Profilbild von ein_lesewesen

ein_lesewesen

Lesejury Profi
offline

ein_lesewesen ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit ein_lesewesen über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.12.2023

Das Erbe Sardiniens

Accabadora
0

»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, ...

»Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.« S.7

So beginnt die Geschichte von Maria Listru, die als viertes Kind einer verarmten, verwitweten Mutter mit sechs Jahren zu ihrer Ziehmutter Bonaria Urrai kommt – gegen ein paar Eier und Petersilie. Es sind die 50er Jahre, in denen Maria in Soreni, einem fiktiven Ort im ländlichen Sardinien aufwächst. War Maria bisher nur das ungeliebte Anhängsel, so lernt sie allmählich, was es bedeutet, beschützt und geliebt zu werden. Vor allem hält Bonaria das Geschwätz der Leute von ihr fern, denen es suspekt ist, dass eine so alte Frau ein kleines Kind zu sich holt. Maria wird pflichtbewusst und mit Liebe erzogen, kann sogar im Gegensatz zu ihren leiblichen Schwestern die Schule länger als nur drei Jahre besuchen. Sie wird zu einem aufgeweckten, intelligenten Kind, das seine Umwelt aufmerksam beobachtet und so entgeht ihr auch nicht, dass Tzia Bonaria immer wieder nachts verschwindet. Und sie sieht, dass die Dorfbewohner die alte Schneiderin mit einer gewissen Distanz behandel. Erst viele Jahre später wird Maria verstehen, was ihre Ziehmutter in diesen Nächten getan hat.

Murgia zeigt uns in ihrem Roman ihre Heimat, die wenig mit den Urlaubsbildern und -vorstellungen eines Sardiniens zu tun hat, das wir vielleicht kennen. Die raue, archaische Lebensweise der Landbevölkerung, die oft ungebildet ist und an altem Aberglauben festhält, scheint fast stoisch ihr Schicksal zu ertragen.
Doch im Mittelpunkt steht der Dienst von Bonaria Urrai, denn sie ist eine Accabadora – eine Frau, die Sterbehilfe leistet. Es ist nicht gesichert, ob es solche Frauen tatsächlich gegeben hat oder ob sie nur Teil zahlreicher sardischer Legenden sind.

Maria ist erschüttert, als sie erkennt, was ihre Ziehmutter macht und es gibt einen harten Bruch in ihrer Beziehung, mehr möchte ich aber nicht verraten.
Laut einer sardischen Tradition ist es wichtig, nicht allein auf die Welt zu kommen, aber auch nicht allein zu gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Strebehilfe, die tief in der traditionellen Ansichten verwurzelt ist, sowie den daraus resultierenden Generationenkonflikt schildert Murgia auf sehr behutsame und einfühlsame Weise. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern überlässt es uns Leser*innen, die Gedanken weiterzuführen.
Das alles bettet sie in eine wunderbare Geschichte ein, in der geheiratet und gestorben wird, alte Bräuche und Legenden aufleben, Land gestohlen wird, Menschen am Leben verzweifeln, aber sich auch verlieben. Hin und wieder versüßt Murgia uns das Lesen mit pabassinos und capigliette – typisch sardischen Spezialitäten, die zu einer Hochzeit gebacken werden.

Ich bin Maria beim Erwachsenwerden gern gefolgt, auch wenn ich immer eine gewisse Distanz gespürt habe. Accabadora ist sicher kein romantisierendes Wohlfühlbuch, aber eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Geschichte, die mich lange darüber nachdenken ließ, wie man mit Leben und Tod in unserer Gesellschaft umgeht.

Es war mein erstes Buch der Autorin, wird aber sicher nicht mein letztes sein. Leider starb Michela Mugia letztes Jahr im Alter von 51 Jahren.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.11.2023

Eine Mutter-Sohn-Geschichte

Mama Odessa
0

In seinem teils autobiografischen Roman erzählt Biller die Geschichte der jüdischen Familie Grinbaum, die Anfang der 70er Jahre aus der Sowjetunion nach Hamburg emigriert. Veranlasst dazu hat sie ein Giftanschlag ...

In seinem teils autobiografischen Roman erzählt Biller die Geschichte der jüdischen Familie Grinbaum, die Anfang der 70er Jahre aus der Sowjetunion nach Hamburg emigriert. Veranlasst dazu hat sie ein Giftanschlag auf den Vater Gena, es traf jedoch die Mutter Aljona, die an dem Tag hinter dem Steuer des Fahrzeugs saß. Sie wird noch ein Leben lang unter den Folgen der Vergiftung leiden.
Die Ehe der Eltern zerbricht, da die Mutter lieber in Odessa geblieben wäre und Hamburg für den Vater nur ein Zwischenstopp auf seinem Weg nach Israel sein sollte. Doch das Grindelviertel in Hamburg wird ihre Endstation sein.
Aus der Sicht des Sohnes Mischa wird die Beziehung zwischen Mutter und Sohn erzählt, eine nicht immer spannungsfreie Beziehung, überschattet von dem Trauma der Mutter, die ihr geliebtes Odessa zeitlebens vermisst. Die aber auch ihren Sohn dazu animiert, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Sie selbst bringt ihren ersten Roman erst mit über siebzig Jahren heraus und es wird ihr einziger bleiben.

Ausgang der äußerst komplexen und facettenreichen Familiengeschichte bildet ein über 30 Jahre alter Brief der Mutter, den Mischa erst nach ihrem Tod findet. Was folgt, ist keine chronologische Erzählung, vielmehr ein Erinnern an einzelne Stationen und Szenen aus dem Familienleben. Das wechselt sich mit der Perspektive der Mutter ab und erfordert doch einiges an Konzentration. Gerade die fehlende Chronologie hat es mir oft nicht leicht gemacht.
In der Geschichte steckt viel Schmerz, Verletzlichkeit und Sehnsucht, die Biller spürbar in Wort packen kann. Dennoch blieben mir die Figuren fremd und unnahbar, was vielleicht auch daran lag, dass Biller in vielem oberflächlich bleibt.
Ich denke, dass dieses Buch sicher ein gutes Stück Literatur ist, für alle, die Billers Bücher und Leben kennen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.11.2023

Eine Gedankenreise in Moll

Unendlich ist die Nacht
0

»Ich wollte den Menschen kennen, den ich liebe. Und entdecken, warum ich ihn liebe, als hätte die Liebe einen Grund. Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihn liebe. Vielleicht weil wir beide den Herbst ...

»Ich wollte den Menschen kennen, den ich liebe. Und entdecken, warum ich ihn liebe, als hätte die Liebe einen Grund. Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihn liebe. Vielleicht weil wir beide den Herbst und lange Spaziergänge mögen. Oder weil wir beide unsere Länder jung verlassen haben. Und deswegen glauben wir, uns zu verstehen. Aber ich weiß manchmal nicht, ob wir uns verstehen. Wenn Sie sich einen Partner wünschen, damit Sie verstanden werden, liegen Sie falsch.« S.25

Selten ist es mir so schwergefallen, ein Buch in Worte zu fassen. Deshalb folgen nun eher ein paar persönliche Gedanken, weil diese Geschichte sehr viel in mir ausgelöst hat.
In einer scheinbar unendlichen Nacht folgen wir den Gedanken zweier namenloser Männer. Der eine floh 1979 aus dem Iran, der andere ein Jahr vor dem Mauerfall von Ost- nach Westberlin. Seit zwanzig Jahren sind sie nun ein Paar, sie scheinen tief miteinander vertraut und doch verbindet sie eine fast schon bedrückende Einsamkeit. So zumindest habe ich es empfunden.
Kadivar hat die Form des inneren Monologs gewählt, die beiden wechseln in jener Nacht tatsächlich kein einziges Wort miteinander. Diese »Sprachlosigkeit« ist auch eins der zentralen Themen, um das die Gedanken kreisen. Nachdem der eine den Iran verlassen hat, spricht er viele Jahre kein Persisch mehr, lernt Französisch, studiert französische Literatur, entkoppelt sich von seiner Muttersprache, als wolle er vor sich selbst flüchten. Bis er eine Stelle als Übersetzer in Berlin annimmt, die ihn unvermittelt mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Aber kann eine Sprache auch anderes sein, wenn man nur von einem Stadtteil in den anderen zieht? Ja, sie hat eine andere Farbe, einen anderen Klang, auch teils andere Bedeutungen, wie sein Partner damals feststellen musste. Etwas, das ich sehr gut nachvollziehen kann.

Auch zwischen den beiden bleibt aus den unterschiedlichsten Gründen vieles unausgesprochen. Aber in dem, was sie verschweigen, liegt viel Zärtlichkeit und Behutsamkeit und das Wissen, dass der andere eine Vergangenheit hat, die sich nicht abstreifen lässt, denn Migration ist wie ein Schatten, den man ein Leben lang mit sich trägt. Kann man, und wenn ja wie, in einem fremden Land ankommen, ober bleibt man ein Leben lang ein Fremder?

»Ich entdeckte, dass man mit der Einsamkeit leben kann, indem man sich davon nährt und sich an seine Vergangenheit erinnert. Die Zukunft war ein absolutes Vakuum, das sich von keinem Wunsch ausfüllen ließ. Die Gegenwart gab es nicht.« S.64

Ich denke, man kann das Buch unter verschiedenen Aspekten lesen, weil es auch einen tiefen Bezug zu Philosophie und Literatur hat, womit sich die beiden Protagonisten auseinandersetzen. Für mich war es aufgrund meiner eigenen Flucht eine intensive Reise in meine Vergangenheit, deren viele lose Enden hier Anknüpfungspunkte fanden.

Es ist ein leises Buch, dass beim Lesen enorm entschleunigt. Immer wieder habe ich einzelne Sätze mehrmals gelesen, weil es Kadivar gelungen ist, für etwas Worte zu finden, nach denen ich ein Leben lang gesucht habe. Was bleibt, sind viele markierte Sätze und Nachdenklichkeit.

»Die Unendlichkeit des Seins spiegelt sich in der Seele wider, die auch an sich unendlich ist. Deswegen kann man einen Menschen nie ganz begreifen. Deswegen werde ich auch dich nie ganz kennen, obwohl mir dein Atem und deine Haut so vertraut sind, und ich deine Gefühle und Gedanken so deutlich wahrnehme, und deswegen ist auch die Liebe selbst unendlich, wenn man wirklich liebt.« S.84

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.11.2023

Frauen in Kamerun

Im Herzen des Sahel
0

Die 15-jährige Faydé lebt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in den Bergen Kameruns. Seit ihr Vater nach einem Angriff der Terrormiliz Boko Haram verschwunden ist, muss sie mit für den Lebensunterhalt ...

Die 15-jährige Faydé lebt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in den Bergen Kameruns. Seit ihr Vater nach einem Angriff der Terrormiliz Boko Haram verschwunden ist, muss sie mit für den Lebensunterhalt der Familie sorgen. Doch Ernteausfälle und ausbleibender Regen sorgen dafür, dass die Lebensumstände immer schwieriger werden. Faydé beschließt, wie ihre Freundinnen in die nächstgelegene Stadt Maroua zu gehen, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Für ihre Mutter Kondem ist es eine Ironie des Schicksals, dass ihre Tochter den gleichen Weg wie sie einschlagen will. Dienstmädchen zu sein, bedeutet nichts anderes, wie eine Sklavin einer reichen Familie ausgeliefert zu sein.
Hatte sie sich doch ein besseres Leben für sie vorgestellt, doch das Schulgeld kann sie schon lange nicht mehr aufbringen. Kondem weiß, die schönen Kleider und Geschenke, die die Mädchen aus der Stadt mitbringen, sind nichts gegen die Gefahren, die auf Faydé warten.
Faydés Alltag als Dienstmädchen ist von harter Arbeit bestimmt. Ihr Lohn von 8000 Franc entspricht gerade mal dem wöchentlichen Taschengeld der verwöhnten Tochter des Hauses ihres Dienstherrn. Für die drei Ehefrauen und ihre Kinder ist Faydé eine Kaano, was so viel wie »untere Schicht« bedeutet. Offene Verachtung und Erniedrigung schlägt ihr entgegen, Beschimpfungen, Gewalt und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Doch Faydé und ihre Freundinnen lassen sich ihren Traum von einem besseren Leben nicht nehmen.
Der Hauslehrer der Kinder, Boukar, in den sich Faydé heimlich verliebt, könnte ihre Chance sein, denn er erkennt ihr Potenzial und will, dass sie ihren Schulabschluss nachholt.

Die kamerunische Autorin zeichnet ein sehr klares, schonungsloses Bild ihres Landes, der tiefen Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten, der unüberwindbaren Klassenunterschiede. Sie zeigt, wie Frauen in den Traditionen und Kulturen verhaftet sind, ihre Bestimmung stillschweigend zu ertragen haben. Mädchen werden entführt, zwangsverheiratet, Polygamie ist an der Tagesordnung. Eine zutiefst patriarchalische Welt, in der die jungen Frauen beginnen, um ihre Selbstbestimmung zu kämpfen. Doch kann das gelingen, wenn man den Angriffen der Boko Haram ausgesetzt ist und täglich ums Überleben kämpfen muss?
Der Schreibstil der Autorin ist einfach und wechselt immer wieder in berichtende Passagen, was bei mir dazu führte, dass ich den Tiefgang vermisst habe und kaum eine Beziehung zu den Charakteren aufbauen konnte. Das ist aber auch mein einziger Kritikpunkt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.11.2023

Solider australischer Krimi

Funkloch
0

Es war das erste Buch des australischen Autors, das ich gelesen habe. Der bereits 2016 im Original veröffentlichte „Funkloch“-Roman gehört in seine Inspector-Challis-Reihe, ich hatte aber nicht das Gefühl, ...

Es war das erste Buch des australischen Autors, das ich gelesen habe. Der bereits 2016 im Original veröffentlichte „Funkloch“-Roman gehört in seine Inspector-Challis-Reihe, ich hatte aber nicht das Gefühl, dass mir Hintergrundwissen zu den Kommissar*innen fehlte.

Zwei Auftragsmördern kommt nach getaner Arbeit ein potenzieller Zeuge in den Weg, den sie nun auch noch aus dem Weg räumen. Doch eine achtlos aus dem Auto geworfene Kippe wird ihnen zum Verhängnis und sie geraten in eine tödliche Falle.
Für Inspector Challis und sein Team ist schnell klar, was die Ursache für das verheerende Buschfeuer ist, doch bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf eine verlassene Drogenküche, in der Ice hergestellt wurde. Und Drogen werden hier auf der Halbinsel Mornington Peninsula immer mehr zum Problem und machen auch keinen Halt vor den zugezogenen, wohlhabenden Städtern. Challis muss den Fall an eine erfahrene Ermittlerin aus Melbourne abgeben.
Doch Disher zieht in seinem Krimi noch weitere Verbrechen in den Mittelpunkt, die sich nach und nach miteinander verflechten. Gestohlene Landmaschinen, ein übelriechender Serienvergewaltiger, ein 6-jähriges Mädchen, das von einer drogenabhängigen Mutter vermisst wird, und dann scheinen sie noch ein Leck im eigenen Dezernat zu haben, denn es dringen brisante Informationen nach außen.
Und da wäre ja noch das Funkloch. Besonders ärgerlich, wenn man ein Känguru angefahren hat, irgendwo draußen in der Wildnis, keinen Pannendienst rufen kann und stattdessen über eine Leiche stolpert.

Ich muss zugeben, dass es manchmal nicht einfach war, sich all die Personen zu merken, die an den unterschiedlichen Fällen arbeiten, Zeugen, Opfer, vermeintliche Täter und dann noch die ganzen privaten Verflechtungen. Doch mit der Zeit wurde es für mich zu einem stimmigen Gesamtbild.
Disher schafft mit Challis und Destry zwei sehr nahbare Charaktere, die einen guten Job machen, den sie mit ihrer Liebesbeziehung versuchen, unter einen Hut zu kriegen. Auch die Nebencharaktere sind allesamt sehr lebensnah und vor allem nicht frei von menschlichen Fehlern und Launen.
Trotz mehrerer Handlungsstränge kam keine Verwirrung auf, wozu Dishers einfacher, schnörkelloser Schreibstil sicher auch beigetragen hat. Leider war er aber für mich auch gleichzeitig etwas eintönig und hat mich oft nicht mitgerissen.
Auch die angedeutete Gesellschaftskritik blieb weitestgehend im Hintergrund und an manchen Stellen für mich nicht erkennbar, da Australien dann doch ein unbeschriebenes Blatt für mich ist. Somit drängte sich die ganze Drogenproblematik und privaten Verwicklungen sehr in den Vordergrund, bleibt aber am Ende ein solider Krimi mit durchschnittlicher Spannung, den ich gern gelesen habe.
Der mehrfach preisgekrönte Autor hat auch hier bei uns seine Fangemeinde und die können sich auf eine gute Fortsetzung der Reihe freuen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere