Profilbild von chiaralara36

chiaralara36

Lesejury Star
offline

chiaralara36 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit chiaralara36 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.09.2023

Heute Weltuntergang, morgen Tanztee: zwei Frauen, der Krieg, die Hoffnung und das Moor

Als wir an Wunder glaubten
0

Das Moor, eine mystische Landschaft, nicht Wasser, nicht fester Boden, ein Dazwischen, ein Niemandsland, eine Kulisse wie geschaffen für das geschichtliche Dazwischen, der Krieg vorbei, die Entbehrungen ...

Das Moor, eine mystische Landschaft, nicht Wasser, nicht fester Boden, ein Dazwischen, ein Niemandsland, eine Kulisse wie geschaffen für das geschichtliche Dazwischen, der Krieg vorbei, die Entbehrungen und Zerstörungen der Infrastruktur, Gebäude und nicht zuletzt in den Seelen der Menschen jedoch so groß, dass auch der Frieden zunächst mit kaum weniger Entbehrungen verbunden ist.

Hier ist Helga Bürsters Roman angesiedelt, mitten in einer ostfriesischen Moorlandschaft zwischen Oldenburg und Leer. Im Mittelpunkt zwei Frauen, Anni und Edith, beide warten noch vier Jahre nach Kriegsende auf ihre Männer. Den Krieg ebenso wie die Zeit danach haben sie nicht zuletzt überlebt, weil sie zusammengehalten, sich unterstützt haben. Als Josef, Annis Mann, schwer verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, könnte dies ein Segen sein. Doch was Josef aus dem Krieg mitbringt, trifft auf Verdrängen, alte Weisheiten, Aberglaube und neue Scharlatane im Moordorf. Eine verheerende Mischung, wie man als Leserin schnell zu ahnen beginnt.

Es ist eine Hilflosigkeit in der Dorfgemeinschaft, die zuweilen aus den Zeilen spricht, Orientierungslosigkeit, das Bedürfnis nach Sinn, nach all dem Leid, an einigen Stellen jedoch auch das Bedürfnis nach Aufbruch in eine neue Zeit. Es verwundert daher kaum, dass es auch die Zeit der Wunderheiler ist, die den Menschen vermeintlich Sinn geben in einer oft sinnlos anmutenden, harten und unsicheren Zeit. Der Preis dafür ist hoch. Für den Einzelnen, der sein letztes Hemd gibt, für Heilung, Befreiung von Schuld und für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft.

Der Boden des Moores wird so im doppelten Sinne zur Keimzelle der Mystik, als landschaftliche Kulisse sowie Abgeschiedenheit und Armut der Bewohnerinnen, die als Nährboden für Aberglaube dienen.

Sehr authentisch und bedrückend fängt Helga Bürster die Kriegsgräuel und auch das Mitwissen und die individuelle Schuld in diesem Krieg ein. Da gibt es Erinnerungen an die Erfahrungen an der Front, aber auch an ein Lager für Zwangsarbeiter im Moor, alle wussten es, haben es beobachtet, doch nun will keiner davon wissen, sich erinnern. Fast nebenbei flicht die Autorin furchtbare Details ein und macht diese damit nur noch eindringlicher.

Bei allen Entbehrungen und Leid, enthält der Roman einige wirklich komische Anekdoten und Aussagen mit denen die Autorin auch die Skurrilitäten der Region, Charaktere und Zeit einbindet, wie beispielsweise das Ausfallen des Weltuntergangs, stattdessen Tanztee, Gustes Weisheiten als alte Moorfrau oder Bettys flottes Mundwerk. Auch die immer wieder eingeschobenen, kurzen Aussagen und Weisheiten auf Platt, lassen tief in die Geschichte eintauchen, als befinde man sich mitten in Unnenmoor.

Die Figuren sind durchweg sehr liebevoll und authentisch ausgearbeitet. Ich habe bis zum Ende mit diesen vielen starken Frauen im Roman mitgefühlt, nicht zuletzt mit Betty (Ediths Tochter), deren Geschichte die Handlung abrundet und der weisen alten Guste.

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Buch über Nachkriegsdeutschland, die Macht und Verführbarkeit von Mythen, Zauber und nicht zuletzt Verschwörungstheorien, die Mystik der Moorlandschaft und besonders auch über starke Frauen. All diese Aspekte verknüpft Helga Bürster in einer atmosphärischen und mitfühlenden Sprache zu einem wundervollen Leseerlebnis mit Relevanz bis in die Gegenwart.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.09.2023

Familie - oder: die Menschen, die man liebt, auch wenn man nicht dieselbe Meinung teilt

Sylter Welle
0

Wer kennt das nicht? Familientreffen, unterschiedliche Generationen und Ansichten, alles Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Interessen, Sozialisation, Charakteren,Talenten und doch verbindet sie der ...

Wer kennt das nicht? Familientreffen, unterschiedliche Generationen und Ansichten, alles Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Interessen, Sozialisation, Charakteren,Talenten und doch verbindet sie der Stammbaum und im Idealfall ein gemeinsames Aufwachsen in irgendeiner Form.

In diesem Setting ist der Debütroman von Max Richard Leßmann angesiedelt, mit viel Urlaubsgefühl on top an drei Tagen des letzten Sylturlaubes mit seinen Großeltern. Die Beziehungen zu diesen steht im Mittelpunkt des Romans, der aus der Perspektive von Enkel Max erzählt wird. Die Großeltern, Lore und Ludwig, beides Kinder ihrer Zeit im Krieg- und Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, mit diversen Prägungen, die dies für das weitere Leben bedeutet, Sparsamkeit, ein Fokus auf ordentliches Essen und Sattwerden, wenig Gefühle zeigen, bei Ludwig ein Zwang zur Dokumentation. Sehr schön herausgearbeitet wird, wie besonders das Band der Oma/Opa-Enkel-Beziehung ist, bei allen Differenzen in Ansichten, zuweilen vielleicht auch Verletzungen, die Großeltern, sie waren immer da, eine Konstante in guten, wie in schlechten Zeiten, mit wundervollen Kindheitserinnerungen, jede ärgerliche Eigenheit, mit der Zeit akzeptiert und in ihrer Kontinuität als Marotte fast lieb gewonnen.

Doch was ist, wenn diese Konstante zu verschwinden droht, weil das Unvorstellbare sich abzeichnet, die Endlichkeit, der scheinbar alterslosen Großeltern? Auch darüber sinniert Max an den drei Tagen, sodass der Roman gleichzeitig einen Rückblick in anekdotischen Erinnerungen, Reflexion, eine Form von Abschied, dem inhärent aber auch immer Neubeginn innewohnt, darstellt.

Es gibt viele Anekdoten über das Familienleben, jedoch auch Max selbst, die oft gut erzählt sind und zum Schmunzeln einladen. Zuweilen zeigen sich jedoch Längen in diesem Anekdotischen, und es scheint der Fokus aus dem Sinn zu rücken.

Ein Buch, dass mich an einigen Stellen sehr berührt hat und zum Nachdenken über die eigene, besondere Beziehung zu den Großeltern einlädt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.08.2023

Humorvoll, manchmal fast bissig, klug, und berührend zugleich

Eigentum
0

Wolf Haas ist mit Eigentum ein kleines Kunstwerk gelungen. Die Sätze und Gedanken sind schneidend, schnell, galoppieren nahezu angesichts des nahenden Ablebens der 95 Jährigen und doch erzeugt das Geschriebene ...

Wolf Haas ist mit Eigentum ein kleines Kunstwerk gelungen. Die Sätze und Gedanken sind schneidend, schnell, galoppieren nahezu angesichts des nahenden Ablebens der 95 Jährigen und doch erzeugt das Geschriebene gleichzeitig so viel Wärme und Empathie für den Lebensweg seiner Mutter, den Wolf Haas, mal bissig, mal melancholisch, mal genervt, jedoch immer liebevoll und mit viel Humor beschreibt.

1923 geboren hat die Mutter Inflation, die Kriegsjahre in den Arbeitsdienst 1000km verschickt von Österreich nach Norddeutschland, die Nachkriegsjahre als Serviererin in der Schweiz, und später ein Leben immer am Existenzminimum im ländlichen Österreich. Dieses Leben, es hat sie hart gemacht, eigenbrödlerisch, unnachgiebig und seltsam. Wolf Haas beweist sich als Chronist mit Sinn für die Entbehrungen, zuweilen sehr lustigen Kuriositäten, und auch Leistungen der Mutter in diesem ereignisreichen Leben, dessen Ende er nun begleitet.

Ein wundervolles Buch zum Erinnern!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.08.2023

Ein stimmungsvoller Einblick in eine magische Zeit voll von Mode, Kunst und Musik zwischen Swinging London und Paris

Der Glanz der Zukunft. Loulou de la Falaise und Yves Saint Laurent
0

Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld, das britische Königshaus, Mick Jagger, Andy Warhol… die Liste könnte noch weitergehen, denn es gibt kaum einen Namen der High Society zwischen Manhattan, London und ...

Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld, das britische Königshaus, Mick Jagger, Andy Warhol… die Liste könnte noch weitergehen, denn es gibt kaum einen Namen der High Society zwischen Manhattan, London und Paris der 60er und 70er Jahre, der in Glanz der Zukunft nicht vorkommt. Im Mittelpunkt Loulou de la Falaise und ihre ganz besondere Beziehung zu Yves Saint Laurent.

Das Buch ist ein Roman und keine Biografie. Dennoch orientierte sich die Autorin an wahren Begebenheiten und Aussagen. Glaubt man dem Roman waren die 60er und 70er ein einziger progressiver Aufbruch zwischen Manhattan, London, Marrakesch, Paris, Rom und LA, in dem jeder jeden kannte, sei es aus Kunst, Mode, Ballett, dem Adel oder der Musik.

Michelle Marly lässt uns eintauchen in die Entstehung von Modekollektionen und ihre Inspiration, in den britischen Adel und seine Normen, in eine Welt aus tausend und eine Nacht in Marokko als Erholungs- und Aussteigeradresse der damaligen Zeit, und nicht zuletzt ins Swinging London immer in Konkurrenz zum lebendigen Paris dieser Epoche. Die Beschreibungen wie Loulou über Flohmärkte streift und ihren Stil findet und verfeinert sind unglaublich lebendig und inspirierend, ebenso wie Yves Saint Laurents Entwürfe und Modenschauen.

Die besondere Beziehung zwischen Loulou und Yves, ebenso wie ihr Entstehen wird sehr feinfühlig und liebevoll nachgezeichnet. Loulou erscheint zunächst als ein zurückhaltendes, junges Mädchen, unsicher was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Im Laufe der Geschichte macht sie eine beeindruckende Entwicklung durch, hin zu einer selbstbewussten, erfolgreichen Frau und Designerin, die ganz sicher viel mehr war als eine Muse.

Ein kurzweiliges, gut geschriebenes Buch mit interessanten Details und Einblicken, nicht nur für Modebegeisterte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.08.2023

Jim Crow Gesetze trifft auf perlenbestickte Kleidersäume

Die Davenports – Liebe und andere Vorfälle
0

Vier junge Frauen, vier Geschichten, jede für sich eine Geschichte vom Erwachsenwerden, Emanzipation, der Rolle als Frau und natürlich der Liebe. Das ist Die Davenports! Und gleichzeitig ist der Roman, ...

Vier junge Frauen, vier Geschichten, jede für sich eine Geschichte vom Erwachsenwerden, Emanzipation, der Rolle als Frau und natürlich der Liebe. Das ist Die Davenports! Und gleichzeitig ist der Roman, der als Jugendliteratur firmiert, so viel mehr. Eingebettet hat Krystal Marquis das unterhaltsame Liebesreigen in einen historisch bedeutenden Kontext. Chicago 1910, hier versammeln sich erfolgreiche schwarze Unternehmer*innen und haben sich vermeintlich von ihrer Geschichte als Sklaven emanzipiert. Doch der Schein trügt, wie bereits sehr früh im Buch deutlich wird, denn trotz allen Geldes und Erfolgs, begegnen auch die Davenports immer wieder Rassismus. Der lang geführte Kampf gegen die Unterdrückung und für das Ende der Sklaverei droht politisch in neuer Form mit den Jim Crow Gesetzen wieder aufzuflammen, statt weiterem Fortschritt der Gleichstellung droht die Regression.

Jim Crow Gesetze neben perlenbestickten Kleidersäumen. Das ist mutig, und es geht auf! Olivia, Helen, Amy-Rose und Ruby - vier ambitionierte, selbstbewusste Frauen, alle unterschiedlich in ihrer Herkunft, ihren Vorlieben, Talenten und Charakter, und auch ihren Sorgen. Was sie eint ist, dass sie mehr vom Leben wollen, als ihre Eltern, ihre Herkunft/Stand und die Gesellschaft für sie als Frau im Jahr 1910 (als Frauen noch nicht einmal das Wahlrecht hatten) vorgesehen haben.

Die Geschichte ist in 47 kürzere Kapitel unterteilt, die jeweils einer der vier Protagonistinnen gewidmet sind und uns in ihre Gedankenwelt und Erfahrungen mitnehmen. Wie ein Mosaik setzt sich so die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu einem großen Ganzen zusammen. Marquis zeichnet die Charaktere sehr liebevoll und mit großer Sympathie, sodass man kaum umhin kommt, in jeder der vier jungen Frauen ein Stück von sich selbst zu finden, sei es Helens Pragmatismus, Olivias Pflichtbewusstsein und wachsendes politisches Interesse, Amy-Roses Geschäftsbewusstsein und Kampfgeist für ein besseres Leben oder Rubys Warmherzigkeit.

Ja, es ist durchaus nicht völlig überraschend, wie sich das Liebesreigen entwickeln wird, doch das macht das Buch nicht schlechter, denn es ist gerade der Weg dorthin, der unterhaltsam ist und für jede der jungen Frauen viel mehr als die jeweilige Liebesgeschichte darstellt - Amy-Roses Traum vom eigenen Salon, Helens Passion für Mechanik und Autos, Olivias politisches Bewusstsein und Engagement.

An einigen Stellen ist mir jedoch das Schmachten der Protagonistinnen zu viel und passt auch nicht zu ihrer sonst so selbstbewussten, emanzipierten Haltung. Dass nun jeder offene Hemdknopf und Blick auf die Muskeln eines Mannes, eine Frau dazu bringen soll, alles um sie herum zu vergessen, ist mir persönlich manchmal zu kitschig.

Der Schreibstil hat noch etwas Luft nach oben und wirkt an einzelnen Stellen etwas gestelzt, was jedoch auch der Übersetzung geschuldet sein kann. Ich hatte ein paar Stellen an denen ich dachte, das würde ich gern im Original lesen, um zu sehen, wie es dort ausgedrückt ist und vielleicht mache ich dies auch noch.

Sehr gut und informativ finde ich die separate historische Einordnung der Autorin im Anhang des Buches.

Der türkise Einband mit dem gelben Cover sieht sehr wertig aus und macht das Buch auch zu einem schönen Geschenk.

Wer Downton Abbey und Bridgerton mag, wird auch an diesem Buch große Freude haben und auf eine Fortsetzung hoffen. Ein gutes Buch zum Mitfühlen mit kleinen Schwächen, dass im leichten, eingängigen Stil und klug gewählten Setting, wichtige Themen vermittelt und erlebbar macht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere