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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 21.02.2018

Die Weberhöhe ist überall

Kühn hat zu tun
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Martin Kühn, Leiter der Mordkommission München, lebt mit seiner Familie auf der Weberhöhe, einem recht beschaulichen Neubauviertel vor den Toren Münchens. Bisher lief sein Leben in wohlgeordneten Bahnen, ...

Martin Kühn, Leiter der Mordkommission München, lebt mit seiner Familie auf der Weberhöhe, einem recht beschaulichen Neubauviertel vor den Toren Münchens. Bisher lief sein Leben in wohlgeordneten Bahnen, doch seit einiger Zeit kommt Kühn nicht mehr zur Ruhe. Die Gedanken rasen, Alltägliches scheint zum Problem zu werden und als fast unmittelbar vor seinem Gartengrundstück ein Toter gefunden wird, droht seine Gedankenflut zu eskalieren - was sich auch auf seine Arbeit und sein Privatleben auswirkt.
Gut, dass auf dem Cover 'Roman' steht und nicht Krimi. Denn trotz des aufzuklärenden Mordes ist es Martin Kühn und das Leben um ihn herum, was im Mittelpunkt dieses Buches steht. Fast schon nebenbei muss halt noch ein Mörder gefunden werden, was dennoch spannend zu lesen ist. Jan Weiler versteht es, diese Welt der Weberhöhe so anschaulich darzustellen, dass man fast schon glaubt, man lebe selber dort. Überwiegend wohnt dort der Mittelstand, der es geschafft hat, sich ein eigenes Haus (oder eine Hälfte) zu leisten, auch wenn er nun hochverschuldet ist. Man gibt sich liberal, umweltbewusst und der Welt zugewandt; doch als es erste Probleme gibt, sind (wie auch woanders) schnell die Schuldigen ausgemacht.
Ganz beiläufig zeigt Jan Weiler hier auf, wie sich Fremdenfeindlichkeit beinahe aus dem Nichts entwickelt und derart radikalisiert, dass es fast zur Lynchjustiz kommt. Aus dem ursprünglichen Wir der Weberhöhe wird bald ein Ihr und Wir sowie ein Jeder für sich. Es wäre leicht, hier in die typischen Klischees zu verfallen, die ja nicht zu unrecht existieren (irgendwie müssen sie auch entstanden sein ), aber dem Autor gelingt es, die Personen (insbesondere natürlich Kühn) so vielschichtig darzustellen, dass er diese Klippe wunderbar umschifft.
Beeindruckend fand ich auch, wie eindringlich das Innenleben der Hauptfigur beschrieben wurde. Diese Gedankenflut, die fortwährend durch Kühns Gehirn strömt und ihn nicht zur Ruhe kommen lässt, löste bei mir ebenfalls eine gewisse Unruhe während des Lesens aus. Ja, so stelle ich mir durchaus jemanden vor, der vielleicht kurz vor einem Burnout steht.
Ein interessante und unterhaltsame Lektüre, in dem man zudem den für Jan Weiler typischen Humor findet, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in anderen seiner Bücher. Das Einzige, was mich etwas störte, war Nikos Wandlung. Etwas plötzlich mit einer ein bisschen zu dürftigen Erklärung - dieses HappyEnd hätte doch auch in den zweiten Band können

Veröffentlicht am 17.02.2018

Gewalt ohne Ende in einem packenden Thriller

Mann am Boden
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Wer Grausamkeiten und Brutalität in geschriebener Form nicht oder nur schlecht ertragen kann, sollte um dieses Buch einen Bogen machen. Denn es ist derart barbarisch und erbarmungslos, dass ich zwischen ...

Wer Grausamkeiten und Brutalität in geschriebener Form nicht oder nur schlecht ertragen kann, sollte um dieses Buch einen Bogen machen. Denn es ist derart barbarisch und erbarmungslos, dass ich zwischen den einzelnen Teilen jeweils eine Pause einlegen musste. Was mir jedoch nicht einfach fiel, denn die Geschichte ist derart nervenzerreißend erzählt, dass es mir schwerfiel, das Buch aus der Hand zu legen.
Der eigentliche Plot ist nicht unbekannt: Einbrecher dringen in ein Haus ein und drangsalieren die BewohnerInnen auf die schlimmste Art und Weise. Trotzdem schnell klar ist, wer und was dahintersteckt, lässt die Spannung keine Sekunde nach. Denn neben dem beschriebenen Angriff gibt es Rückblicke auf die nahe und ferne (10 Jahre) zurückliegende Vergangenheit des überfallenen Ehepaares Turner, die nicht weniger gewaltsam war als die geschilderte Gegenwart und noch immer einen mehr oder weniger starken Einfluss hat.
Sehr eindringlich sind die von Roger Smith dargestellten Verhältnisse in Südafrika, das Land aus dem die Turners kommen und in dem Gewalt in jeder Form praktisch etwas Alltägliches ist. Und der Autor macht deutlich, dass Gewalt immer wieder zu neuer Gewalt führt und auch über Jahre und Jahrzehnte hinweg ihre Spuren hinterlässt (‚…, die mit einer Grausamkeit geplündert, vergewaltigt und gemordet hatten, die nur vom genetischen Gedächtnis geschürt worden sein konnte.‘). Obwohl Smith keinen Gewaltexzess auslässt, schwelgt er nicht darin, das Entsetzliche noch und noch detaillierter zu beschreiben. Stattdessen wird es vergleichsweise nüchtern dargestellt, wobei aber die Innenansicht Turners hinzukommt, was wesentlich schrecklicher wirkt als jedes zusätzliche Detail.
Fazit: Klasse geschrieben in einer unglaublich bildhaften Sprache und buchstäblich spannend bis zur letzten Seite, doch stellenweise nur schwer zu ertragen. Ein toller Thriller, aber auf keinen Fall für schwache Gemüter ?

Veröffentlicht am 14.02.2018

Das Ende einer Freundschaft, die ich vermissen werde

Die Geschichte des verlorenen Kindes
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Lila und Lenu, die Ich-Erzählerin, sind nun beide in den Dreißigern und treffen sich im Rione wieder, dem Ort ihrer Kindheit. Lila hat sich gemeinsam mit Enzo, einem Freund ihrer Kindheitstage, ein erfolgreiches ...

Lila und Lenu, die Ich-Erzählerin, sind nun beide in den Dreißigern und treffen sich im Rione wieder, dem Ort ihrer Kindheit. Lila hat sich gemeinsam mit Enzo, einem Freund ihrer Kindheitstage, ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, während Lenu nach ihrem Studium eine erfolgreiche Autorin wurde. Für ihre große Jugendliebe Nino hat sie ihren Mann verlassen und ist gemeinsam mit ihren beiden Töchtern zurück nach Neapel gezogen. Noch immer verbindet die beiden Frauen ihre Freundschaft aus Kindertagen und als sie zeitgleich schwanger sind, kommen sie sich fast so nahe wie früher. Doch das Leben Beider erfährt jeweils eine dramatische Wendung, die Alles verändert.

So, wie sich die beiden Protagonistinnen im Laufe der Zeit verändern, wandelt sich auch der Stil des Buches. Während in den vorhergehenden Bänden das 'Außenleben' eine wichtige Rolle spielte, sind es nunmehr die Reflexionen der Ich-Erzählerin über sich selbst und ihre Freundin Lila, die überdies zunehmend komplexer werden. Obwohl Lenu mittlerweile gebildet und erfolgreich ist und Lila gerade einmal die fünfte Klasse Grundschule abgeschlossen hat, verspürt Lenu noch immer Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ihrer Freundin. Doch man spürt auch, welchen Einfluss der Rione, ihre neue alte Heimat, auf sie hat. Noch immer ist es ein Ort der Gewalt und der Unterdrückung, obendrein ist mit dem Drogenhandel ein neues Geschäftsfeld aufgetaucht. Die gebildete, erfolgreiche Autorin realisiert, dass ihr diese Welt fremd geworden, während ihre Freundin, die den Rione nie verlassen hat, noch immer ein Teil davon ist. Zunehmend fühlt sich Lenu von Lila manipuliert und benutzt, damit diese ihre eigenen Interessen durchsetzt.

Beim Lesen war ich immer wieder auf's Neue hin- und hergerissen: Ist Lila tatsächlich so ein Biest, wie Lenu sie gelegentlich beschreibt? Oder ist sie nicht vielmehr eine Art Lichtgestalt, einer der wenigen Menschen, die ihre Werte und Überzeugungen auch dann vertreten, wenn sie ihnen zum Nachteil gereichen? Jemand, die sich der Konsequenz ihrer (eventuellen) Handlungen bewusst ist und entsprechend verstandesmäßig entscheidet? Ihren Verstand stets über ihre Gefühle stellt? Und Lenu nur aufgrund ihrer Komplexe Lila alles Mögliche unterstellt? Ich bin mir sicher, diese vier Bände werden künftigen GermanistikstudentInnen eine Menge Material für Interpretationen und Erörterungen bieten

Ich habe die Figuren dieser Neapel-Saga während des Lesens der vier Bände lieb gewonnen und hatte das Gefühl, mich tatsächlich im Rione ein bisschen auszukennen. Vielleicht sollte ich nun, nachdem ich von dort nichts mehr zu Lesen bekomme, mal selber nach Neapel fahren

Veröffentlicht am 14.02.2018

Und was passierte nun eigentlich in der Walpurgisnacht?

Walpurgisnacht
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Als 'spannender Schauerroman und eine wunderbare Lektüre für Gruselfans' wird diese Geschichte angekündigt, doch um ehrlich zu sein, habe ich davon nicht allzuviel mitbekommen.
Hauptfigur ist der pensionierte ...

Als 'spannender Schauerroman und eine wunderbare Lektüre für Gruselfans' wird diese Geschichte angekündigt, doch um ehrlich zu sein, habe ich davon nicht allzuviel mitbekommen.
Hauptfigur ist der pensionierte Arzt Flugbeil, der seinen Lebensabend gemeinsam mit verschiedenen alten Adligen auf dem Hradschin verbringt. Während eines Whistabends erscheint ein seltsamer Mann in den Räumlichkeiten, der die merkwürdige Fähigkeit hat, Vergangenes wieder deutlich ins Bewusstsein zu bringen (auch durch Veränderung seiner Physiognomie) und die Anwesenden damit in Unruhe versetzt. Flugbeil forscht dem Unbekannten nach, der ihn an jemanden erinnert und trifft dabei seine frühere Geliebte, die 'böhmische Liesel', eine mittlerweile auch in die Jahre gekommene frühere Prostituierte. Diese Begegnung verstört Flugbeil mehr als ihm lieb ist ...
Daneben wird die Geschichte von Polyxena und Ottokar erzählt. Sie ist die Nichte einer der Adligen und verliebt sich in einen jungen Studenten, der deutlich unter ihrem Range steht. Während sie über ihre Gefühle nachdenkt, wird ihr klar, dass sie sich zu einer ihrer Vorfahrinnen, der sie täuschend ähnlich sieht, derart hingezogen fühlt, als ob diese versuchen würde, von ihr Besitz zu ergreifen. Weiterhin entdeckt sie, dass sie in der Lage ist, Menschen alleine durch ihren Geist zu manipulieren. Ottokar, der ebenfalls in Liebe zu Polyxena entbrannt ist, wird von den revoltierenden Proletarieren als neuer Herrscher auserkoren, mit ihr an seiner Seite.
Was der Autor mit dieser Geschichte aussagen wollte, ist wohl eine massive Gesellschaftskritik, die sich in erster Linie an den Adel richtet, der beinahe völlig vertrottelt in seinen vier Wänden hockt und ab und zu voller Abscheu auf das niedere Volk herabschaut. Dieses wiederum blickt mit großer Wut nach oben auf den Hradschin und sammelt sich, um den Alten die Macht und das Geld zu entreißen. Verpackt ist dies in mystische Begebenheiten wie beispielsweise Aweysha; die Macht, in andere Menschen einzudringen und diese nach dem eigenen Willen reden und handeln zu lassen.
Auch wenn das Ganze recht schaurig beschrieben ist (die Szenerie ist meist dunkel, muffig; es gibt makabere Stellen mit Trommeln aus Menschenhaut), wirkte das auf mich eher alles amüsant. Zum Einen fand ich dieses Gruselige recht überzogen, zum Anderen sind die handelnden Personen so schräg, skurril und teilweise sogar böse beschrieben, dass ich immer wieder laut lachen musste. Beispielsweise über Baron Elsenwanger, wie er mit seinem Strickstrumpf in der Hand an seinem Schreibtisch sitzt. Oder wie die Whistrunde erfährt, dass Einer der Ihren es gewagt hat, tatsächlich in die Stadt hinunterzugehen. Oder wie Flugbeil traurig über sein einsames Leben jammert: 'Er nickte seinen vergißmeinnichtumrahmten Tigerpantoffeln trübselig zu: "Extra geschmacklos hab ich sie mir bestellt, um mir einreden zu können, sie seien ein Geschenk. Ich habe geglaubt, daß dadurch die heimliche Traulichkeit in meiner Stube einziehen würde."'
Diese Geschichte ist voll gespickt mit Ironie, Esoterik, Ausflüge in verschiedene Religionen, Sarkasmus, Philosophie undundund, für meinen Geschmack aber zuwenig zusammenhängend - selbst die Walpurgisnacht taucht nur am Rande auf. Vielleicht fehlt mir aber einfach das entsprechende Hintergrundwissen, um es richtig einzuordnen. Auf jeden Fall wirkte das Ganze so mehr wie ein Flickenteppich auf mich mit durchaus interessanten und auch amüsanten Einzelteilen.

Veröffentlicht am 14.02.2018

Wenn aus Träumen Realität wird ...,

Die Kieferninseln
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... kann daraus eine tiefgründige und humorvolle Reise nach Japan werden; so wie in diesem Buch.
Gilbert Silvester ist einer jener Männer, die irgendwann feststellen, dass sich ihr Leben nicht so entwickelt ...

... kann daraus eine tiefgründige und humorvolle Reise nach Japan werden; so wie in diesem Buch.
Gilbert Silvester ist einer jener Männer, die irgendwann feststellen, dass sich ihr Leben nicht so entwickelt hat, wie sie es sich in jungen Jahren vorstellten. Statt wie viele seiner früheren Kommilitionen Karriere zu machen, hangelt er sich von Projektvertrag zu Projektvertrag, während seine Frau als Gymnasiallehrerin erfolgreich ist. Eines Nachts träumt er, dass sie ihm untreu ist und als er erwacht, ist klar, dass dieser Traum die Wahrheit darstellt. Fassungslos verlässt er das Haus und fliegt schnellstmöglich so weit weg wie es geht - nach Tokio. Dort plant er eine Reise auf den Spuren des Dichters Bashō, doch noch bevor er sie antritt, kann er den Selbstmord des jungen Japaners Yosa verhindern. Dieser schließt sich ihm an und gemeinsam machen sie sich auf den Weg.
Es ist eine ruhige, stellenweise poetische und auch philosophische Geschichte, die jedoch nicht ohne Humor ist. Gilbert ist ein etwas dröger 'Held', der sich seines beruflichen Mißerfolges zwar durchaus bewusst ist, verantwortlich dafür sind aber die Fehler der Anderen: die Kritikunfähigkeit seines Doktorvaters, der nicht geschätzte Auslandsaufenthalt - irgendwas war immer. Stets ist er das Opfer, nun das seiner Frau, die ihn mit ihrer Untreue (wenn auch nur geträumt) nach Japan getrieben hat. Wirklich amüsant wird es, als er Yosa begegnet und versucht, ihm die Welt zu erklären, die japanische natürlich. Und ihm (gedachte) Vorhaltungen macht, die exakt auf seine eigene Person zutreffen, was mir Gilbert aber wieder sympathischer machte (wie häufig, wenn ich über Personen lächeln muss ).
Voller Poesie sind die zahlreichen Naturbeschreibungen, ganz im Sinne des Dichters Bashō, für den Poesie einen eigenen Lebensstil darstellte; selbst die des Selbstmörderwaldes, der tatsächlich existiert. Und auch die philosophischen Gedankengänge Gilberts von der Bartbetrachtung (seinem aktuellen Forschungsprojekt) bis zum Allmachtsparadoxon sind lesenswert-amüsant.
Ein ungemein vielschichtiges Buch, das mit Genuss und Aufmerksamkeit gelesen werden sollte und aus dem man viel über Japan erfahren kann.