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Veröffentlicht am 18.04.2022

Frühjahrshighlight

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
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Nun sitze ich hier (nachdem ich die 4 Mon Chéri gegessen und das Glas Sekt getrunken habe) und versuche meine Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Roman zu sortieren - super Plan diese Reihenfolge, merke ...

Nun sitze ich hier (nachdem ich die 4 Mon Chéri gegessen und das Glas Sekt getrunken habe) und versuche meine Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Roman zu sortieren - super Plan diese Reihenfolge, merke ich gerade. So würde es Charly Benz, die Protagonistin, wohl auch machen, jedoch wäre mindestens ein zweites Glas und eine Menge karzinogener Substanzen, wie indianische Zigaretten und verkohlte Croissants, mit am Start. Charly ist die Königin des gelebten Chaos, der Stellvertreterkriege, der Postangst und mit ihren 43 Jahren seit über 20 Jahren ‘frühvergreist’ und weit davon entfernt ihre kindlichen Verhaltensmuster an den Nagel zu hängen und das Leben, geschweige denn sich selber, ernst zu nehmen und hat ein erhebliches Problem damit sich mit Müsliriegeln zu identifizieren, aber das ist beruflicher Natur. All das hat sie, soweit möglich, gut im Griff, insbesondere ihre Postangst, denn dafür hat sie den ‘Postengel’, ihren Postverwalter Herrn Schabowski, der weit mehr als nur Ordnung in ihre Unterlagen bringt. Es könnte alles so ruhig und einsam, leer, gefrustet und mit unterirdischem Selbstwert weitergehen, wären da nicht eine Familienaufstellung, eine tödliche Diagnose, drei Männer, eine Schwangerschaft und ein Erbe. Charly und Herr Schabowski beschließen die Einschläge in ihre Blasen und Komfortzonen proaktiv anzugehen und finden überraschende, besondere Wege, die unter anderem ihren Stand auf der Esoterikskala steigen lassen, aber vor allem lernen sie sich selbst neu kennen und mit Achtsamkeit und Respekt ihren demolierten Seelen zu begegnen.

Für diesen Roman spreche ich eine ganz klare Leseempfehlung aus. Die Figuren sind eine bunte Mischung, mal nervig, skurril, lähmend, liebenswert, außergewöhnlich, großartig, vielseitig, chaotisch und einfach toll. Die 503 Seiten sind sehr kurzweilig, kaum und nur wenige Längen, diese jedoch ganz bewusst, denn sonst wäre es nicht Charly, wenn sie uns ihr Leben kurz und simpel erzählen würde. Die Sprache mochte ich sehr, die Autorin hat ein Händchen für gelungene Wortwahl, vor allem hat sie eine riesige Palette an Humor jeglicher Form und Art und ein Gespür für die Entwicklung ihrer Figuren. Ich bin mir sicher, dass dieser Roman etwas polarisiert, man liebt oder hasst ihn, ich glaube allzu viel Grau gibt es nicht dazwischen. Ich liebe ihn und seit dem Beenden des Romans fehlt mir etwas, das Zuklappen des Buches fiel mir schwer, ich wollte mich noch nicht trennen. Ich habe Tränen gelacht und Tränchen vergossen aus Rührung und Mitgefühl, ich bin in die Geschichte und in Charly’s Leben in Berlin eingetaucht und damit auf einer Achterbahn gelandet.
Lest es und lasst euch mitnehmen auf ein ganz besonderes Abenteuer.
Ein ganz klares Highlight im Frühjahr für mich.

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Veröffentlicht am 29.03.2022

Frühlingshighlight

Eine gemeinsame Sache
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“Jede Ehe hat ihre Phasen. Man könnte fast sagen, jede Ehe besteht aus mehreren Leben. Du kannst eine gute Ehe oder eine schlechte Ehe führen, und beide Male ist es dieselbe, nur zu unterschiedlichen Zeiten.” ...

“Jede Ehe hat ihre Phasen. Man könnte fast sagen, jede Ehe besteht aus mehreren Leben. Du kannst eine gute Ehe oder eine schlechte Ehe führen, und beide Male ist es dieselbe, nur zu unterschiedlichen Zeiten.” (S.105)

Ganz klar ist dieses Buch optisch ein Blickfang und dabei auch noch so passend zum Inhalt. Mit dem Äußeren des Romans assoziiere ich eine Patchworkdecke, eine bunte, nach und nach zusammengenähte Fläche aus vielen Einzelteilen. die am Ende ein Ganzes ergeben, ob sie nun wollen oder nicht….und dieses spiegelt für mich für den Roman perfekt. Ich muss also tatsächlich bei diesem Roman etwas machen, was ich sonst nicht tue….die Hülle lobend erwähnen….im Übrigen ist die Originalausgabe optisch das komplette Gegenteil.
Aber nun schlag ich das Buch mal auf und konzentriere mich auf das Wesentliche.
Ich lande im März 2010 und stehe mit dem jungen Pärchen Serena und James am Bahnhof von Philadelphia und warte mit ihnen auf den Zug nach Baltimore, wo die beiden leben. In Philly leben James’ Eltern und heute war also das erste Kennenlernen. Am Bahnhof glaubt Serena ihren Cousin in einem Mann zu erkennen, der ebenfalls auf seinen Zug warte. Für James völlig unverständlich, wie man seine eigene Familie nicht erkennen kann, denn in seiner großen Familie kennt jeder jeden, ist ja schließlich Familie, ein großes Ganzes.
“Das Problem mit großen, offenen Familien war ihre Beschränktheit in Bezug auf weniger offene Familien” (S.23)
Ausgehend von diesen beiden Personen und ihrem Dialog über Familie wirft mich Anne Tyler nun ins Jahr 1959 und ich lerne die Chronik der Familie Garrett kennen mit Stopps in den Jahren 1990, 1997, 2014 und schließlich 2020. Serena’s Wurzeln und was es heißt, wenn sie meint “Selbst wenn alle Garrets zusammenkamen - der Funke sprang gewissermaßen nie über.” (S.30)

““Genau so funktioniert es in einer Familie” sagte sie. “Man erweist sich gegenseitig kleine Gefälligkeiten - verbirgt die eine oder andere unangenehme Wahrheit, sieht über diese oder jene Selbsttäuschung hinweg. Kleine Freundlichkeiten.”
“Und kleine Grausamkeiten.”
“Und kleine Grausamkeiten.” bestätigte sie….” (S. 347)

Bis ich dieses Buch aufschlug, dachte ich wirklich ich sei kaputt, habe an mir gezweifelt, denn irgendwo haben mich viele Bücher in den letzten Monat sehr begeistert, aber so der vom-Hocker-Hauer und mich in Begeisterungsstürme versetzende Roman war nicht dabei. Heute weiß ich, ich bin nicht kaputt, gefehlt hat nur ein Roman wie dieser. Hierbei ist nicht das “was” entscheidet, also nicht die Story an sich, sondern das “wie” und die Antwort ist klar : so und nicht anders. Ich feiere dieses Buch, ich feiere diese Sprache, ich feiere diese feine Beobachtungsgabe von Alltäglichem, ich feiere diesen subtilen und präzisen Stil und ich feiere mein lesendes Nichtkaputtsein dank dieser 352 Seiten.
Ich habe für mich hier gerade eine ganz tolle Erzählerin dazugewonnen und bin so gespannt, was noch alles von ihr in meinen Händen landet, aber fürs Erste genieße ich diesen Flug und das wohlige Gefühl.

PS: aus den Händen zu legen war mir fast unmöglich.

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Veröffentlicht am 20.03.2022

Ich, Ellyn

Ich, Ellyn
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England, 1573
Nell Leyshon entführt mich ins England unter Elisabeth I. auf einen kleinen Bauernhof. Neben Gestank, Dreck und niedrigstem Stand treffe ich auf Licht, Stärke und Mut in Person von Ellyn, ...

England, 1573
Nell Leyshon entführt mich ins England unter Elisabeth I. auf einen kleinen Bauernhof. Neben Gestank, Dreck und niedrigstem Stand treffe ich auf Licht, Stärke und Mut in Person von Ellyn, einem vorpubertären Mädchen.
Ellyn erzählt ihre Geschichte ihrer kleinsten Schwester Agnes und ich darf sie über 224 Seiten begleiten, wie sie ausbricht aus dem harten, entbehrungsreichen Leben mit gelähmtem Vater, einer Mutter, die ihr Selbst aufgegeben hat, einem älteren Bruder, der die körperliche Schwäche des Vater durch Härte ausgleichen möchte und eben Agnes, die neugeborene Schwester, welche Ellyn’s ganzes Herz erfüllt und für die sie Besseres möchte als ihre, diese Welt, in der sie lebt.
Als sie auf dem Markt für die Familie etwas verkaufen soll, hört sie in der Kathedrale Orgelmusik und bei dem Gesang bekommt sie “ein fühlen”, welches ihre ganze Welt verändert, denn neben dem Gefühl ist auch Talent in ihr. Sie erfährt von der Singschule an der Kirche, neben Gesang stehen dort auch Allgemeinbildung und Latein auf dem Lehrplan…der einzige Haken ist, dass es ein Knabenchor ist und Mädchen keinen Wert und Zutritt haben.
Für Ellyn ist die Welt eine Scheibe und natürlich könnte sie am Rand herunterfallen, aber das hält sie nicht davon ab loszulaufen für ihren Traum, das Singen und für mehr als nur die Feldarbeit und in Armut zu leben.

Das wohl Außergewöhnlichste an diesem Roman ist der Stil, denn der bewegt sich abseits von Orthografie, den Regeln der Interpunktion und Grammatik.
“ich denk dran was sie gesagt haben oh wie schade dass sie ein mädchen ist und ich denk ja ich bin ein mädchen aber ich werd nicht weinen denn ich bin stark in arm und bein und ich bin stark in kopf und in dem moment fühl ich diese sache in mir die neue sache die sich ändert ‘sist wie ein samen was gepflanzt worden ist” (S. 56)
Die ersten Seiten waren etwas holprig, aber ich war sehr erstaunt, denn wider Erwarten konnte ich die Geschichte flüssig lesen und Ellyn folgen.

Ein rundum großartiger Roman und meinen besonderen Respekt hat nicht nur Ellyn, sondern auch die Übersetzerin dieses wunderbaren Buches, Wibke Kuhn.
Mit diesem sehr außergewöhnlichen Stil sind Nell Leyshon und Wibke Kuhn, durch ihre gekonnte Übersetzung dieses Durcheinanders an Worten und Sätzen ohne Zeichen, etwas ganz besonderes gelungen: eine authentische, differenzierte, einfühlsame, ehrliche Geschichte von einem Bauernmädchen im 16. Jahrhundert und ein Highlight für mich.
Unbedingt lesen!!!

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Veröffentlicht am 16.03.2022

Dein bestes Leben wartet auf dich

Im Dorf der Schmetterlinge
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“Beruhige deine Angsthasen. Zertrümmere deine schlechten Glaubenssätze und entscheide, welche Dinge dir im Leben wirklich wichtig sind. Und nun: Lass die Schmetterlinge tanzen und den Garten deiner Liebe ...

“Beruhige deine Angsthasen. Zertrümmere deine schlechten Glaubenssätze und entscheide, welche Dinge dir im Leben wirklich wichtig sind. Und nun: Lass die Schmetterlinge tanzen und den Garten deiner Liebe blühen.”

Das Buch aufgeschlagen lande ich im Leben von Jule, die seit einiger Zeit schon das Gefühl hat, nicht weiterzuwissen und in einem Strudel geraten zu sein, aus dem sie keinen Ausweg findet, der sie aber immer weiter von sich und ihrer Freude wegtreibt. Jule ist mit Ende vierzig in den Wechseljahren, lebt mit ihrem Mann aneinander vorbei, insbesondere seit das einzige Kind das Haus verlassen hat, beruflich fühlt sie sich unwohl und zunehmend unsicher gegenüber jüngeren Kolleginnen, zu ihrer Mutter hat sie kaum Kontakt. Die großen Fragen, welche Jule sogar den Schlaf kosten, sind : was will sie, was zählt wirklich für sie, was sind ihre Werte, wohin möchte sie?
In einer heißen Sommernacht, in welcher ihr wieder der Schlaf mangelt, legt sie sich in die Hängematte im Garten und schlummert ein, begibt sich auf eine Traumreise zu sich und ihrer inneren Welt und als sie wieder aufwacht, ist nichts mehr wie es war, obwohl sich für die Augen gar nichts verändert hat.

Gemeinsam mit Jule gehen wir, Leser
innen, auf ihre Reise, denn ohne sich selber zu begegnen ist es nicht möglich diese 224 Seiten zu lesen. Wir haben zu jedem Zeitpunkt die Wahl, wir sind frei und so haben wir, wie Jule, zwei Richtungen, zwischen denen wir an Wendepunkten wählen können…“Die eine Richtung führt direkt in dein altes Leben zurück, und der andere Weg bringt dich in dein bestes Leben….” In unser bestes Leben zu kommen, unsere beste Version von uns selber zu leben, ist wohl das schönste Ziel, jedoch auch der schwerste Weg, denn es bedeutet die Komfortzone zu verlassen, sich seinen Ängsten zu stellen, sehen, dass die Seele die Farben unserer Gedanken annimmt, was bisweilen also sehr grau sein kann, sich mit der Vergangenheit und vielen Verletzungen zu beschäftigen, kurz: sich sich selbst zu stellen.

Michaela Wiebusch und Rita Erz haben hier eine wunderbare Geschichte gestrickt, sehr schön illustriert von Gisela Goppel, in welcher ich insbesondere die bildhafte Sprache hervorheben möchte, voller Metaphern und damit greifbarer als jede lange Erklärung mit zig Worten.
So begegnet Jule u. a. ihren Ängsten in Form von panischen Hasen, richtig, Angsthasen und lernt diese zu beruhigen.

Klare Empfehlung ab einem Alter von 35, darunter auch empfehlenswert, aber aufgrund Jule’s Leben wird dann womöglich die Identifikation mit der Protagonistin was schwieriger.

Ein niedliches und angenehmes Buch über das Leben und den Wunsch nicht mehr Opfer der eigenen Historie, der Lebensumstände, Gedanken und Gefühle und inneren Mustern zu sein, sondern das Ruder selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung für sich zu übernehmen und das Älterwerden als Geschenk mit Dankbarkeit anzunehmen und Wachstum in jedem Schritt zu erkennen.

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Veröffentlicht am 05.06.2021

Nostalgisch, sommerlich leicht

Der große Sommer
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Der Autor nimmt Leser*innen mit in die Anfänge der 1980'er und dort in eine sommerliche Coming-of-Age Geschichte.

Interessant und spannend wird die Familiengeschichte des 16 jährigen Frieder erzählt. ...

Der Autor nimmt Leser*innen mit in die Anfänge der 1980'er und dort in eine sommerliche Coming-of-Age Geschichte.

Interessant und spannend wird die Familiengeschichte des 16 jährigen Frieder erzählt. Die Sommerferien verbringt er bei seiner warmherzigen Großmutter und dem autoritären, strengen Großvater, statt mit seinen Eltern und den Geschwistern in den Urlaub zu fahren, denn er muss für die Nachprüfungen in Latein und Mathe büffeln. Wie bei einer Zwiebel löst der Autor Schicht für Schicht behutsam die Geheimnisse der Familienhistorie.

Für mich nostalgisch und mit vielen Erinnerungen an die eigene Jugend mit all den Gefühlsachterbahnfahrten. Die Aufbruchstimmung und die Emotionen dieser besonderen Entwicklungsphasen transportiert der Autor greifbar und mit stellenweise atmosphärischer Dichte, gleichzeitig bleibt eine gewisse Leichtigkeit und die Zuversicht, dass es immer weitergeht. Manche Situationen im Leben, und davon erzählen die Figuren in dem Romane einige, prägen und bleiben lebenslang, andere Probleme und Sorgen, manch ein Kummer, lösen sich in Luft auf.

Zu diesem Roman fallen mir allerlei Adjektive ein, die meine Leseeindrücken beschreiben….kurzweilig, sommerlich leicht, angenehm, flüssig, unterhaltsam, poetisch, sinnlich, tiefgründig, bildstark, anschaulich, lebendig, vorhersehbar, einfühlsam, amüsant, zärtlich, warm, spannend, melancholisch, sind nur einige davon.

Ich habe den Roman gerne gelesen, mich wohl gefühlt und bin gespannt, was der Autor als nächstes aus dem Hut zaubert.

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