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Veröffentlicht am 21.07.2024

Ein kluger, nachdenklicher und einfühlsamer Blick auf die Lebensmitte und ihre Fragen in uns

Mitte des Lebens
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Barbara Bleisch blickt in die Mitte des Lebens auf eine in Debatte und Wissenschaft oft vernachlässigte Lebensspanne: die Lebensmitte, gefasst als mittlere Lebensphase zwischen ca. Mitte 30 bis Mitte 60. ...

Barbara Bleisch blickt in die Mitte des Lebens auf eine in Debatte und Wissenschaft oft vernachlässigte Lebensspanne: die Lebensmitte, gefasst als mittlere Lebensphase zwischen ca. Mitte 30 bis Mitte 60. Diese beschreibt sie als Phase des Revue passieren Lassens, Bedauerns, vielleicht auch der Reue, aber gleichzeitig auch der Neuausrichtung, des Stolzes, der Dankbarkeit und Zufriedenheit.

In einem sehr flüssigen und eingängigen Schreibstil wirft die Autorin Fragen auf, ergründet sowohl wissenschaftlich als auch lebenspraktisch und sensibel, die Themen die Menschen in dieser Phase beschäftigen. Dabei bedient sie sich immer wieder Referenzen aus Literatur, Poesie, Theater und natürlich Philosophie, Psychologie und Soziologie, zum einen zur Vermittlung und Herleitung von (theoretischen) Hintergründen, aber oft auch der Veranschaulichung zunächst eher abstrakter Gedanken.

Dies ist über weite Teile wunderbar gelungen und liefert wichtige Denkanstöße. Besonders gut hat mir die Zuspitzung am Ende eines jeden Kapitels gefallen: was können wir ganz lebenspraktisch aus dem Geschriebenen mitnehmen? Hier ergeben sich einige erhellende Gedanken- und Handlungsanstöße.

An einigen Stellen, insbesondere in der ersten Buchhälfte, waren die Ausführungen für mich allerdings zuweilen etwas redundant, wenngleich aufgrund der komplexen und oft auch theoretisch-ideengeschichtlichen Thematik diese Redundanz sicher auch zur Vertiefung der Inhalte dienen kann. Insofern ist dies für mich nichts, was die Qualität des Essays merklich schmälern würde.

Die Mitte des Lebens von Barbara Bleisch ist ein wunderbar kluges und kurzweiliges Buch, das nachhallt und wichtige Denkanstöße zu den Fragen liefert, die Menschen in der Lebensmitte begleiten!

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Veröffentlicht am 16.07.2024

Sehr amerikanisch und klischeebeladen

Weil ich an dich glaube – Great and Precious Things
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Weil ich an dich glaube erzählt die (Liebes-)Geschichte von Willow und Camden, eingebettet in das beschauliche Alba in Colorado. Die Story setzt ein mit der Rückkehr Camdens von seiner Militärzeit. Vor ...

Weil ich an dich glaube erzählt die (Liebes-)Geschichte von Willow und Camden, eingebettet in das beschauliche Alba in Colorado. Die Story setzt ein mit der Rückkehr Camdens von seiner Militärzeit. Vor vielen Jahren hat er seinem Heimatdorf den Rücken gekehrt. Was zuvor, und während dieser Zeit passiert ist, wird erst Stück für Stück freigelegt und jeweils aus den Perspektiven von Willow und Camden erzählt. Beide verbindet durch ihre Familien eine Kindheitsfreundschaft, die Mütter waren beste Freundinnen, Camden und seine Brüder sind mit Willow und ihrer Schwester quasi aufgewachsen. Obwohl Camden und Willow immer eine besondere Beziehung hatten, ist es letztlich der jüngste Bruder Sullivan mit dem sie zusammenkommt, bis dieser jung sein Leben verliert. Dieser Schicksalsschlag schwebt über der Handlung, nicht nur ist Willow die Frau, die er liebt, Witwe seines Bruders, auch fühlt er sich verantwortlich für den Tod seines Bruders. Für die Beziehung zu Willow ergibt sich so ein scheinbar unlösbarer Konflikt für ihn, der dazu führt, dass er sich trotz seiner Gefühle unbedingt von ihr fernhalten möchte.

Der Schicksalsschlag um Sullivan ist nicht der Einzige in der Familie, die Mutter der Daniels Brüder ist früh durch einen Pumaangriff verstorben, der Vater hat nun Alzheimer und kommt immer weniger zurecht. In diese schwierige Familiensituation kehrt Camden nun zurück, will sie lösen, will helfen. Wir ihm dies gelingen? Und wie soll er Willow begegnen? So thematisiert die Autorin um die Liebesgeschichte von Willow und Camden auch sehr ernste Themen wie Alzheimer, Traumata, PTBS, Verlust und Trauer.

Für mich war es das erste Buch der Autorin, auch vor dem Hintergrund des Hypes um ihre Fourth Wings Reihe, der mich neugierig gemacht hat. Leider konnte mich die Story nicht wirklich erreichen. Dies lag zum einen an der Orts- und Themenwahl. Die Autorin porträtiert das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt und die Folgen der Armyzugehörigkeit, beides Themen, die sehr weit weg für mich sind und für die es bei einer sachlichen Auseinandersetzung damit wesentlich bessere Literatur für mich gibt. Zum anderen konnte mich jedoch auch der Stil und Spannungsaufbau nicht erreichen. Zu klischeebeladen war für mich die Story, zu platt viele Dialoge, und dadurch keine echte Nähe zu den Protagonistinnen aufbaubar.

Für Fans einfacher Liebesromane mag das Buch interessant sein, auch wenn ich vermute, dass es selbst in diesem Kontext kein echtes Highlight wird. Mich konnte es leider nicht überzeugen.

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Veröffentlicht am 14.07.2024

Leider ein emotionales Luftablassen, ohne Erkenntnisgewinn - etwas für Fans der Autorin

Potenziell furchtbare Tage
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In Potentiell furchtbare Tage verspricht Bianca Jankovska Einblicke in Anti-Work, Menstrual-Health und das gute Leben zu geben. Ich habe ein locker und zugleich klug und pointiert geschriebenes Buch erwartet, ...

In Potentiell furchtbare Tage verspricht Bianca Jankovska Einblicke in Anti-Work, Menstrual-Health und das gute Leben zu geben. Ich habe ein locker und zugleich klug und pointiert geschriebenes Buch erwartet, das zum Nachdenken anregt. Leider wurden meine Erwartungen nicht erfüllt. Was das Buch stattdessen ist, lässt sich schwer einordnen. Im Mittelpunkt stehen persönliche Anekdoten mit denen die Autorin versucht ihre Gesellschaftskritik herzuleiten und zu begründen. Dies ist jedoch aus meiner Sicht leider nicht gelungen.

Mir persönlich ist die innere Konsistenz in Debattenbeiträgen wichtig, da ich sonst den Eindruck habe, dass es nicht um eine fundierte Auseinandersetzung mit einem Thema geht, sondern lediglich ein emotionales Luftablassen. Letzteres mag sicher auch seine Berechtigung haben, als Buchbeitrag sollten Lesende hier jedoch meiner Meinung nach vorgewarnt werden, denn als Leserin wird man so letztlich als Echokammer genutzt, in der die Autorin sich einfach mal auslassen kann, wie ungerecht die Welt ist. Ein echter Mehrwert an Information und Reflexion entsteht dabei nicht.

Leider ist genau dies über weite Teile in potenziell furchtbare Tage der Fall. So kritisiert die Autorin beispielsweise einerseits den von ihr vermeintlich erlebten krankmachenden unmenschlichen Arbeitsdruck und erklärt einige Seiten weiter, dass sie über Jahre in ihrer Lohnarbeitszeit statt sich den Aufgaben für das Unternehmen und ihrem Tätigkeitsprofil zu widmen, u.a. ihre Bachelor- und Masterarbeit und auch einen Teil ihre Bücher geschrieben hat - in ihrer Arbeitszeit. Wie dies mit den 150 Seiten zuvor zusammenpasst, in denen sie ausführlich erläutert, wie das System und andere Menschen sie krank machen, bleibt offen. Wobei letzteres ein durchgängiges Muster in der Argumentation ist, über weite Teile arbeitet sich die Autorin an anderen Personen, Ansätzen, „dem System“ etc. ab, und wertet diese ab. Für mich war dies nach einiger Zeit einfach nur anstrengend und ermüdend. Einige, durchaus vorhandene wichtige und gute Gedanken, geraten dabei leider in den Hintergrund, wie auch das Thema menstruelle Gesundheit. Im Mittelpunkt steht das Erleben der Autorin, ihre Sinnsuche in der Welt und das Hadern mit dieser. Dies wird bis ins Detail ausgeführt, u.a. welche Selbsthilfechannel- und Bücher sie nutzt, nur um dann festzustellen, dass all dies nutzlos ist und selbst wiederum monetären Interessen folgt. Wer hätte das gedacht. Eine echte Problemlösungskompetenz sieht anders aus.

Das beschriebene Erleben und Handeln der Autorin war für mich über weite Teile nicht nachvollziehbar und in der Form nicht geeignet die durchaus richtigen und wichtigen Thesen zu strukturellen Defiziten und Diskriminierung in patriarchal-kapitalistischen Gesellschaften zu begründen. Über knapp 300 Seiten kristallisiert sich heraus, dass die Autorin, weniger den Kapitalismus, sondern grundsätzlich Strukturen und Regeln, wie sie beispielsweise Lohnarbeit inhärent sind, ablehnt und sich davon gegängelt und ihrer freien Entfaltung eingeschränkt fühlt. Dies ist jedoch zunächst ein Persönlichkeitsmerkmal, das durchaus einer Varianz unterliegt. Problematisch wird dies beispielsweise, wenn die Autorin ihre eigene Persönlichkeitsstruktur und Präferenz als allgemeingültig auslegt und daraus die grundsätzliche Ablehnung jeglicher Lohnarbeit als schlecht für den Menschen ableitet. Dies dürfte in der Form kaum haltbar sein. Unklar bleibt auch, inwiefern die Präferenz für Individualismus und Ablehnung von Strukturen als Kapitalismuskritik dienen kann. Denn gerade die von der Autorin im Kern als krankmachend empfunden Strukturen und Zwänge sind eben nicht dem Kapitalismus inhärent, sondern finden sich auch in anderen Gesellschaftsformen. Letztlich wird Potentiell furchtbare Tage so zu einer Selbstdarstellung mit Einblicken in das Denken und Handeln der Bianca Jankovska, ohne einen echten Erkenntnisgewinn, der über diese Darstellung hinausgeht.

Dies mag aus psychologischem und sozialpsychologischem Blickwinkel durchaus interessant zu lesen sein, zeigt es doch, wenn auch unfreiwillig, anhand der Autorin wie wichtig persönliche Handlungskompetenz als individuelle Ressource ist und die Fähigkeit berechtigte Ängste und reale Grenzen von imaginierten zu unterscheiden. Für Personen, die inhaltliches Interesse an den Themen haben, die Einband und Titel suggerieren, wird das Buch jedoch aufgrund seiner inhaltlichen Schwächen eventuell zur Enttäuschung.

All dies ist letztlich nicht nur schade sondern auch relevant, wenn das Grundanliegen und echte gesellschaftliche Problemlagen in den Fokus treten. Denn das Wirtschafts- und Sozialsystem ist zutiefst ungerecht und für zu viele Menschen ist jeder Tag zu spät, an dem nicht endlich grundlegende Veränderungen angestoßen werden. Ich spreche beispielsweise von Menschen denen schwerkrank, aus ökonomischen Gründen und anderen Barrieren im Gesundheitssystem, der Zugang zu einer angemessenen Behandlung und oft auch soziale Absicherung verwehrt wird, Menschen in anderen persönlichen Problemlagen (sei es durch Krankheit, Behinderung, persönliche Lebensschicksale etc.), die nicht nur täglich diskriminiert werden, sondern denen durch starre, bürokratische von einer kapital- und effizienzgesteuerten Logik getragene Regelungen zum Teil selbst eine rudimentäre soziale Absicherung verwehrt wird, Kinder, die in Armut aufwachsen, mit allen Konsequenzen und durch fehlende Chancengleichheit ihr weiteres Leben und ihre Lebenschancen beeinflusst sehen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Gerade die massiven Konsequenzen bestimmter Defizite im bestehenden Wirtschafts- Sozial und Gesundheitssystem und deren negative, zum Teil existentiellen Folgen für viel zu viele Menschen erfasst die Autorin mit ihren selbstfokussierten Zeilen jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund schadet das Buch aus meiner Sicht der Debatte und echten Veränderungen mehr als es dienlich sein könnte.

Auch die Informationsvermittlung zur PMDS ist aus meiner Sicht nur bedingt hilfreich bis sogar potentiell schädlich. Die geteilten Informationen im Anhang zu Symptomatik, Diagnostik etc. sind zwar interessant, jedoch fehlt mir hier der Hinweis an Betroffene echte fachlich-medizinische Unterstützung, trotz oder gerade wegen der schlechten medizinischen Versorgung des Krankheitsbildes, in Anspruch zu nehmen, ebenso wie bei Bedarf anerkannte Selbsthilfeorganisationen mit entsprechender Expertise zu kontaktieren. Ohne entsprechende Einbettung wirken die Ausführungen wie eine Einladung zur Selbstdiagnostik, die bei gesundheitlichen Problemen zweifelhaft bis gefährlich sein kann.

Ich kann das Buch daher leider nicht empfehlen. Zum einen aufgrund der inhaltlichen Schwächen, von denen ich oben einige versucht habe zu erläutern. Zum anderen sehe ich den Umgang der Autorin mit gesellschaftlichen und persönlichen Problemlagen, wie sie ihn in ihrem Buch präsentiert, als ausgesprochen destruktiv und potentiell (selbst)schädigend und kann nur hoffen, dass andere Leserinnen sich daran kein Beispiel nehmen. Der Autorin wünsche ich von Herzen alles Gute und, dass sie ihren Weg findet.

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Veröffentlicht am 13.07.2024

Aufwühlend, ehrlich, sachkundig - ein kluges, berührendes Buch über das Lebensende der Eltern und den Umgang damit

Alte Eltern
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In Alte Eltern widmet sich Volker Kitz behutsam und ehrlich einem Thema, das fast alle von uns irgendwann betrifft und gleichzeitig gesellschaftlich zu oft verdrängt wird: dem nahen Lebensende der Eltern. ...

In Alte Eltern widmet sich Volker Kitz behutsam und ehrlich einem Thema, das fast alle von uns irgendwann betrifft und gleichzeitig gesellschaftlich zu oft verdrängt wird: dem nahen Lebensende der Eltern.

Mit viel Empathie beschreibt Volker Kitz die fortschreitende Demenz seines Vaters und mit ebenso viel Ehrlichkeit die Gefühle, die dies bei ihm auslöst. Scham, Verzweiflung, Trauer, Wut, aber auch die Momente der Freude und Dankbarkeit, für das was war, und auch was trotz allem noch ist.

Die Beschreibung des Augenblicks und der Begleitung seines kranken Vaters verbindet sich immer wieder mit dem Rückblick auf die Lebensgeschichte des Vaters ebenso wie seine eigene Kindheit mit diesem. Dazu tritt der Blick in die Zukunft und mit ihm die Gedanken und das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Dabei wird rasch deutlich, dass das Thema Verlust nicht erst mit der Erkrankung des Vaters aufscheint. Der frühe, plötzliche Unfalltod der Mutter fast zwei Jahrzehnte zuvor war bereits ein einschneidendes Erlebnis, dessen Erinnerung und auch eine Form der Aufarbeitung in die Zeilen immer wieder mit einfließt.

Mit kurzen gedanklichen Ausflügen u.a. in die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Neurowissenschaft und sogar Museumswissenschaft erarbeitet sich Volker Kitz einen Zugang zu diesem schwierigen, weil im wahrsten Sinne des Wortes existentiellen Thema und versucht dabei gleichzeitig sich selbst darin zu verorten, im Erinnern und Loslassen in Familien.

So lernt die Leserin beispielsweise über die verschiedenen Arten des Gedächtnisses, wie etwa das prozessuale Gedächtnis, wenn der Kopf das Konzept den Löffel an den Mund zu führen nicht mehr findet oder die Unendlichkeitsfiktion von Gewohnheiten bei Janosch Schobin. So lehrreich, intuitiv und gut gewählt diese theoretischen Zugänge sind, machen sie doch nur einen Aspekt aus, den dieses Buch so lesenswert macht. Die Zeilen leben und überzeugen viel mehr durch die Introspektion des Autors und der Offenheit mit der er diese teilt. Überzeugt hat mich hier insbesondere die Fähigkeit des Autors auch Schmerzhaftes und fast Unaussprechliches in Worte zu fassen, eine Form dafür zu finden, und sei es nur ein Nebensatz, der die ganze Absurdität einer Situation erfasst, wie etwa die Bemerkungen von Menschen in seinem Umfeld, nach dem Unfalltod seiner Mutter und der fehlenden Möglichkeit sich zu besprechen, auszusprechen, ein letztes Mal - sie könnten das nicht. - Als ob man gefragt würde. - So simpel, so wahr. Wahr ist jedoch auch, dass wir versuchen können, versuchen müssen, mit dem zu arbeiten, was das Leben uns vorsetzt, dem Schönen wie dem Schmerzhaften. Und genau einen solchen Zugang eröffnen die Zeilen des Autors und schaffen so in aller Traurigkeit, etwas Wundervolles und Tröstliches in der absoluten Offenheit und Ehrlichkeit.

Der Autor hat mich mit der Beschreibung seiner Gefühle und Gedankengänge in der schwierigen Erkrankungssituation und dem Tod seines Vaters zum Nachdenken angeregt und unglaublich berührt, das Mitansehen des Abbaus und der Verwirrung des Vaters, der nahende Verlust und schließlich Tod des Elternteils, aber auch die Gedanken und das Erinnern an die Vergangenheit ebenso wie die eigene Vergänglichkeit. All dies verknüpft der Autor mit einer informierten Recherche und Introspektion! Unbedingt Lesen!

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Veröffentlicht am 09.07.2024

Um sich eine Zukunft vorstellen zu können, braucht es Worte, sie zu beschreiben…

Die geheimnisvolle Freundin
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Es sind die 1950er Jahre in den Abruzzen. Hier lebt die kleine Nina in einem christlichen Waisenhaus, in dem sie kurz nach der Geburt als Findelkind abgegeben wurde. Der Ton ist so rau wie die einheitliche ...

Es sind die 1950er Jahre in den Abruzzen. Hier lebt die kleine Nina in einem christlichen Waisenhaus, in dem sie kurz nach der Geburt als Findelkind abgegeben wurde. Der Ton ist so rau wie die einheitliche Kleidung der Kinder. Liebe, Zuwendung und Nähe erfahren die Kinder kaum, die Regeln sind streng, die Perspektiven düster. Hier erscheint für Nina das Eintreffen der jungen Waise Lucia zunächst wie ein Hoffnungsschimmer. Doch auch in der älteren Marcella entdeckt sie schließlich eine Komplizin und ein Vorbild. Mit viel Feingefühl und einem wachen Blick für Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung beschreibt Baldelli den Alltag im Waisenhaus und den Versuch Nähe durch Freundschaft in diesem Umfeld zu erfahren.

Der Roman entwickelt sich entlang von Ninas Aufwachsen in alternierenden Perspektiven aus ihrer Kindheit im Waisenhaus und als junge Erwachsene und Arbeiterin in einer Tabakfabrik. Baldelli gelingt es die bedrückende, verzweifelte Stimmung im Waisenhaus auf besonders eindringliche Weise einzufangen und vermittelt so ein sehr authentisch wirkendes Bild des Lebens in einem von Nonnen geführten Haus im ländlichen Italien der 1950er. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen stehts Frauen und die Zwänge in denen diese agieren, agieren müssen und von denen sie begrenzt werden, aber auch ihr Versuch sich diesen Zwängen zu entreißen und ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen.

Die Geschichte um Nina und ihre Gefährtinnen ist nicht nur eine Erzählung weiblicher Selbstermächtigung sondern auch von Klassengrenzen, dem Wert und der Notwendigkeit von Bildung, um die eigene Klassenlage zu erfassen und sie zu verbessern und nicht zuletzt überhaupt ein Weltverständnis, im Sinne der eigenen Verortung in einem Gesellschaftssystem zu erlangen - dies als Grundbedingung für echte Emanzipation, Selbstwirksamkeit und Freiheit. Wort für Wort erarbeitet sich Nina dieses Weltverständnis und sprengt damit die engen Mauern des Waisenhauses und der körperlich wie geistig einengenden Doktrinen der Nonnen.

Während Nina, Marcella und die neue Kollegin in der Tabakfabrik, Carla, Komplizinnen im Geiste sind, zeigt die Autorin über die unterschiedliche Herkunft und Prägung von Nina und Marcella auf der einen und Carla auf der anderen Seite die Macht von Klassengrenzen und die Wirkung der Klassenlage auf nicht nur die materielle Situation sondern auch das Denken und internalisierte Glaubenssätze. So muss Nina bei aller Liebe und Solidarität unter den Freundinnen feststellen, dass sich Carla bestimmte großzügige und kämpferische Positionen schlicht auch einfach leisten kann, da sie aufgrund ihrer Herkunft stets weich fallen wird. Obgleich der Kampf um weibliche Emanzipation in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung Carla und Nina wie Marcella eint, werden an Nina und Marcella die intersektional wirkenden Diskriminierungsstrukturen, als Frauen, aus der Arbeiterschicht, und ehemalige Findelkinder ohne Familie deutlich. Auch wie Klassenlage den Habitus bestimmt zeichnet die Autorin anhand der feinen Unterschiede zwischen Carla und Lucia auf der einen und Nina und Marcella auf der anderen Seite sensibel hervor.

Sprachlich hat mich der Roman vom Anfang bis zum Ende überzeugt. Baldelli findet für die schwierigen und komplexen Themen, eine einnehmende, bildliche Sprache, ohne dabei kitschig zu klingen.

Schwächen zeigt der Roman lediglich zum Ende hin, das vor dem Hintergrund des sozialkritischen Ansatz und Anspruchs des Romans etwas zu sehr in Wohlgefallen konstruiert ist. Zum anderen sind Klappentext und Titel aus meiner Sicht etwas missverständlich. Die Freundschaft zwischen Nina und Lucia ist nur ein (Neben)Schauplatz von mehreren der Geschichte. Ich würde den Roman als sozialkritische, emanzipatorische Entwicklungsgeschichte von Nina beschreiben, mit tiefen Einsichten in die Strukturen eines christlichen Waisenhauses im ländlichen Italien der 50er Jahre, einer gelungenen Darstellung gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen in Bezug auf Klasse und Geschlecht und nicht zuletzt der Notwendigkeit und Macht weiblicher Solidarität. Mein Tipp daher: unbedingt die Leseprobe lesen, und im Idealfall direkt in den Bann der Geschichte ziehen lassen.

Simona Baldelli liefert mit die geheimnisvolle Freundin nicht nur einen beeindruckenden Roman in wundervoll bildlicher Sprache und das ohne jeden Anflug von Kitsch, sie beweist gleichzeitig ein feines Gespür und Ausdrucksvermögen für gesellschaftliche Distinktionsmechanismen anhand von Geschlecht, Klasse und Habitus. Auch unter Berücksichtigung der genannten leichten Schwächen ist die Geheimnisvolle Freundin für mich ein echtes Highlight in diesem Lesejahr!

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