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Veröffentlicht am 23.02.2023

Von schwieriger Liebe und Überleben

Mameleben
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Fordernde, mitunter übergriffige, nicht loslassende, vorwurfsvolle und schnell beleidigte Mütter sind - dem Klischee der jiddischen Mamme und etlichen Serien-Übermüttern zum Trotz - keine rein jüdische ...

Fordernde, mitunter übergriffige, nicht loslassende, vorwurfsvolle und schnell beleidigte Mütter sind - dem Klischee der jiddischen Mamme und etlichen Serien-Übermüttern zum Trotz - keine rein jüdische Besonderheit. Allerdings, falls besagte Mutter obendrein Holocaust-Überlebende ist, kommen Vorwürfe dazu, die dem Nachwuchs ein geballtes Maß an Schuldgefühlen aufbürden, die gojim-Kinder nie gekannt haben. Zum Beispiel: Für so was habe ich überlebt! All die Familienangehörigen, die ich verloren habe, und statt dessen habe ich nun jemand wie dich! Mal ganz abgesehen vom transgenerationalem Trauma, das weitergegeben wird.

Mit seinem Buch "Mameleben" hat Michel Bergmann seiner Mutter Charlotte ein literarisches Denkmal gesetzt, in dem die widersprüchlichen Gefühle deutlich und nachvollziehbar werden. Denn so nervtötend die eigene Mutter auch sein kann, man kommt nicht ganz los auch dieser Beziehung, ist von frühen Kindheitserfahrungen geprägt fürs Leben. So ist "Mameleben" sowohl Liebeserklärung als auch gelegentliche Anklage, Erklärung, Suche und Biografie. Das Buch zeigt auch, was es heißt, mit einer durch die Schoah geprägten Familiengeschichte aufzuwachsen, gerade auch in Deutschland.

Dabei wollte Charlotte nach 1945 deutschen Boden nicht wieder betreten. Die junge Frau aus Bayern, in einer aufgeklärt-religiösen bürgerlichen Familie aufgewachsen, floh kurz vor dem Abitur nach Frankreich - als Jüdin durfte sie nicht länger eine höhere Schule besuchen. Ihre Eltern, der Vater im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet und ein deutscher Patriot, würden in Auschwitz ermordet. Als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg auch in Frankreich einmarschieren, wird Charlotte wie viele emigrierte Juden in einem Lager interniert, kann aber durch Flucht der drohenden Deportation entgehen.

Sie flieht in die Schweiz - und landet dort als illegale Ausländerin wieder in einem Lager. Der Lichtblick in dieser Lage ist Peter Bergmann, ein aus Frankfurt stammender deutsch-jüdischer Geschäftmann, in den sie sich bereits in Paris verliebt hatte. Und Bergman will nach 1945 die Chancen nutzen, die sich ihm beimWiederaufbau des Textilgeschäfts der Familie bieten. Da ist der kleine Michel bereits geboren und wird für ein Jahr in der Obhut von Nonnen zurückgelassen.

Vom DP-Lager in Zeilsheim in eine große Räumung im vornehmen Frankfurter Westend - wirtschaftlich geht es der Familie gut, auch wenn Bergmann Senior sich als Spieler erweist. Doch zugleich ist es ein Leben auf gepackten Koffern. Bergmann beschreibt das Aufwachsen im Nachkriegsdeutschland, in dem sich nicht nur seine Mutter fragte, ob ein Leben in Amerika oder in Israel nicht besser wäre als das unter Menschen, die wenige Jahre zuvor vielleicht zu denen gehörten, die nur zu bereitwillig jüdische Nachbarn verrieten, deportierten oder in den wirtschaftlichen Ruin bei der "Arisierung" von Unternehmen stürzten.

Früh verwitwet und mit einem ruinierten Geschäft muss Charlotte auch in den goldenen 50-er Jahren kämpfen, eine zweite Ehe führt sie schließlich nach Straßburg, doch glücklich wird sie nicht in der Beziehung. Bergmann beschreibt seine Mutter als starke, schöne Überlebenskünstlerin, aber auch als einsame und verbitterte alte Frau, die sich und anderen das Leben schwer macht, der er es nie recht machen kann und deren Forderung nach Nähe er sich erst recht entzieht. Eine Frau aber auch, die auch im Alter an ihrem Stolz und ihrer Eigenständigkeit festhält. "Das gestohlene Glück" heißt Mameleben mit seinem Untertitel und man ahnt, um wie viel die junge Charlotte betrogen wurde, die von einem Medizinstudium und einer Karriere als Kinderärztin geträumt hatte.

Mit den Brüchen und persönlichen Tragödien, den Verlusten und dem Überlebenswillen steht Charlotte exemplarisch für viele der Schoah-Überlebenden ihrer Generation. Der sehr persönliche Blickwinkel des Erzählers sorgt für ein facettenreiches Porträt der Mutter, bei dem Liebe genauso durchschimmert wie Bedauern. Zugleich arbeitet er sein Verhältnis zur Mutter auf, nach ihrem Tod. Das ist mutig in der großen Offenheit und Verletzlichkeit, die er dabei zeigt. Ein wenig wird "Mameleben" so zu einer Mischung aus Selbsttherapie und literarischem Kaddisch.

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Veröffentlicht am 23.02.2023

Plauderstündchen eines Kosmopoliten

Öfter mal die Welt wechseln
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Beim Lesen von "Öfter mal die Welt wechseln" von Armin Geiges hatte ich ein echtes Deja vu Erlebnis, erinnerte mich Art und Ton des Buches doch stark an Veranstaltungen meiner Studentenzeit. Leitende Redakeure ...

Beim Lesen von "Öfter mal die Welt wechseln" von Armin Geiges hatte ich ein echtes Deja vu Erlebnis, erinnerte mich Art und Ton des Buches doch stark an Veranstaltungen meiner Studentenzeit. Leitende Redakeure machten in Zeiten großen Andrangs auf die Medien bei Veranstaltungen wie "Magisterstudium - und dann?" Vorschläge wie: Fahren Sie doch einfach mal ins nächste Krisengebiet und bieten Sie von dort Geschichten an. Die nächsten, damals aktuellen Krisengebiete waren unter anderem El Salvador und Nicaragua. Mal eben so hinzufliegen wäre mir schon allein finanziell nicht möglich gewesen.

Geiges dagegen zog es im Wendejahr 1989 nach Moskau und er knüpfte Kontakte mit Medienvertretern, die sich dann auch in der Folgekarriere immer wieder als einträglich wie auch erfolgreich erwiesen. Vermutlich kein Wunder, wenn er also im Rückblick auf sein Globetrotter- und Expatleben - unter anderem als Stern-Korrespondent in China, für Spiegel-TV und RTL unterwegs in Russland, vier Jahre in Rio, dann als hochbezahlter Medienmanager in China - Fernwehgeplagten rät, bei der Lebensplanung lieber den Gedanken an Sicherheit fahren zu lassen und ins Ungewisse zu springen, vorausgesetzt, man kommt dabei in die weite Welt.

Dass er dabei über Sicherheitsdenken spottet und gleichzeitig den Vorteil des Eigenheims (in seinem Fall: vermietetes Reihenendhaus und eine Hamburger Dachterassenwohnung) lobt, dürfte denn viel mit der Perspektive des heute alten weißen Mannes zu tun haben, der zur rechten Zeit am richtigen Ort war und vor allem auch die richtigen Leute traf, die ihm dann wiederum die richtigen Türen öffneten. Insofern ist das Buch für die meisten jungen Menschen der Generation Praktikum vermutlich ebenso lebensfremd wie seinerzeit für mich die Ratschläge in überfüllten Semesterveranstaltungen.

Andere Tipps des Buches sollten eigentlcih für jeden und jede, die sich für ein Leben im Ausland interessieren, selbstverständlich sein: Dass man etwa die Sprache lernt, die eigene sprachlich-kulturelle Blase meidet, in die neue Landeskultur eintaucht und mit offenem, neugierigen Blick die neue Erfahrung und Umwelt annimmt. Ganz ehrlich - für diese Erkenntnis hätte ich kein Buch gebraucht.

Dass Reisen den Blick verändert, das Eintauchen in andere Kulturen und das Leben außerhalb der bekannten Landesgrenzen und Horizonte ebenso herausfordernd wie bereichernd sein kann - das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. In diesem Buch klingt mir das alles ein bißchen ich-verliebt und eitel. Da hätte ein wenig Distanz des Autoren zu sich selbst sicherlich nicht geschadet. Als Plauderstündchen aus einem Kosmopolitenleben ist das Buch sicherlich entspannend, wer ernsthaft den Sprung ins Ausland plant, würde sich heutzutage wohl eher im Internet informieren statt sich Lebensweisheiten zugute zu führen, die telweise auf vor Jahrzehnten gemachten Erfahrungen aufbauen.

Anderes, was mich hier wirklich mal interessiert hätte, wurde dagegen nur knapp abgehakt, etwa das Jahr auf einer FDJ Kaderhochschule (ja, damals gab es die DDR noch) und wie die Erfahrung mit dem real existierenden Sozialismus den Autor letztlich geprägt hat. Oder die Frage, wann er die letzten seiner Überzeugungen über Bord geworfen hatte zugunsten von Boss-Anzügen oder Entertainment-Programm auf Kreuzfahrten.

Laut Klappentext gibt Geigen all denen "Rat und Inspiration, die selbst in die Welt aufbrechen wollen". Bei Thema Rat bin ich ein bißchen skeptisch. Und was die Inspiration angeht: Wer aufbrechen will (oder schon einschlägige eigene Erfahrungen gesammelt hat), braucht ja eigentlich kein weiteres Buch, sondern will einfach raus und weg.

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Veröffentlicht am 22.02.2023

Gen Z plätschert ins Erwachenenleben

Ohne mich
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Für eine Coming of Age Geschichte ist die namenlose Ich-Erzählerin aus "Ohne mich" von Esther Schüttpelz mit Mitte 20 bereits zu alt. Das Studium der Rechtswissenschaften steht vor dem Abschluss, die ...

Für eine Coming of Age Geschichte ist die namenlose Ich-Erzählerin aus "Ohne mich" von Esther Schüttpelz mit Mitte 20 bereits zu alt. Das Studium der Rechtswissenschaften steht vor dem Abschluss, die kurze, eher spontan eingegangene Ehe ist sehr schnell gescheitert. Die Protagonistin hadert mit ihrem Leben, kifft, kokst, feiert und geht die praktische Arbeit im Referendariat eher entspannt an. Das Leben muss nicht zu ernst genommen werden. Im Zweifelsfall geht es zur Herkunftsfamilie und lässt sich von Mama aufpäppeln, weil das Verwaltungspraktikum langweilig ist und man sich lieber krank meldet.

Ich gebe zu - mit diesem Buch und seiner Protagonistin wurde ich einfach nicht warm. Vermutlich gehöre ich auch nicht zur Zielgruppe, vielleicht ist es für Gen Z-Leserinnen eine Offenbarung. Ich sah da nur die Luxusprobleme unreifer Bürgerskinder, die nie um etwas kämpfen mussten - außer vielleicht um die Beziehung, aber auch da schien die Protagonistin nicht so wirklich zu wissen, was sie eigentlich wollte.

Ja, Erwachsen werden ist schwer. Für eine Menge Menschen beginnt dieser Prozess deutlich früher und ist wesentlich härter. Ich muss Buchfiguren nicht sympathisch finden, aber ich will sie interessant haben, und hier plätscherten Handlung, Persönlichkeitsentwicklung, Innensichten irgendwie vor sich hin. Meine Motivation, die Hauptfigur näher kennenzulernen, ist beim Lesen nicht gestiegen. Immerhin habe ich erkannt, dass sie eine Vorliebe für Kleidung mit Raubtierprint hat, stammte wohl noch aus der Femme fatale Phase.

Von den Figuren dieses Buches auf die Gen Z zu schließen, wäre jetzt natürlich unfair und gemein. Zum Glück gibt viele junge Menschen dieser Altersgruppe, die sich für das Klima, Gendergerechtigkeit oder Nachhaltigkeit engagieren. Wenn sie so tun, als seien sie die ersten, die diese Themen entdeckt haben, ist das zwar manchmal ein wenig nervig, aber sie plätschern nicht in gleichgültiger Beliebigkeit dahin.

Am Ende des Buches habe ich mich gefragt, was die Autorin eigentlich mitteilen wollte. Sinn- und Orientierungssuche? Die Schwierigkeit des Loslassens? Langer Weg zu mehr Selbsterkenntnis? Hier ist eine junge Frau, die irgendwie für überhaupt nichts zu brennen scheint. Und das finde ich schade.

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Veröffentlicht am 21.02.2023

Segeltörn mit toxischer Paardynamik

In blaukalter Tiefe
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Ein Kriminalroman ist "In blaukalter Tiefe" von Kristina Hauff nicht, spannend ist das Buch über zwei Paare und einen Skipper, aus wechselnden Perspektiven erzählt, dennoch. Denn der romantische Segeltörn ...

Ein Kriminalroman ist "In blaukalter Tiefe" von Kristina Hauff nicht, spannend ist das Buch über zwei Paare und einen Skipper, aus wechselnden Perspektiven erzählt, dennoch. Denn der romantische Segeltörn zum schwedischen Schärengarten wird zu einem handfesten Psychodrama. Sehr unterschiedliche Charaktere, Ambitionen und Träume prallen an Bord der Yacht mit all ihrem begrenzten Raum und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten zusammen, der Sturm, der am Ende auch die Wetterlage eskalieren lässt, trägt das Seinige dazu bei.

Für das Powerpaar Caroline und Andreas ist der Törn ein langgehegter Traum. Caroline, Chefredakteurin eines Lifestyle Magazins, hat schon lange von einem Urlaub in den Scherengärten geträumt. Andreas, Wirtschaftsstrafverteidiger und ein typisches Alphatier, erhofft sich bei Segelromantik auch wieder harmonischeres Fahrwasser für die Ehe, denn zwischen dem Paar ist Entfremdung gewachsen. Eigentlich keine gute Idee, unter diesen Umständen die Reise auch noch für einen weiteren Zweck zu nutzen, denn auch der junge Anwalt Daniel und seine Freundin Tanja sind zu dem Törn eingeladen.

Daniel ist jung und ehrgeizig, die Reise ist auch ein Testlauf, ob er als Partner in die Kanzlei aufgenommen wird. Doch indem Daniel sich Andreas als Idealkandidat beweisen will, vernachlässigt er, wie unwohl sich seine Freundin Tanja fühlt. Die Altenpflegerin mit Kinderwunsch stellt sich immer häufiger die Frage, ob die Beziehung Zukunft hat, zumal Andreas derbe Flirtversuche startet.

Caroline wiederum fühlt sich zunehmend zu dem undurchschaubaren, mürrisch-distanzierten Skipper Eric hingezogen - auch, weil der Andreas buchstäblich auflaufen lässt. Das Bordklima scheint immer toxischer - keine guten Voraussetzungen, wenn die Elemente bedrohlicher werden.

Hauff bringt die klaustrophobische Atmosphäre gut zum Ausdruck. Die Segel- und Landschaftsbeschreibungen machen Lust auf das Abenteuer Segeln, verdeutlichen aber auch, dass der menschliche Faktor bei so einer Reise stimmen muss. Wenn alles einen doppelten Boden und unterschwellige Schwingungen hat wie bei dieser Reisegruppe, ist die toxische Gruppendynamik potentiell tödlich. Der Traum von der großen Freiheit unter den Segeln entpuppt sich als Alptraum scheiternder Beziehungen und offenbar werdenden Lebenslügen. Dass auch ein wichtiger Fall im fernen Frankfurt eskaliert, passt da zur stürmischen Dynamik dieser Reise, die für die beiden Paare nicht folgenlos bleiben wird.

Für Freunde psychologischer Beziehungsdramen und locked room Dramen.

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Veröffentlicht am 19.02.2023

Faszinierendes Frauenporträt

Das Porzellanzimmer
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Punjab im Jahr 1929 - in der britischen Kolonie Indien gärt es, die Unabhängigkeitsbewegung sucht nach Freiheitskämpfern, doch auch das Miteinander von Muslimen, Hindus und Sikhs ist nicht konfliktfrei. ...

Punjab im Jahr 1929 - in der britischen Kolonie Indien gärt es, die Unabhängigkeitsbewegung sucht nach Freiheitskämpfern, doch auch das Miteinander von Muslimen, Hindus und Sikhs ist nicht konfliktfrei. Vieles bleibt hingegen ganz traditionell, arrangierte Ehen etwa. Die junge Mehar wurde bereits im Alter von fünf Jahren verlobt, zehn Jahre später steht Hochzeit an. Wir würden heute von der Zwangsverheiratung eines Kindes sprechen.

In seinem Roman "Das Porzellanzimmer" verarbeitet der britische Schriftsteller Sunjeev Sahota, dessen Vorfahren aus dem Punjab stammen, ein Stück indischer Kolonialgeschichte, aber auch Erfahrungen des Aufwachsens als Kind der südasiatischen Minderheit in der weißen und oft feindseligen Mehrheitsgesemmschaft.

Wie wenig im Punjab des frühen 20. Jahrhunderts beim Thema Heirat irgendwelche Gefühle eine Rolle spielen, wird schon daraus ersichtlich, dass Mehars Schwiegermutter Mai alle ihre drei Söhne am gleichen Tag verheiratet - so lässt sich sparen. Und bis zuletzt bleibt Mehar und den anderen jungen Bräuten unklar, mit welchem der Brüder sie eigentlich verheiratet sind. Selbst am Tag der Hochzeit haben sie ihm, traditionell eng verschleiert, nicht ins Gesicht sehen können - und der eheliche Beischlaf wird wechselweise in einer Kammer des Hofs im Dunkeln vollzogen, meist wortlos und insbesondere für die jungen Ehefrauen auch freudlos.

Tagsüber müssen die jungen Frauen kochen, waschen oder auf dem Feld arbeiten, die Nächte verbingen sie gemeinsam im sogenannten Porzellanzimmer, wenn sie nicht an der Reihe für Pflicht-Sex mit dem Ehemann sind - es gilt schließlich, mit einem Sohn schwanger zu werden.

So ist es möglicherweise kein Wunder, dass Mehar einem Irrtum unterliegt, als sie in einem der drei Brüder ihren Ehemann zu erkennen glaubt und sich in ihn verliebt.

Eine Beziehung mit Folgen, die ihr Urenkel, der Ich-Erzähler eines zweiten, in der Gegenwart angesiedelten Erzählstrangs, nach und nach entdeckt. Der junge, in Großbritannien geborene und aufgewachsene Mann erlebt im Land seiner Vorfahren einen Kulturclash. Hier sieht es zwar aus wie die Menschen vor Ort, gilt ihnen aber als Engländer. Als seine eigenen Eltern in ein weißes Viertel zogen, in dem sie ihren Laden führten, wurden sie wiederum rassistisch angefeindet. Der junge Mann kommt nicht aus romantischen Gründen nach Indien, sondern hofft hier den Entzug aus seiner Heroinabhängigkeit zu schaffen, freundet sich mit einer Ärztin und einem Lehrer an und geht der Geschichte seiner Familie auf den Grund.

Während der kalte Entzug durchaus eindrücklich geschildert wird, wirkt dieser Teil des Buches etwas aus dem Zusammenhang gerissen und wäre meiner Meinung nach besser als Thema eines eigenen Romans geeignet gewesen. Die Geschichte von Mehar, die so vielen Zwängen ausgesetzt ist und trotzdem eine starke, eigenständige Persönlichkeit, reicht eigentlich völlig aus und hat mich voll überzeugt. Als Sittenbild einer Vergangenheit, die mancherorts noch Wirklichkeit für Frauen und Mädchen ist, hat mich das "Porzellanzimmer" beeindruckt. Das Buch ist so intensiv geschrieben, dass die Farben und Gerüche des kleinen Dorfs im Punjab beim Lesen erfahrbar werden.

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