Heute Weltuntergang, morgen Tanztee: zwei Frauen, der Krieg, die Hoffnung und das Moor
Als wir an Wunder glaubtenDas Moor, eine mystische Landschaft, nicht Wasser, nicht fester Boden, ein Dazwischen, ein Niemandsland, eine Kulisse wie geschaffen für das geschichtliche Dazwischen, der Krieg vorbei, die Entbehrungen ...
Das Moor, eine mystische Landschaft, nicht Wasser, nicht fester Boden, ein Dazwischen, ein Niemandsland, eine Kulisse wie geschaffen für das geschichtliche Dazwischen, der Krieg vorbei, die Entbehrungen und Zerstörungen der Infrastruktur, Gebäude und nicht zuletzt in den Seelen der Menschen jedoch so groß, dass auch der Frieden zunächst mit kaum weniger Entbehrungen verbunden ist.
Hier ist Helga Bürsters Roman angesiedelt, mitten in einer ostfriesischen Moorlandschaft zwischen Oldenburg und Leer. Im Mittelpunkt zwei Frauen, Anni und Edith, beide warten noch vier Jahre nach Kriegsende auf ihre Männer. Den Krieg ebenso wie die Zeit danach haben sie nicht zuletzt überlebt, weil sie zusammengehalten, sich unterstützt haben. Als Josef, Annis Mann, schwer verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, könnte dies ein Segen sein. Doch was Josef aus dem Krieg mitbringt, trifft auf Verdrängen, alte Weisheiten, Aberglaube und neue Scharlatane im Moordorf. Eine verheerende Mischung, wie man als Leserin schnell zu ahnen beginnt.
Es ist eine Hilflosigkeit in der Dorfgemeinschaft, die zuweilen aus den Zeilen spricht, Orientierungslosigkeit, das Bedürfnis nach Sinn, nach all dem Leid, an einigen Stellen jedoch auch das Bedürfnis nach Aufbruch in eine neue Zeit. Es verwundert daher kaum, dass es auch die Zeit der Wunderheiler ist, die den Menschen vermeintlich Sinn geben in einer oft sinnlos anmutenden, harten und unsicheren Zeit. Der Preis dafür ist hoch. Für den Einzelnen, der sein letztes Hemd gibt, für Heilung, Befreiung von Schuld und für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft.
Der Boden des Moores wird so im doppelten Sinne zur Keimzelle der Mystik, als landschaftliche Kulisse sowie Abgeschiedenheit und Armut der Bewohnerinnen, die als Nährboden für Aberglaube dienen.
Sehr authentisch und bedrückend fängt Helga Bürster die Kriegsgräuel und auch das Mitwissen und die individuelle Schuld in diesem Krieg ein. Da gibt es Erinnerungen an die Erfahrungen an der Front, aber auch an ein Lager für Zwangsarbeiter im Moor, alle wussten es, haben es beobachtet, doch nun will keiner davon wissen, sich erinnern. Fast nebenbei flicht die Autorin furchtbare Details ein und macht diese damit nur noch eindringlicher.
Bei allen Entbehrungen und Leid, enthält der Roman einige wirklich komische Anekdoten und Aussagen mit denen die Autorin auch die Skurrilitäten der Region, Charaktere und Zeit einbindet, wie beispielsweise das Ausfallen des Weltuntergangs, stattdessen Tanztee, Gustes Weisheiten als alte Moorfrau oder Bettys flottes Mundwerk. Auch die immer wieder eingeschobenen, kurzen Aussagen und Weisheiten auf Platt, lassen tief in die Geschichte eintauchen, als befinde man sich mitten in Unnenmoor.
Die Figuren sind durchweg sehr liebevoll und authentisch ausgearbeitet. Ich habe bis zum Ende mit diesen vielen starken Frauen im Roman mitgefühlt, nicht zuletzt mit Betty (Ediths Tochter), deren Geschichte die Handlung abrundet und der weisen alten Guste.
„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Buch über Nachkriegsdeutschland, die Macht und Verführbarkeit von Mythen, Zauber und nicht zuletzt Verschwörungstheorien, die Mystik der Moorlandschaft und besonders auch über starke Frauen. All diese Aspekte verknüpft Helga Bürster in einer atmosphärischen und mitfühlenden Sprache zu einem wundervollen Leseerlebnis mit Relevanz bis in die Gegenwart.