der Polizei zu tun – ein harmloser Rempler mit dem Auto. Polizist Fergus Boyd erkennt Andrea – schließlich ist die gebürtige Deutsche als Profilerin schon mehrfach in der Presse gewesen.

Sei Jahren schon lassen dem schottischen Polizisten Boyd einige ungeklärte Fälle keine Ruhe: zwei Jungen wurden unabhängig voneinander entführt und brutal sexuell missbraucht – ein anderer wurde tot aufgefunden. Weitere Eltern wissen teils nach Jahren immer noch gar nichts vom Verbleib ihrer Teenager-Söhne. Und Andrea hasst Vergewaltiger einfach am meisten von allen Verbrechern. Doch warum sind die Taten so unterschiedlich? Mit Boyd beginnt sie zu ermitteln – sie benötigen dringend ein Profil für die Suche nach einem Täter, denn wie erklärt ihm Andrea so schön: „Wenn man seine Arbeit gut macht, liegt man ungefähr mit drei Vierteln der Annahmen richtig.“ S. 72

Andrea weiß, dass es da eine Ähnlichkeit bei den Taten gibt – nur, an welches Verbrechen wollen die Taten sie erinnern? Erschreckend auch die Situation der Eltern – einige sind zerbrochen an den Geschehnissen – oder haben sich gezwungen, damit abzuschließen. „Andrea war nicht fähig, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, sein Kind aufzugeben. Sie maßte sich jedoch kein Urteil darüber an. Um nicht zu zerbrechen, blieb einem irgendwann keine Wahl mehr.“ S. 82 Aber auch das Leben der Überlebenden ist zerstört – sexuelle Übergriffe auf männliche Opfer sind weiterhin ein Tabuthema, das macht Dania Dicken hier deutlich. Und noch wurde der Täter, der bisher stets zu dieser Jahreszeit zuschlug, nicht gefasst…

Besonders bewegt hat mich in diesem achten Band der Reihe der Umgang mit dem Thema Über-Leben mit den Folgen, Stigmatisierung der Opfer und die Konsequenzen – ich fürchtete schon ein Klischee, als es noch eine unerwartete Wendung gab, die mich zum Nachdenken brachte! Wie gewohnt, ist die Ermittlung spannend und vermittelt routiniert Hintergrundwissen zu echt krankem Verhalten. Nicht zu empfehlen für jene, die nicht gut mit Kindern als Opfer umgehen können oder mit sexueller Gewalt in Büchern. Vorbände werden zwar angesprochen – die Lektüre dürfte aber auch ohne möglich sein. Mein Manko – warum nur bekommen Andrea und ihr Umfeld IMMER direkten, also nicht nur beruflichen, Kontakt mit diesen völlig Gestörten? Sie und ihre kleine Familie wirken soooo sympathisch – aber als Nachbarin würde ich sie nach den bisherigen Erfahrungen aller Bücher ebenso wenig haben wollen wie als gute Freundin oder Verwandte, zu potentiell gefährlich und dazu auch reichlich offen mit Auskünften…Den Fall an sich fand ich top. Gute 4 Sterne.