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Veröffentlicht am 22.03.2021

Ausweglos

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Die Südkoreanerin Kim Jiyoung ist verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, als sie 2015 plötzlich schizophrene Schübe erleidet. Sie schlüpft gegenüber ihrem Mann in die Rolle ihrer Mutter, ihres Kindes ...

Die Südkoreanerin Kim Jiyoung ist verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, als sie 2015 plötzlich schizophrene Schübe erleidet. Sie schlüpft gegenüber ihrem Mann in die Rolle ihrer Mutter, ihres Kindes oder einer Freundin und artikuliert deren Bedürfnisse, als wären es ihre. Danach kann sie sich an nichts erinnern. Im Folgenden arbeitet ein Psychiater Jiyoungs Lebensgeschichte auf, die in diesem Buch erzählt wird.

Der Ton des Romans ist dann auch sachlich berichtend und hat mich gerade dadurch berührt. Hier wird nicht erklärt oder bewertet, sondern ein durchschnittliches Frauenleben beschrieben. Für Jiyoungs Familie beginnt es bereits mit einer Enttäuschung, hatte diese doch auf einen Sohn gehofft. Werden Jiyoung und ihre ältere Schwester dennoch von ihren Eltern geliebt? Nichts spricht dagegen. Aber sie sind eben „nur“ Mädchen. Mädchen, die in einer erschreckend patriarchalischen Gesellschaft von Beginn an systematisch diskriminiert werden. Und die dennoch viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten haben als ihre Mütter und Großmütter und dadurch in einem seltsamen Spannungsfeld aufwachsen.

Ungewöhnlich wird die Geschichte dadurch, dass Jiyoung eben nicht die rebellierende Heldin ist, über die normalerweise Romane geschrieben werden. Schon auf dem Cover ist sie gesichtsloser Durchschnitt. Jiyoung akzeptiert die Sonderstellung des kleinen Bruders. Sie geht nicht auf die Barrikaden, weil Mädchen keine Klassensprecherinnen werden können. Sie wird nicht wütend, wenn man ihr Schuldgefühle einredet, weil Jungen sie belästigen. Kurz gesagt ist sie so, wie die Gesellschaft sie haben möchte: folgsam, angepasst, diszipliniert und strebsam. Jiyoung ist von klein auf bewusst, dass sie besser sein muss als ihre männlichen Altersgenossen. Doch sie erfährt auch immer wieder, dass selbst das nicht reicht, um annähernd gleiche Chancen zu bekommen: in der Schule, im Studium, im Job.

Autorin Cho Nam-Joo unterfüttert ihren Roman ab und an mit Fußnoten, in denen sie genannte Zahlen belegt, z.B. zu Abtreibungen oder zum Gender-Pay-Gap. Die lakonische Erzählung bekommt dadurch noch mehr Gewicht. Die männlichen Nebenfiguren bleiben blass in diesem Roman, Protagonistin Jiyoung ist es jedoch auch – auf eine erschütternde Weise. Sie ist nicht die sanfte Lenkerin ihres Mannes, wie ihre Mutter. Sie begehrt nicht auf, wie ihre Schwester. Sie erfüllt die Erwartungen, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hat. Und führt den Lesenden vor Augen, was sie davon hat: nicht das Leben, das sie wollte.
Die Situation in Südkorea ist speziell, Jiyoungs Geschichte jedoch trotzdem universell – einzelne Aspekte ihres Lebens werden überall nachvollzogen werden können. Und so entwickelt dieser emotionslos und kompakt erzählte Roman einen ganz eigenen, traurigen Nachhall und rüttelt gerade dadurch auf.

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Veröffentlicht am 12.03.2021

Ein Pageturner über zwei starke Frauen

Der Tausch – Zwei Frauen. Zwei Tickets. Und nur ein Ausweg.
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„Der Tausch“ von Julie Clark beginnt brenzlig: Claire Cook, Ehefrau eines Mäzens aus bestem Hause, hat ihr spurloses Verschwinden minutiös geplant. Sie will eine Geschäftsreise für die Familienstiftung ...

„Der Tausch“ von Julie Clark beginnt brenzlig: Claire Cook, Ehefrau eines Mäzens aus bestem Hause, hat ihr spurloses Verschwinden minutiös geplant. Sie will eine Geschäftsreise für die Familienstiftung nutzen, um ihren gewalttätigen Ehemann Rory zu verlassen und unter falschem Namen ein neues Leben anzufangen. Doch dann geht alles schief: Rory entscheidet kurzfristig, die Reise an Claires Stelle anzutreten und seine Frau nach Puerto Rico zu schicken. Das vereitelt nicht nur ihren Plan; Claire muss auch befürchten, dass Rory ihre Vorkehrungen entdeckt. Sie ist in Panik, als sie am Flughafen eine Fremde trifft, die dasselbe will wie Claire: spurlos verschwinden. Und so tauschen Claire und Eva spontan Boardingpässe, Kleidung und Handtaschen bevor sie an das jeweilige Ziel der anderen fliegen. Doch in Berkeley, Kalifornien, wartet schon die nächste Hiobsbotschaft auf Claire …

Julie Clark widmet sich ihren beiden starken Protagonistinnen abwechselnd und gestaltet beide Charaktere überzeugend aus. Claire und Eva haben Schicksalsschläge zu verkraften; letztere war am Flughafen außerdem nicht ehrlich. Ihre Geheimnisse werden nach und nach in Rückblicken enthüllt. Claire dagegen findet sich fast mittellos in einem fremden Leben wieder, das sie nicht durchschaut. Durch die beiden unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen liest sich „Der Tausch“ äußerst kurzweilig. Die Nöte der Figuren sind gut nachvollziehbar, die Ausweglosigkeit ihrer jeweiligen Situation auch. Clark setzt mehr auf Psychologie als auf Action, überrascht dabei aber immer wieder mit unvorhersehbaren Twists. Ich habe mitgefühlt, mitgerätselt und mitgefiebert. „Der Tausch“ ist ein gelungener Pageturner!

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Veröffentlicht am 09.03.2021

Der Sommer seines Lebens

Hard Land
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Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter ...

Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Was für ein Einstieg! Ich-Erzähler Sam berichtet davon, wie sich sein ganzes Leben innerhalb weniger Wochen verändert. Ein Leben, in dem sich der fast 16-jährige Außenseiter nicht allzu wohl fühlt: Seine Heimatstadt Grady ist ziemlich verschlafen, sein einziger Freund weggezogen, sein Vater arbeitslos und seine Mutter hat einen Hirntumor. Doch als er in den Sommerferien einen Job im örtlichen Kino annimmt, lernt er Cameron, Hightower und Kirstie kennen, die Grady im Herbst verlassen und aufs College gehen werden. Erst belächeln sie Sam, aber schließlich wird aus der Dreier- eine Viererclique. Und so wird dieser Sommer aufregend, wundervoll und komisch, aber auch todtraurig. Und am Ende ist Sam ein anderer.

Benedict Wells ist 1984 in München geboren, sein Roman spielt nur ein Jahr später in Missouri. „Hard Land“ liest sich allerdings so atmosphärisch dicht, dass nicht nur der Autor die staubigen Straßen des Mittleren Westens bestens zu kennen scheint, sondern man sie selbst vor sich sieht. Neben Gradys Kinoprogramm, das ein Wiedersehen mit „Zurück in die Zukunft“ und anderen Klassikern möglich macht, wird auch die Musik der 80er immer wieder erwähnt: sie läuft im Fernsehen, auf Partys und im Bruce-Mobil, in dem ausschließlich Springsteen-Songs gespielt werden dürfen. Am Ende des Romans hat Wells den Soundtrack zum Buch sogar aufgelistet; wobei ich schon beim Lesen Ohrwürmer von „I’m on fire“ und „Dancing with myself“ bekam.

Die Geschichte wirkt bis ins kleinste Detail stimmig, aber vor allem berührt sie. „Hard Land“ ist ein sensibel erzählter Coming-of-Age-Roman, der weder vor den großen noch kleinen Emotionen zurückschreckt, ohne je ins Rührselige abzudriften. Einfühlsam und vor allem großartig geschrieben, widmet er sich einem ganz besonderen Sommer und enthält dabei ein paar Wahrheiten, die nostalgisch und nachdenklich machen. Absolute Empfehlung.

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Veröffentlicht am 03.03.2021

Wenn die Humanität auf der Strecke bleibt

Boat People
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Dieser beeindruckende Roman zeigt Kanada als Einwanderungsland. Sharon Bala beschreibt es aus der Perspektive eines tamilischen Flüchtlings, einer Jurastudentin und einer Asyl-Entscheiderin. Der Flüchtling, ...

Dieser beeindruckende Roman zeigt Kanada als Einwanderungsland. Sharon Bala beschreibt es aus der Perspektive eines tamilischen Flüchtlings, einer Jurastudentin und einer Asyl-Entscheiderin. Der Flüchtling, Mahindran, richtet all seine Hoffnung auf ein neues Leben mit seinem sechsjährigen Sohn Sellian, nachdem ihre komplette Familie im sri-lankischen Bürgerkrieg umgekommen ist. Als sie dann aber 2009 mit 500 anderen Tamilen auf einem verrosteten Frachter in British Columbia ankommen, werden sie getrennt: Während Frauen und Kinder zusammenbleiben, werden die männlichen Flüchtlinge separat in einem leeren Gefängnis untergebracht und warten da auf ihre Anhörungen – monatelang. Sellian kommt zu einer kanadischen Pflegefamilie, die kein Wort Tamil spricht. Seinen Vater sieht er nur noch samstags im Gefängnis.

Die Jurastudentin Priya befasst sich im Rahmen eines Praktikums wider Willen mit dem Fall – eigentlich möchte sie sich auf Körperschaftsrecht spezialisieren, doch ein Senior Counsel der Kanzlei vereinnahmt sie, um die Flüchtlinge auf ihre Anhörungen vorzubereiten. Nicht ganz zufällig, denn Priya hat tamilische Wurzeln. Und dann ist da noch Grace Nakamura, die als Mitglied einer Prüfungskommission darüber entscheidet, ob die Tamilen in Kanada einen Asylantrag stellen dürfen. Sie soll die Schwarzweiß-Maßstäbe einer reichen Industrienation auf die 500 Männer, Frauen und Kinder anwenden, die in Sri Lanka um das nackte Überleben kämpfen mussten und stößt dabei an ihre Grenzen. Und auch privat lässt sie das Thema Einwanderung nicht los: Bei ihrer demenzkranken Mutter kommen Kindheitserinnerungen hoch; Graces Großeltern sind selbst als japanische Flüchtlinge ins Land gekommen.

Balas Geschichte ist universell: Die „Boat People“ könnten aus jedem Krisengebiet stammen und statt Kanada auch ein anderes westliches Land angesteuert haben. Der Roman handelt von Flucht und Vertreibung, Terrorangst und Bürokratie. Bala wertet nur selten; sie zeigt Verständnis für alle Seiten und verdeutlicht dabei still und leise, wie die Humanität auf der Strecke bleibt. Und dass niemand als „Boat People“ geboren wird; dass es keine leichtfertige Entscheidung ist, die Heimat zu verlassen und auf ein marodes Schiff zu steigen. Manchmal liest sich der Roman herzzerreißend, wenn z.B. in Rückblicken erzählt wird, was der Abzug der Vereinten Nationen aus dem tamilischen Rebellengebiet für die Zivilbevölkerung bedeutete. Es gibt aber auch kleine Lichtblicke: Die Mitmenschlichkeit, die man im System vergebens sucht, existiert im Kleinen, Privaten durchaus.
Die „Boat People“ rühren an etwas, vor dem man nur zu gern die Augen verschließt: dem Leid der anderen, die weit weg leben. Sharon Bala bringt den Lesenden das Thema Migration ganz, ganz nah.

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Veröffentlicht am 26.02.2021

Etwas ganz Besonderes

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
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Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons ...

Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons of Color (BPoC) sind und unter anderem afrikanische Wurzeln haben.

Die Autorin Bernadine Evaristo gibt den Geschichten in „Mädchen, Frau etc.“ Struktur, indem sie die ersten vier Kapitel nach dem gleichen Schema anordnet: mit je drei Unterkapiteln, die jeweils den Namen der Figur tragen, deren Leben auf ungefähr 40 Seiten beleuchtet wird. Zwei der drei Unterkapitel-Protagonistinnen sind Mutter und Tochter, die dritte zumindest mit einer von beiden bekannt. Los geht es mit Amma, einer bisexuellen Theaterregisseurin kurz vor der Premiere ihres ersten im National Theatre in London aufgeführten Stücks. Und mit der nachfolgenden Premierenparty schließt sich auch der Kreis; ihr ist das fünfte und letzte Kapitel dieses Romans gewidmet.

Der klare Aufbau hat mir bei der Orientierung im Buch geholfen; der Zusammenhang der episodenhaften Geschichten lässt sich gut erfassen. Ich empfehle Lesepausen und habe nach jeder Frauenfigur eine gemacht. Die geschilderten Erfahrungen und Entwicklungen sind so verschieden, dass ich sie erst einmal auf mich wirken lassen wollte. Evaristo ergründet die Charaktertiefen ihrer Figuren; auf verhältnismäßig wenigen Seiten kommt sie jeder Einzelnen sehr nah. Das liest sich intensiv und nicht immer ganz einfach. Kapitel, deren Fokus auf zwischenmenschlichen Verwicklungen liegt, habe ich zum Teil verschlungen, andere beschäftigen sich expliziter mit dem Genderthema und sind dadurch theoretischer. Im Laufe des Kapitels zu Megan/Morgan wurde mit „sier“ sogar ein neues Personalpronomen verwendet, von dem ich noch nie gehört hatte, weswegen es meinen Lesefluss erst einmal ziemlich ausgebremst hat.
An Evaristos besonderen Stil habe ich mich dagegen schnell gewöhnt: Sie benutzt kaum Punkte, sondern Absätze, um ihre Sätze zu strukturieren. Dass die Zeichen am Ende eines Satzes meist fehlen, ist mir kaum aufgefallen, aber mit ihren Absätzen verleiht die Autorin ihrem Text noch einmal viel mehr Wucht und betont zum Teil sogar einzelne Wörter, was das Leseerlebnis extra eindrücklich werden lässt.

Mich hat sehr fasziniert, wie Evaristo ihre Frauenfiguren mit deren vielfältigen Geschichten und Erfahrungen zum Leben erweckt. Sie sind so divers, wie Frauen nur sein können: aufopferungsvoll, borniert, ehrgeizig, ängstlich, rassistisch, stolz, fürsorglich, arrogant, verliebt, gehässig, antriebslos … Die Geschichte jeder einzelnen hätte für die Hauptfigur eines eigenen Romans gereicht, und mehr als einmal habe ich mir gewünscht, dass die Autorin noch einen über sie schreiben wird: z.B. über Bummi, die in Nigeria eine von Verlusten geprägte Kindheit hatte und das Leben ihrer Tochter Carole, einer Oxford-Absolventin, kaum mehr nachvollziehen kann. Oder über ebendiese Carole, die ein Trauma überlebt, Freundschaften geopfert, gekämpft und sich angepasst hat, um es als schwarze Frau in der Londoner Businesswelt nach oben zu schaffen, die aber trotzdem nicht glücklich wirkt. Über Hattie, die ihren Hof bis ins hohe Alter allein bewirtschaftet und ihre weitverzweigte Nachkommenschaft zu großen Teilen nicht besonders mag. Sie alle sind stark und verletzlich und haben Erfahrungen gemacht, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man weiß ist. Bernadine Evaristos Roman ist horizonterweiternd, bereichernd, sensationell gut geschrieben und hat mich sowohl begeistert als auch zum Nachdenken angeregt.

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