Ebenso verstörend wie vertraut
Das Leben vor unsAnja, eine Frau, nicht viel jünger als ich, die zur Zeit der Perestrojka eine Jugendliche war. Deren Zuhause die Sowjetunion war, auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht dort nicht daheim fühlte. Mit ...
Anja, eine Frau, nicht viel jünger als ich, die zur Zeit der Perestrojka eine Jugendliche war. Deren Zuhause die Sowjetunion war, auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht dort nicht daheim fühlte. Mit einer intensiven, nahezu zerstörerischen (einander und jeweils sich selbst), aber mehr noch erfüllenden Freundschaft zu Milka, die sich immer bei ihr aufhielt. Im Sommer sogar wochen-, ja monatelang in der Datscha von Anjas Familie wohnte.
Ein Beziehung, die sich, wie auch andere, die zu den Eltern beispielsweise, nicht durch das Miteinanderreden definiert, sondern durch gemeinsame Unternehmungen, Erlebnisse, Wagnisse. Der Grund dafür wird erst später deutlich.
Der Leser begleitet Anja in ihren Erinnerungen an ihre Jugend in den letzten Jahren der Sowjetunion. Ich fühle mich ihr unendlich nah, auch wenn ich nicht in der Sowjetunion aufwuchs.
Doch der Blick meiner Familie war ständig dorthin gerichtet, meine Vorfahren waren von dort geflüchtet - aus einem Teil der UdSSR, wenn auch nicht in Russland liegend, blieb dieser ein Sehnsuchtsort für sie. Den ich kannte wie meine Westentasche - jahrelang nur aus Erzählungen, doch ab Mitte der 1980er Jahre, genau der Zeit, in der Anjas Geschichte einsetzt, auch von Besuchen.
Nur zu oft sah ich die Dinge anders als Anja, als ihre Freunde, doch ist mir ihre Perspektive vertraut wie meine eigene. Und so erkenne ich, dass die Autorin Kristina Gorcheva-Newberry ehrlich ist - offen im Begreifen wie auch im Unverständnis ihrer literarischen Charaktere. Und in Teil 2 des Romans, nach ihrem Umzug in die Vereinigten Staaten, ändert sich ihre Sichtweise, nähert sich viel mehr der meinigen.
Nach einigen Jahren erfolgt der besagte Bruch - Anja zieht fort, kehrt jahrzehntelang nicht zurück in ihre Heimatstadt Moskau - und ist doch noch eine der Ihrigen, wie sich zeigt, als sie nach zig Jahren zurückkehrt. Dieses Buch hat sich mir geöffnet, es hat geschmerzt, vor allem aber hat es die Zeit der Perestrojka wieder zurückgebracht, das Gefühl, die Empfindungen, ja die Werte, die mich damals antrieben. Alles eins zu eins, wenn nicht von mir, dann von engen Freunden oder Verwandten erlebt.
Es gibt wenige Bücher, von denen ich das Gefühl habe, dass sie exakt für mich geschrieben wurden, aber dies ist eines davon: Es hat mich schlicht und einfach umgehauen.