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Veröffentlicht am 02.04.2018

Nächstes Jahr in Jerusalem?

Willkommen im Gelobten Land?
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"Nächstes Jahr in Jerusalem" ist der traditionelle Wunsch am Schluss des jüdischen Sederabends. Doch was geschah, als sich die auf der ganzen Welt verstreuten Juden und vor allem mit Deutscher Abstammung ...

"Nächstes Jahr in Jerusalem" ist der traditionelle Wunsch am Schluss des jüdischen Sederabends. Doch was geschah, als sich die auf der ganzen Welt verstreuten Juden und vor allem mit Deutscher Abstammung aufmachten und wirklich nach Palästina/Israel kamen?

Jörg Armbruster greift mit seinem Buch „Willkommen im gelobten Land? Deutschstämmige Juden in Israel“ ein heikles Thema auf.

Wie erging es den Juden, denen die Flucht aus Nazi-Deutschland gelungen ist in Palästina? Ist das versprochene Eretz Israel wirklich das Gelobte Land?

Der Autor begibt sich auf die Spuren von Auswanderern, die heute hoch betagt in Israel leben. Viele von ihnen können nach wie vor nicht über ihre Erlebnisse reden. Doch Armbruster trifft Menschen, die sehr offen über ihre Vergangenheit und die Gegenwart sprechen.

Die ersten Flüchtlinge aus Deutschland treffen bereits Anfang der 1930er Jahre in Palästina ein. Den Staat Israel gibt es noch nicht. Sie treffen hier auf teils radikale Zionisten, deren Wesen ihnen völlig fremd ist. Die Neuankömmlinge werden diversen Kibuzzim zugeteilt, in denen sie oft erstmals Landwirtschaft betreiben. Sind es doch Intellektuelle, die Nazi-Deutschland verlassen.
Ein interessantes Beispiel ist die jüdische Gemeinde von Rexingen, die fast geschlossen nach Palästina auswandert. Sie errichten am Meer das Dorf Shavel Zion und leben in ähnlichen Verhältnissen wie in Deutschland, Spitzendeckerl und Schränke mit Butzenscheiben inklusive. Der Anfang ist extrem schwer. Obwohl das Land, das sie bewirtschaften, legal gekauft und grundbücherlich abgesichert ist, sehen die Araber diese Menschen als Eindringlinge, die ihnen das (unfruchtbare) Land "gestohlen haben" und die es deshalb zu bekämpfen gilt.

Doch nicht nur gegen Araber müssen sich die Einwanderer behaupten, nein, auch gegen die bereits hier lebenden Glaubensbrüder (und Schwestern). Diese blicken scheel auf die deutschen Juden und diffamieren sie zum Teil. Sie finden es unverständlich, dass sie sich von den Nazis terrorisieren ließen anstatt zu kämpfen. Die Israelis wollen die Geschichten der KZ-Überlebenden nicht hören. Oft halten sie die Erzählungen für übertrieben …

Oftmals wird die Frage „ Kommst Du aus Überzeugung oder aus Deutschland?“ gestellt. Man unterstellt den Flüchtlingen, sich ins gemachte Nest zu setzen.

„Andere Einwanderer aus Nazi-Deutschland haben sich wesentlich schwerer getan mit dem neuen Land, das es sich auch nicht gerade leicht gemacht hat mit diesen »Jeckes«, wie sie spöttisch von den »wahren« Zionisten genannt wurden, angeblich, weil sie immer korrekt gekleidet waren und selbst bei größter Hitze Jacke und Krawatte nicht ablegten. Als Neubürger im Land der zionistischen Pioniere wurden sie lange nicht wirklich ernst genommen. Viele der Jeckes lebten in Palästina mit einem »Grundgefühl kultureller Verlassenheit«, wie es der israelische Historiker und Schriftsteller Tom Segev formuliert hat, der selbst Nachkomme einer alten Berliner Familie ist.“ (S. 12)

Die restriktive Einwanderungspolitik der Engländer, unter deren Mandat Palästina bis zur Gründung des Staates Israels 1948 steht, führt zu vielen illegalen Einwanderungen. Die Staatengründung von 1948 führt sofort zum ersten von unzähligen bewaffneten Auseinandersetzungen mit den arabischen Nachbarstaaten, die bis heute andauern. Auch das ist nicht verwunderlich, wird doch der Hass auf beiden Seiten geschürt.

So sagt eine der betagten Interviewpartnerinnen Armbrusters:
„Heute wachsen unsere Kinder auf mit Hass. Und die Kinder der Palästinenser wachsen auf mit Hass. Da kann ja kein Frieden entstehen.“

Dem ist wohl wenig hinzuzufügen.

Die meisten der deutschen Einwanderer zählen zu den gemäßigten, die einen Zweivölkerstaat eher befürworten als ablehnen. Sie sind es, die eher zum Ausgleich als zum Radikalismus neigen als die einstmals aus dem Osten eingewanderten streng orthodoxen Juden.

So ist es auch erklärbar, dass Yitzack Rabin, der Ministerpräsident des Ausgleichs, 1995 von einem ultraorthodoxen Juden ermordet wurde.

Auffällig ist auch, dass bislang die Ministerpräsidenten aus dem Kreis der „echten“ Zionisten gestellt wurden. Die Deutschen Einwanderer sind häufig Politiker der zweiten oder dritten Reihe.

Die unterschiedlichen Strömungen der Politik gehen quer durch einzelne Familien. Da gibt es welche, die den Kauf eines deutschen Autos bereits als Verrat an Israel sehen und andere, die gerne das Land ihrer Vorfahren kennenlernen wollen. Allerdings, ohne sich offen zum Judentum bekennen zu wollen.

Sehr deutlich kommt aus den vielen Interviews, die der Autor führte, heraus, dass nicht nur die Holocaust-Überlebenden selbst sondern auch deren Kinder traumatisiert sind. Viele Ängste sind innerhalb der Familien weitergegeben worden. Allerdings ohne Erklärungen, so dass erst die Enkel-Generation sich aufmachen kann, die Familiengeschichten aufzuarbeiten.

Eindrucksvoll und behutsam lässt Jörg Armbruster die Betroffenen, wie z. B. Herbert Bettelheim aus Wien, zu Wort kommen. Es geht nicht ohne Kritik an Großbritannien, den Arabischen Nachbarn und Israel ab.

Alle erzählen offen, wie schwer es für sie war, in Eretz Israel, dem Gelobten Land, tatsächlich eine neue Heimat zu finden. Nicht allen ist dies gelungen. Nicht alle fühlten sie sich willkommen, manchmal waren sie sogar unerwünscht.

"Nächstes Jahr in Jerusalem" - doch nur ein frommer Wunsch als Ausklang des Sederabends?

Veröffentlicht am 02.04.2018

Australien abseits der Klischees

Reportage Australien
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In 21 Kurzreportagen erfahren wir eine Menge bislang Unbekanntes. Oder wer weiß schon, dass es in einem der zahlreichen Stämmen der australischen Ureinwohner, Männern untersagt ist, direkt mit ihren Schwiegermüttern ...

In 21 Kurzreportagen erfahren wir eine Menge bislang Unbekanntes. Oder wer weiß schon, dass es in einem der zahlreichen Stämmen der australischen Ureinwohner, Männern untersagt ist, direkt mit ihren Schwiegermüttern zu kommunizieren? Ha, "das sollte man auch bei uns einführen" höre ich schon einige sagen. Doch warum ist das Ansprechen der SchwieMu mit einem Tabu belegt?
Des Rätsels Lösung: Die Männer dieses Stammes dürfen erst heiraten, wenn sie sich und eine Familie ernähren können, d.h. eher später. Dafür nehmen sie aber ein ziemlich junges Mädchen zur Frau. Daher passt altersmäßig eher die Schwiegermutter als deren Tochter. Und um keine Kalamitäten hervorzurufen, ist eben die Kommunikation mit der SchwieMu tabu. Wenn Mann ihr etwas zu sagen hat, spricht Mann über einen Vermittler (auch im Beisein der SChwieMu). Wenn gerade einmal kein Vermittler verfügbar ist, so übernimmt diese Rolle ein Baum.


Solche und ähnliche Geschichten erzählt Journalist Rasso Knoller. Er versucht die Sichtweise der Ureinwohner bekannt zu machen. So ist ihnen z. B. Privateigentum fremd. Sie teilen einfach auch ihren kargen Lohn. Die Hintergründe werden plausibel erklärt.


Auch das Vorurteil, sie wären unzuverlässig, wird an Hand einer Episode entkräftet.


Wer ein wenig mehr über die Ureinwohner Australiens abseits aller Klischee wissen möchte, kann mit diesem Büchlein, das im Picus-Verlag erschienen ist, beginnen.

Veröffentlicht am 02.04.2018

Propaganda wirkt nur, solange sie nicht durchschaut wird

Propaganda
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Die promovierte Historikerin und Autorin von Sachbüchern und Krimis, Alexandra Bleyer hat sich eines Themas angenommen, das in jüngster Zeit wieder an Bedeutung gewinnt: „Propaganda als Machtinstrument“.

In ...

Die promovierte Historikerin und Autorin von Sachbüchern und Krimis, Alexandra Bleyer hat sich eines Themas angenommen, das in jüngster Zeit wieder an Bedeutung gewinnt: „Propaganda als Machtinstrument“.

In neun Kapiteln versucht die Autorin mit plakativen Bespielen, den Lesern das Wesen und die Methoden dieser Beeinflussung begreiflich zu machen.

In Kapitel 1 erfahren wir anhand von historischen und aktuellen Beispielen wie das ursprünglich neutrale Wort „Propaganda“ (lat. von propagare = verbreiten, ausdehnen) über die Jahrhunderte in Misskredit gebracht wurde. Denn, wenn wir heute das Wort „Propaganda“ hören, drängt sich sofort das Bild schreienden und fuchtelnden Joseph Goebbels auf, seines Zeichen Propagandaminister des Dritten Reichs.
Der Begriff „Propaganda“ wird sofort mit „Kriegspropaganda“ gleichgesetzt.

Das Kapitel 2 beschreibt u. a. wie ein (nicht nur) rhetorisch begabter Feldherr die Vielzahl der erscheinenden Zeitungen auf genau EINE Zeitung reduzierte, deren Chefredakteur er der Einfachheit gleich selbst war.
Die Vielfalt der Informationen wird auf eine einzige Informationsquelle kanalisiert, die natürlich nur höchst einseitig berichtet. Das Volk erhält nur jene Nachrichten, die dem Herrscher opportun erscheinen.

In Kapitel 3 lernen wir die Methoden kennen, wie diese geschönten Nachrichten unters Volk kommen. Den Medien kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. Hatte man früher Bänkelsänger oder Marktschreier, die die neuesten Nachrichten mit entsprechender Verzögerung an den Mann oder die Frau brachten, so ist die Erfindung des Buchdrucks ein Meilenstein in der Verbreitung von Informationen. Jeder, der es sich leisten konnte, vermochte Flugzettel drucken zu lassen. Die Lesekundigen wurden mehr und so vervielfältigten sich die Empfänger von Nachrichten. Vor rund 200 Jahre – während der Napoleonischen Kriege – beginnt so richtig die Zeit der Propagandisten. Alle kriegführenden Herrscher beteiligten sich am Wettrüsten der Worte, das während der beiden Weltkriege eine Hochblüte erlebte.
Doch auch heute erschüttern getürkte (oh, wie politisch unkorrekt) Meldungen die Öffentlichkeit. Allerdings ist die Geschwindigkeit mit denen die Falschmeldungen in Umlauf gebracht werden, um mehrere Potenzen höher.

In Kapitel 4 werden die Sender/Empfänger-Beziehungen untersucht. Wenn der Sender keinen Empfänger hat, gibt es keine Kommunikation. Wie perfide diese Relationen aufeinander abgestimmt sind, erleben wir tagtäglich.


Der Sender muss den Nerv des Empfängers treffen, um seine Botschaft wirksam anzubringen.

In Kapitel 5 plaudert Alexandra Bleyer aus dem Nähkästchen der Propaganda-Chefs und fördert schier Unglaubliches zu Tage. Viele dieser Propagandalügen denen die Bevölkerung aufgesessen sind, werden entweder sehr spät oder nur unzureichend zugegeben. Ein probates Mittel ist die ständige Wiederholung einfacher Texte und/oder suggestive Inhalte. Es wird mit Angst und Schrecken (natürlich nur der anderen) gearbeitet.

Das Kapitel 6 zeigt auf, in welch vielfältigen „Verkleidungen“ Propaganda auftreten kann. So werden als Wahrheit kaschierte Lügen unter das Volk gebracht werden. Oft kann nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterschieden werden.


Wenn die Alliierten den Nachrichten von den Gräueln in den Vernichtungslagern der Nazis keinen Glauben schenkten, so ist dies zum Teil ihrer eigenen (Gräuel)Propaganda des Ersten Weltkriegs zuzuschreiben.

In Kapitel 7 beschäftigen wir uns mit den „Topargumenten“ der Propaganda um Kriege zu beginnen. Von „der andere ist schuld“, „wir müssen uns verteidigen“ bis hin zum Paradebeispiel eines von der Propaganda inszenierten Kriegsgrunds (Überfall auf den Sender Gleiwitz) sind hier allerlei Abstufungen angeführt.


Die Gründe einen Krieg zu beginnen sind vielfältig, die Argumente der Propagandisten ebenfalls.

In Kapitel 8 wird beleuchtet, wie die Propagandachefs mit Menschen umgehen, die sich (aus welchen Gründen auch immer) der Propaganda entziehen und die vorgegebene Wirklichkeit kritisch hinterfragen. Man versucht es mit Argumenten, Umerziehung, Mund-tot-machen und letztlich (staatlich sanktionierten) Mord.

Das Kapitel 9 beschäftigt sich mit der Frage ob es möglich ist, nach einem Krieg, zu „normalen“ Beziehungen zwischen den Kriegsteilnehmern kommen kann.

Meine Meinung:

Der Schreibstil ist sachlich und nüchtern. Viele Zitate und Beispiele helfen den Lesern den schweren Stoff zu verdauen. Ein ausführlicher Anhang mit weiterführender Literatur lässt den interessierten Leser vermutlich zu der einen oder anderen zusätzlichen Lektüre greifen.

Dieses Buch ist längst nötig und fällig gewesen. Kaum jemand kann sich der Propaganda entziehen, auch wenn sie gerne als „PR-Maßnahme“ oder „Marketing“ verkauft wird. Erst kürzlich abgehaltene Wahlen in mehreren westlichen Staat zeigen deutlich, dass auch Demokratien nicht von Propagandisten verschont werden. In Zeiten von sozialen Netzwerken erreichen Nachrichten (egal ob echt oder falsch) ihre Empfänger in Sekundenschnelle und haben einen Multiplikator, bei dem einem schwindlig wird.

Es liegt an uns, diese Mechanismen zu durchschauen und dagegen zu wirken, „denn Propaganda wirkt nur, solange sie nicht als solche erkannt wird“ (S.8)

Veröffentlicht am 02.04.2018

Der Regisseur Europas

Das System Metternich
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Die Historikerin und Autorin Alexandra Bleyer entführt uns in die Welt des Biedermeiers.
Napoleon Bonaparte ist endgültig besiegt und die Herrscher verhandeln auf dem Wiener Kongress um die Neuordnung ...

Die Historikerin und Autorin Alexandra Bleyer entführt uns in die Welt des Biedermeiers.
Napoleon Bonaparte ist endgültig besiegt und die Herrscher verhandeln auf dem Wiener Kongress um die Neuordnung Europas.
Federführend ist Fürst Metternich, der dieser Epoche seinen Stempel aufdrückt. Er wird nicht nur als „Kutscher Europas“ in die Geschichte eingehen, sondern vor allem als Repräsentant des Überwachungsstaates. Allerdings gelingt es ihm auch, durch zähes Ringen um auch noch so kleine Kompromisse ein Jahrhundert des relativen Friedens für Europa auszuhandeln. Doch der Frieden hat seinen Preis: Spitzel und Denunzianten, von der Staatsmacht sanktioniert, haben Hochkonjunktur.


Doch Metternichs liebste Hobby sind die Frauen: neben seiner eigenen, liegt ihm das Who is Who der (Hoch)Adeligen zu Füßen.

Die Sehnsucht der Untertanen nach Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, die 1789 mit der Französischen Revolution los getreten wurde, lässt sich nicht mehr verhindern. In den Revolutionen 1830 und 1848 werden diese Ideen und Ideale blutig niedergeschlagen.
Metternich, der Neugestalter Europas muss aus Wien flüchten. Manch anderer Vertreter der Obrigkeit wie Graf Latour bezahlt mit seinem Leben.
Doch die Saat keimt und wird sich während des Ersten Weltkriegs entladen.

Aus der Distanz von zwei Weltkriegen und der Gründung der Europäischen Union, scheint Metternichs Idee von einem vereinten Europa eine recht vernünftige zu sein. Dass die Umsetzung der Vereinigten Staaten von Europa nach ähnlich dem Vorbild der USA nicht gelingen kann, liegt zum Teil am (noch immer) nationalistischen Denken der einzelnen Staaten, die vor 200 Jahren einer Neuordnung Europas zugestimmt haben.

Meine Meinung:

Alexandra Bleyer versteht es wie keine Andere, trockene, historische Zahlen, Daten und Fakten, mit einem gehörigen Augenzwinkern an den Mann/an die Frau zu bringen. Dazu tragen die vielen Anekdoten, Zitate und Bonmots, die ihr zweites Sachbuch über diese Zeit, auflockern, bei. Empfohlen sei auch Bleyers anderes (erstes) Buch „Auf gegen Napoleon“.

Fazit:

Für alle historisch Interessierten und jene, die es noch werden wollen. Gerne vergebe ich fünf Sterne.

Veröffentlicht am 02.04.2018

Verloren in den Weiten Russlands von 1812

Die Verlorenen
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Gleich einmal vorweg: dieses Sachbuch ist NICHTS für Zartbesaitete. Autor Eckart Kleßmann lässt über 80 Teilnehmer des Russlandfeldzugs zu Wort kommen. Nicht alle haben überlebt, aber ihre Briefe, Tagebucheintragungen ...

Gleich einmal vorweg: dieses Sachbuch ist NICHTS für Zartbesaitete. Autor Eckart Kleßmann lässt über 80 Teilnehmer des Russlandfeldzugs zu Wort kommen. Nicht alle haben überlebt, aber ihre Briefe, Tagebucheintragungen und Berichte haben sich erhalten. Christian Wilhelms von Faber du Faur, ein Württemberger und Oberleutnant des Rheinbundes, hält seine Eindrücke als Militärmaler in farbigen Skizzen fest, die später (1831) als einzigartige Dokumente veröffentlicht werden.

In 21 Kapiteln erfährt der Leser zum Teil erschütternde Details aus diesem Feldzug. Allerdings stehen nicht die militärischen Operationen im Mittelpunkt, sondern persönliche Schicksale der Menschen, die daran teilnehmen. Im ersten Abschnitt wird die politische Ausgangslage erläutert. Auch den Vorbereitungen Napoleons für den Feldzug werden detailliert beschrieben. So soll Napoleon grün gefärbte Brillengläser als Blendschutz gegen den Schnee geordert haben. Das klingt doch fortschrittlich und gewissenhaft, oder?

Im zweiten Kapitel erfahren wir, wie Napoleon die Nachschubfrage, die Logistik und die Unterbringung der mehr als 500.000 Mann starken Armee geplant hat. Dass sich diese theoretischen Überlegungen nicht umsetzen ließen, bekommen die Soldaten am eigenen Leib zu spüren und die Leser in den nachfolgenden Abschnitten vor Augen geführt.

Interessant ist die Überheblichkeit der französischen Soldaten, der in die Armee zwangsrekrutierten Männer aus den eroberten Gebieten gegenüber. Da werden vor allem, die aus den Deutschen Fürstentümern stammenden Männer, sowohl bei der Ausrüstung als auch bei Zuteilung von Verpflegung eklatant benachteiligt. Bei den Kämpfen „dürfen“ sie allerdings als Kanonenfutter gleich an vorderster Front ihr Leben aufs Spiel setzen. In einzelnen Berichten ist auch von Handgreiflichkeiten zwischen den unterschiedlichen Kontingenten die Rede.
Im Gegensatz dazu, sind die Russen beinahe eine einheitliche Armee. Sie verteidigen ja ihre Heimat gegen Andersgläubige. Hier hat die russische Propaganda ganze Arbeit geleistet: die Franzosen werden als Heiden (!) dargestellt.

Die Schilderung der Augenzeugen von Kämpfen, fehlendem Nachschub, sterbenden Menschen und Pferden ist eindrucksvoll. Sie hat mit dem Glanz und Glorie der Grande Armée wenig zu tun.
Mehrere Fehlentscheidungen wie die Übertragung eines Kommandos an Marschall Junot (der nach einer schweren Kopfverletzung nicht mehr derselbe wie vorher war), sowie der zwanghafte Vormarsch Napoleons werden ebenso erwähnt, wie die Warnungen von Armand de Caulaincourt, dem ehemaligen Gesandten in St. Petersburg. Armand de Caulaincourt wird später einer der wenigen Getreuen sein, die Napoleon bei seiner Flucht aus Russland begleiten werden.
Auguste de Caulaincourt, sein jüngerer Bruder, wird in der Schlacht bei Borodino fallen.
Ein eklatanter Irrtum ist Napoleon bei der Versorgung der Pferde unterlaufen: Bereits beim Einmarsch in Russland sind tausende Reit- und Zugtiere mangels Nahrung verendet. Dann noch ein folgenschwerer Fehler: er lässt die Wagen der Sappeure (= Pioniere), die Material und Pontons zum Brückenbau mitführen, aus Mangel an Zugtieren, trotz vehementer Proteste, verbrennen. Dies sollte sich dann beim Rückzug rächen.

Ein Großteil der Berichte schreibt über die katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Lagern und Lazaretten. Selbst der berühmte Chirurg Jean-Dominique Larrey kann nichts zur Linderung der Not ausrichten. Es fehlen ausgebildete Ärzte und Sanitäter, sowie Verbandsmaterial und Medikamente. Die Wunden werden mit Akten verbunden…
Ein besonderer Augenzeuge ist auch der deutsche Arzt Heinrich von Roos, der in Russland bleiben und dort eine Arztpraxis aufmachen wird.

Je länger der Feldzug dauert, desto katastrophaler sind die Zustände. Anstatt in Moskau zu überwintern, befiehlt Napoleon den Abmarsch. Inzwischen hat er mehr als die Hälfte seiner Armee durch Kälte, Nahrungsmangel, Krankheiten und nur zum geringen Teil durch Kämpfe verloren.
Auf Grund der fehlenden Nahrung kommt es zu Kannibalismus. Hier widersprechen sich die Augenzeugenberichte ein wenig. Doch macht dies die Dokumente glaubwürdiger. Ein Großteil der Ausrüstung wird von korrupten Lieferanten gar nicht geliefert.
Auch die Berichte über gezielte Ermordung von Gefangenen auf beiden Seiten sind nicht einheitlich. Vermutlich sind manche Schreiber Augenzeugen dieser Kriegsverbrechen geworden, andere nicht. Doch wenn schon die kämpfende Truppe hungert, sollen auch noch Gefangene verpflegt werden? Und die vielen Invaliden, die ohnehin kaum Überlebenschancen haben? Ist es hier nicht „humaner“, die Menschen von ihren Qualen zu erlösen?

Wer sind nun die Berichterstatter? Mehrheitlich einfache Soldaten wie Friedrich von Harpprecht, der nach der Amputation eines Beines vorerst überlebt, aber dann seine Heimat und Eltern doch nicht mehr wiedersehen wird. Auch andere deutsche, schweizerische, französische und russische Augenzeugen kommen zu Wort, darunter hohe Militärs wie der zu Beginn schon genannte Armand de Caulaincourt und bekannte Persönlichkeiten wie Stendhal.

Ihr Leidensweg zeigt deutlich wie nie zuvor, wie sinnlos dieser Feldzug nach Russland war, der wegen wirtschaftlicher Interessen geführt wurde. Außer unzähligen Toten, verbrannte Erde und einer Materialschlacht hat der Krieg nichts gebracht. Knapp 130 Jahre später wird man ein déjà vu-Erlebnis haben, als ob dieser Feldzug gegen Russland niemals stattgefunden hätte.

Die Soldaten erlebten unfassbare Gräuel und Leid, auf einem völlig sinnlosen Feldzug, der hauptsächlich dazu diente, die Eitelkeit eines einzigen Mannes zu befriedigen.

Neben den unterschiedlichen Augenzeugenberichten und Briefe veranschaulichen zahlreiche Illustrationen, die alle von mehreren Teilnehmern des Feldzugs stammen, das Kriegserleben des einzelnen Soldaten. Im Anhang findet man ein Verzeichnis der Zeitzeugen und eine farbige Landkarte.

Fazit:

Wer sich nicht scheut, die blutige und grausame Geschichte dieses Feldzugs abseits von Glanz und Gloria, zu lesen, ist hier richtig. Hier kommen die Leidtragenden zu Wort.