Profilbild von chiaralara36

chiaralara36

Lesejury Star
offline

chiaralara36 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit chiaralara36 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.07.2024

Um sich eine Zukunft vorstellen zu können, braucht es Worte, sie zu beschreiben…

Die geheimnisvolle Freundin
0

Es sind die 1950er Jahre in den Abruzzen. Hier lebt die kleine Nina in einem christlichen Waisenhaus, in dem sie kurz nach der Geburt als Findelkind abgegeben wurde. Der Ton ist so rau wie die einheitliche ...

Es sind die 1950er Jahre in den Abruzzen. Hier lebt die kleine Nina in einem christlichen Waisenhaus, in dem sie kurz nach der Geburt als Findelkind abgegeben wurde. Der Ton ist so rau wie die einheitliche Kleidung der Kinder. Liebe, Zuwendung und Nähe erfahren die Kinder kaum, die Regeln sind streng, die Perspektiven düster. Hier erscheint für Nina das Eintreffen der jungen Waise Lucia zunächst wie ein Hoffnungsschimmer. Doch auch in der älteren Marcella entdeckt sie schließlich eine Komplizin und ein Vorbild. Mit viel Feingefühl und einem wachen Blick für Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung beschreibt Baldelli den Alltag im Waisenhaus und den Versuch Nähe durch Freundschaft in diesem Umfeld zu erfahren.

Der Roman entwickelt sich entlang von Ninas Aufwachsen in alternierenden Perspektiven aus ihrer Kindheit im Waisenhaus und als junge Erwachsene und Arbeiterin in einer Tabakfabrik. Baldelli gelingt es die bedrückende, verzweifelte Stimmung im Waisenhaus auf besonders eindringliche Weise einzufangen und vermittelt so ein sehr authentisch wirkendes Bild des Lebens in einem von Nonnen geführten Haus im ländlichen Italien der 1950er. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen stehts Frauen und die Zwänge in denen diese agieren, agieren müssen und von denen sie begrenzt werden, aber auch ihr Versuch sich diesen Zwängen zu entreißen und ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen.

Die Geschichte um Nina und ihre Gefährtinnen ist nicht nur eine Erzählung weiblicher Selbstermächtigung sondern auch von Klassengrenzen, dem Wert und der Notwendigkeit von Bildung, um die eigene Klassenlage zu erfassen und sie zu verbessern und nicht zuletzt überhaupt ein Weltverständnis, im Sinne der eigenen Verortung in einem Gesellschaftssystem zu erlangen - dies als Grundbedingung für echte Emanzipation, Selbstwirksamkeit und Freiheit. Wort für Wort erarbeitet sich Nina dieses Weltverständnis und sprengt damit die engen Mauern des Waisenhauses und der körperlich wie geistig einengenden Doktrinen der Nonnen.

Während Nina, Marcella und die neue Kollegin in der Tabakfabrik, Carla, Komplizinnen im Geiste sind, zeigt die Autorin über die unterschiedliche Herkunft und Prägung von Nina und Marcella auf der einen und Carla auf der anderen Seite die Macht von Klassengrenzen und die Wirkung der Klassenlage auf nicht nur die materielle Situation sondern auch das Denken und internalisierte Glaubenssätze. So muss Nina bei aller Liebe und Solidarität unter den Freundinnen feststellen, dass sich Carla bestimmte großzügige und kämpferische Positionen schlicht auch einfach leisten kann, da sie aufgrund ihrer Herkunft stets weich fallen wird. Obgleich der Kampf um weibliche Emanzipation in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung Carla und Nina wie Marcella eint, werden an Nina und Marcella die intersektional wirkenden Diskriminierungsstrukturen, als Frauen, aus der Arbeiterschicht, und ehemalige Findelkinder ohne Familie deutlich. Auch wie Klassenlage den Habitus bestimmt zeichnet die Autorin anhand der feinen Unterschiede zwischen Carla und Lucia auf der einen und Nina und Marcella auf der anderen Seite sensibel hervor.

Sprachlich hat mich der Roman vom Anfang bis zum Ende überzeugt. Baldelli findet für die schwierigen und komplexen Themen, eine einnehmende, bildliche Sprache, ohne dabei kitschig zu klingen.

Schwächen zeigt der Roman lediglich zum Ende hin, das vor dem Hintergrund des sozialkritischen Ansatz und Anspruchs des Romans etwas zu sehr in Wohlgefallen konstruiert ist. Zum anderen sind Klappentext und Titel aus meiner Sicht etwas missverständlich. Die Freundschaft zwischen Nina und Lucia ist nur ein (Neben)Schauplatz von mehreren der Geschichte. Ich würde den Roman als sozialkritische, emanzipatorische Entwicklungsgeschichte von Nina beschreiben, mit tiefen Einsichten in die Strukturen eines christlichen Waisenhauses im ländlichen Italien der 50er Jahre, einer gelungenen Darstellung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen in Bezug auf Klasse und Geschlecht und nicht zuletzt der Notwendigkeit und Macht weiblicher Solidarität. Mein Tipp daher: unbedingt die Leseprobe lesen, und im Idealfall direkt in den Bann der Geschichte ziehen lassen.

Simona Baldelli liefert mit die geheimnisvolle Freundin nicht nur einen beeindruckenden Roman in wundervoll bildlicher Sprache und das ohne jeden Anflug von Kitsch, sie beweist gleichzeitig ein feines Gespür und Ausdrucksvermögen für gesellschaftliche Distinktionsmechanismen anhand von Geschlecht, Klasse und Habitus. Auch unter Berücksichtigung der genannten leichten Schwächen ist die Geheimnisvolle Freundin für mich ein echtes Highlight in diesem Lesejahr!

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 07.07.2024

Das Mädchen mit den roten Haaren

Wir waren nur Mädchen
0

Wir waren nur Mädchen beleuchtet beruhend auf wahren Personen und Begebenheiten, die Geschichte von Frauen im niederländischen Widerstand gegen die Nazibesatzung. Im Mittelpunkt Johanna, 1920 geboren, ...

Wir waren nur Mädchen beleuchtet beruhend auf wahren Personen und Begebenheiten, die Geschichte von Frauen im niederländischen Widerstand gegen die Nazibesatzung. Im Mittelpunkt Johanna, 1920 geboren, hat sie jung ihre geliebte Schwester Anni verloren, die vermeintlich mutigere und aufgewecktere der beiden Schwestern. 1941 studiert Johanna Jura um später beim Völkerbund arbeiten zu können. Hier lernt sie ihre politisch engagierten Kommilitoninnen Sonia und Philine kennen, und zum ersten Mal spürt sie wieder eine Verbindung, die sie an ihre Schwester erinnert. Dass ihre neuen Freundinnen Jüdinnen sind, führt ihr in aller Deutlichkeit vor Augen, welche Auswirkungen die NS-Politik bis in jeden Lebensbereich für diese hat. Während sie zuvor bereits in der Flüchtlingshilfe aktiv war, verschiebt sich ihr politisches Bewusstsein immer mehr hin zur Bereitschaft auch in den bewaffneten Widerstand zu gehen. So begleiten wir eine Evolution einer jungen, gut erzogenen, zurückhaltenden jungen Frau hin zu einer resoluten, mutigen Kämpferin für den Widerstand, von Johanna, zu Hanni.

Hanni erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive. Von 1941 bis 1945 werden so zugleich alle Grausamkeiten des Naziregimes in den Niederlanden dargestellt. Der Autorin gelingt es über die Freundinnen und deren Familien, eine persönliche Ebene zu schaffen und die Geschichte erlebbar zu machen. Beeindruckt hat mich auch der Generalstreik gegen die Verfolgung von Juden 1941 in den Niederlanden.

Mit diesem Roman hat die Autorin all die mutigen Frauen im Widerstand sichtbarer gemacht und ihr Wirken authentisch porträtiert. Sehr informativ und erwähnenswert ist auch das Nachwort, in dem die Autorin weitere Einblicke in die historischen Hintergründe und die realen Protagonist*innen gibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.07.2024

Javier

Solito
0

Solito beschreibt die Geschichte des kleinen Javiers aus El Salvador, der mit 9 Jahren bei seinen Großeltern und seiner Tante lebt und sich nichts sehnlicher wünscht als zu seinen Eltern in die USA zu ...

Solito beschreibt die Geschichte des kleinen Javiers aus El Salvador, der mit 9 Jahren bei seinen Großeltern und seiner Tante lebt und sich nichts sehnlicher wünscht als zu seinen Eltern in die USA zu kommen, die bereits die gefährliche Route in ein vermeintlich besseres Leben auf sich genommen haben. Eines Tages ist es endlich so weit, die Pläne werden konkreter und auch Javier soll (in seiner Perspektive - darf) mit einem Kojoten die gefährliche und beschwerliche Reise zu den Eltern unternehmen.

Immer wieder und nicht erst auf der Route, wie beispielsweise bereits in Javiers Schulklasse, wird deutlich, dass Javiers Geschichte kein Einzelfall ist. Die Migration mit all ihren Auswirkungen auf die Migrierenden wie die Zurückgebliebenen ist vielmehr konstitutiv für die Region. Zerrissene Familien, Kinder die bei den Großeltern leben und zum Muttertag etwas für Oma basteln, Eltern die Geschenke aus dem vermeintlichen Konsumparadies schicken, Nachbarn die verschwinden und von da an nur noch als Gruß aus den USA auftauchen. Neben den gefährlichen Migrationsrouten und dem oft harten Leben in den USA ist auch dies ein Aspekt, den Javier Zamora mit seiner Geschichte beleuchtet.

Besonders macht dieses Buch zum einen die sehr persönliche Erzählweise als wahre Geschichte des Autors, zum anderen erleben wir die Migration mit den Augen eines Kindes. Dadurch wirkt vieles unbedarfter und gleichzeitig nicht weniger eindringlich. Sprachlich liest sich die Erzählung wie ein Roman, ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass hier der Autor seine eigene Geschichte erzählt. Gelungen war für mich die Einbindung spanischer Begriffe und Redewendungen. Mit rudimentären Sprachkenntnissen versteht man diese auch ohne die Übersetzung im Anhang und die gesamte Geschichte wirkte auf mich beim Lesen noch authentischer. Sprache und Perspektive haben mich so förmlich mit Javier Zamora mitfühlen und das Geschriebene vor Ort miterleben lassen.

Solito ist ein eindringliches, gut geschriebenes Werk, dass nicht nur die bewegende Geschichte von Javier Zamora erzählt, sondern den vielen Menschen aus Mittelamerika, die in den USA ein vermeintlich besseres Leben suchen, und in den Medien oft nur als Statistik über Migration und Grenzverletzungen, auftauchen, ein Gesicht gibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.07.2024

Ein ehrliches, erfrischendes Porträt einer Freundschaft und der Generation der Millenials im Irland der frühen 2010er

Die Sache mit Rachel
0

Heute ist Rachel 31 Jahre alt, hochschwanger, lebt in London als Journalistin und blickt als Erzählstimme zurück auf ihr Erwachsenwerden mit Anfang 20 im irischen Cork, ihr Studium der englischen Literatur, ...

Heute ist Rachel 31 Jahre alt, hochschwanger, lebt in London als Journalistin und blickt als Erzählstimme zurück auf ihr Erwachsenwerden mit Anfang 20 im irischen Cork, ihr Studium der englischen Literatur, der Start ins Berufsleben vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Finanzkrise, prekäre Beschäftigungen, erste Liebe, und vor allem die Freundschaft zu James. Die Unsicherheiten, die jede Identitätsfindung begleiten werden in dieser Generation mit dem Eintritt ins Berufsleben in einem Europa nach der Finanzkrise potenziert, es ist die Zeit in der hochgebildeten Absolvent:innen zu oft nicht mehr als ein Call Center Job und/oder eine Reihe von Praktika bleibt, um zunächst das Überleben zu sichern und die Miete zu zahlen.

Im Rückblick auf diese Zeit arbeitet Rachel mit Anfang 20 neben der Uni in einem Buchladen. Ihr neuer Kollege James weckt sofort Rachels Interesse, es ist Faszination und Freundschaft auf den ersten Blick. Rachel ist sofort von James Ausstrahlung und Witz in den Bann gezogen. James ist fasziniert von Rachels bürgerlicher Herkunft als Zahnarzttochter, deren Eltern es seit der Krise finanziell längst nicht mehr so gut geht wie es auf den ersten Blick scheint. Bereits nach kurzer Zeit ziehen beide zusammen in eine schlecht renovierte Wohnung, werden unzertrennlich und teilen Insiderscherze als wären sie gemeinsam aufgewachsen. Die James und Rachel Show beginnt!

Gemeinsam erleben sie die Zeit des Erwachsenwerdens und der Ausbildung der eigenen Identität. So emanzipiert sich Rachel von den moralischen Vorstellungen ihrer Herkunft, James und sie erleben Geldnot und fühlen sich trotzdem cool dabei in ihrem Erfindungsreichtum, beide daten, entdecken die erste Liebe, ihre sexuelle Orientierung, sexuelle Freiheit und Befriedigung sowie auch erste Enttäuschungen. Rachel versucht in dieser Welt als Collegeabsolventin im Verlagswesen Fuß zu fassen, während James an einem Sitcom-Drehbuch inspiriert von ihrer Freundschaft schreibt. Und da sind auch noch Rachels beliebter Professor und seine sympathische junge Frau aus der Verlagsbranche die eine verhängnisvolle Rolle in Rachels als auch James Leben spielen sollen.

So entsteht ein authentisches Porträt nicht nur einer besonderen Freundschaft sondern auch der Millenial-Generation in Irland in den frühen 2010er Jahren mit all ihren Herausforderungen im Dating, der Jobsuche und der Selbstfindung ebenso wie Queerness, Umgang mit den in Irland verbotenen Abtreibungen und vielem mehr.

Nach dem ersten Hoch der innigen Freundschaft werden nach und nach auch die feinen Unterschiede zwischen Rachel, der Tochter aus dem Bürgertum und James, der keinen Collegeabschluss hat, deutlich und gerade für James spürbar. Daneben thematisiert die Autorin
um die Freundschaft von Rachel und James auch immer wieder irische Eigenheiten und Differenzen zu Briten und fasst so auch auf kultureller Ebene ein besonderes Lebensgefühl.

O'Donoghues Stil ist frech, frisch, direkt und ehrlich und fängt so die Gefühlslage von James und Rachel authentisch ein.

Mit - Die Sache mit Rachel - reiht sich Caroline O'Donoghue in die Riege junger irischer Autorinnen ein, die authentisch und klug ihre Generation porträtieren und steht damit bekannteren Autorinnen wie Sally Rooney in nichts nach.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.07.2024

Ein Roman über internalisierte weibliche Schuld und Scham

Ich stelle mich schlafend
0

Yasemin ist Mitte 30 und steht in einer Hochaussiedlung vor der abgebrannten Ruine, die einmal ihr Zuhause war. Was ist passiert? Behutsam und in poetischer Sprache entwirft Deniz Ohde eine Erzählung über ...

Yasemin ist Mitte 30 und steht in einer Hochaussiedlung vor der abgebrannten Ruine, die einmal ihr Zuhause war. Was ist passiert? Behutsam und in poetischer Sprache entwirft Deniz Ohde eine Erzählung über eine Frau, die schon seit ihrer Kindheit ein bestimmtes Frauenbild internalisiert hat. Die Frau als nettes, gefälliges Wesen, das Übergriffe geschehen lässt, auch gegen die eigenen Bedürfnisse, gegen den eigenen Willen. So sieht sie es bei ihrer Mutter, so erlebt sie es bei ihrer Freundin Lydia. Doch wo bleiben in solch einem Entwurf ihre eigenen Wünsche, Träume und Bedürfnisse. Wie ist, ist überhaupt unter diesen Bedingungen eine gesunde Partnerschaft möglich? Diese Frage verhandelt Ohde mit dem Eintritt Vitos in Yasemins Leben.

Körperlichkeit, Verletzlichkeit und auch Übergriffigkeit wie sie Yasemin durch Männer erfährt spiegelt die Autorin auch immer wieder über die Skoliose Yasemins und deren Behandlung wider. Diese Parallelen und Referenzen sind sehr gelungen, wie auch die Beschreibung Yasemins Behandlung.

Phasenweise hat der Roman für mich einen echten Sog entwickelt, was ist passiert? Wie wird sich Yasemin entwickeln? Leider kann er für mich nicht vollständig an Streulicht anschließen. Sprachlich wirkten auf mich einige Bilder, gerade im ersten Drittel zu gewollt. Stark wird der Roman, wenn er innere Beweggründe und Widersprüche aufzeigt. Hier taucht die Autorin tief in die menschliche Psyche und sozialen Beziehungen ein. Doch auch in der Handlung wirkte der Roman auf mich in einigen Abschnitten zu gewollt und konstruiert, sodass sich die absolute Begeisterung leider bei mir nicht einstellen konnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere