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Veröffentlicht am 05.11.2024

literarischer Reisebericht aus dem Osten Afrikas

In die andere Richtung jetzt
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Navid Kermani hat sich aufgemacht in den Osten Afrikas, von Madagaskar bis in die Nuba-Berge des Sudan, auf der Suche nach Kultur und Traditionen der Völker dieser Länder, um zu beobachten, wie sich der ...

Navid Kermani hat sich aufgemacht in den Osten Afrikas, von Madagaskar bis in die Nuba-Berge des Sudan, auf der Suche nach Kultur und Traditionen der Völker dieser Länder, um zu beobachten, wie sich der Klimawandel auf die Menschen dort auswirkt, zugleich reflektierend: Das Erbe des Kolonialismus, und was es heute für afrikanische Identitäten heißt. "In die andere Richtung jetzt", die Buchform einer Reportagereise für die "Zeit", beschreibt diese Reise.

Kermani wollte ganz offensichtlich nicht als alter weißer Mann daherkommen, um mal den beliebten Kampfbegriff zu verwenden. Er bemüht sich um Sensibilität, nähert sich nachdenklich-behutsam Menschen und Ländern: Madagaskar, Mosambik, Komoren, Tansania, Kenia, Äthiopien und schließlich Sudan. Er hat viele Bücher gelesen und Narrative kennengelernt, er reflektiert, denkt auch immer darüber nach, wie er denn wohl wirkt, aus postkolonialer Perspektive. Das ist alles politisch höchst korrekt, aber vor lauter Angst, in ein vermeintliches Fettnäpfchen zu treten, eben auch ein bißchen verkrampft.

Wäre Kermani ein bißchen spontaner auf die Menschen zugegangen, denen er im Laufe seiner Reise begegnete, hätte er gemerkt: Begegnungen auf Augenhöhe sind möglich auch ohne ständig koloniale Altlasten zu schultern. Die koloniale Ära ist für die meisten Afrikaner*innen angesichts der jungen Bevölkerung ziemlich graue Vorzeit, die mit ihrem Leben nichts mehr zu tun hat. Und so manches Thema, das in den USA im Rahmen von black history and culture und in einem Teil der afrikanischen Diaspora in Europa (akademisch, politisch bis aktivistisch) eine Rolle spielt, für die Menschen in Afrika kein Thema ist. Die haben nämlich ganz andere Probleme.

Spannend ist sein Buch trotzdem, gerade auch aufgrund der dort geführten Gespräche mit Künstlern, mit Naturschützern, mit Musikern, mit denen, die kulturelle Tradition bewahren und gleichzeitig neues schaffen, das weit über gefälligen Afropop hinausgeht. Dort, wo sich etwa Musik-Aficionados über Rhythmen begegnen, entwickelt er sich dann auch, der direkte, unverkrampfte Umgang, der manchmal vor lauter historisch-politischem Bewusstsein so schwer scheint.

Der Konflikt in Tigray mit seinen Menschenrechtsverletzungen und die Schönheit der Riten der äthiopischen Kirche, die Suche nach dem deutschen Kolonialerbe in Tansania, die Nöte der Fischer am Indischen Ozean angesichts von Klimawandel und Überfischung, Korruption und Zukunftssorgen - "In die andere Richtung jetzt" beschreibt auch die Probleme jenseits der Naturschönheiten Ostafrikas. Vor allem für Menschen, die bisher nur das Bild von klassischen Safariparadies vor Augen hatten, gibt es hier manche Erkenntnis.

Veröffentlicht am 19.09.2024

Sinnkrise und Identitätssuche

Juli, August, September
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Einst arbeitete sie an einer New Yorker Galerie, jetzt ist sie vor allem Mutter einer kleinen Tochter in Berlin, während Ehemann Sergej als Konzertpianist ständig unterwegs ist. Da wären wohl viele Frauen ...

Einst arbeitete sie an einer New Yorker Galerie, jetzt ist sie vor allem Mutter einer kleinen Tochter in Berlin, während Ehemann Sergej als Konzertpianist ständig unterwegs ist. Da wären wohl viele Frauen wie Lou ein wenig in der Sinn- und Daseinskrise. Vor allem, da die eigene Mutter ständig eine Ehekrise wittert und die Schwiegermutter - zugleich Sergejs Managerin - von Anfang an vermittelt hat, dass Lou nicht gut genug für ihren Sohn ist.

Und sozusagen on top die Frage nach Selbstdefinierung und Identität - deutsch, postsowjetisch, jüdisch? Die subtilen Vorwürfe der israelischen Verwandtschaft, dass sie ausgerechnet in Deutschland leben. Die Frage, wie man auch nichtreligiös jüdisch sein kann und was eigentlich der fünfjährigen Rosa vermitteln, benannt nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden. In "Juli, August, September" beschreibt Olga Grjasnowa die Sinnsuche ihrer Ich-Erzählerin, mal mit spitzer Ironie, mal verunsichert und verwirrt.

Ein Familientreffen auf den Kanaren könnte vielleicht Klarheit bringen, wirft aber eher noch mehr Fragen auf: Lous greise Großtante, Schwester eben jener namensgebenden Rosa, wird 90. Vielleicht die letzte Gelegenheit, Fragen nach der Vergangenheit zu stellen, letzte Gelegenheit, den Familienclan zu sehen. Das eher heruntergekommene Hotel trägt wenig zur Entspannung bei, zudem ist Lou irritiert, dass ihre Großmutter aus den Erinnerungen der Großtante gewissermaßen herausredigiert, in ihrer Bedeutung für die harte Flucht aus dem deutsch besetzten Belarus im Zweiten Weltkrieg gemindert wird. Gibt es in der Familie zwei Narrative, eine, die Lou und ihre Mutter kannten, eine andere der Cousins und Cousinen? Wo liegt die Wahrheit, die dann wiederum für die Identität wichtig ist?

Lou fliegt kurzentschlossen nach Tel Aviv, um letzte Fragen zu stellen, statt nach Berlin zurückzukehren. Im Hintergrund schwebt die Frage - hat ihre Ehe eigentlich noch Bestand? Das Buch hat nach seinem bissigen Beginn nicht alle Versprechungen halten können, Lou scheint zusehend in Selbstmitleid zu verfallen und den Boden zu verlieren, häufig frage ich mich, ob sie eigentlich selbst weiß, was sie will - und das dann weniger wegen der angeteaserten Fragen von Identität und Zugehörigkeit, sondern eher als nicht wirklich ausgefülltes Wohlstandsweibchen. Dieser Roman hat ganz klar seine Momente, konnte mich aber nicht durchgehend begeistern.

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Veröffentlicht am 03.09.2024

Freundschaft und Entfremdung

Ich komme nicht zurück
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Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt ...

Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt und in der Fremde Fuß fassen muss. In ihrem Roman "Ich komme nicht zurück" beschreibt Rasha Khayat die Geschichte von Freundschaft und Entfremdung aus der Sicht von Hanna, die Jahrzehnte später und in der Coronapandemie zurückkehrt, weil ihre Großmutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus ist. Und auch nach deren Tod bleibt sie in der alten Wohung, gefangen in der Vergangenheit, weil die Gegenwart voller Einsamkeit ist.

Während Hanna weggegangen ist, Lehrerin wurde, ist Cem geblieben. Der Kontakt zu Zeyna ging verloren, sie reist als Fotografin um die Welt. Doch immer wieder sieht Hanna Frauen, die sie an die einstige Freundin erinnern. Über Facebook und über Zeynas Vater versucht sie, Kontakt aufzunehmen, doch Zeyna will offensichtlich nichts mehr von ihr wissen, reagiert in einer einzigen Nachricht brüskiert.

Wie ist es so weit gekommen? Hanna entblättert ihre Erinnerungen, auch die Kindheit und Jugend in den späten 80-ern und 90-er Jahren, als das Wir plötzlich aufgebrochen wurden, als Cem und Zeyna ihr vermittelten, dass sie nicht mitreden könne, eben nicht betroffen sei von Ereignissen wie dem Brandanschlag in Mölln, der das Sicherheitsgefühl der Freunde nachhaltig erschüttert und deren Eltern in tiefe Ängste stürzt. Wieso ist eigentlich gar keine Rede von Solingen, fragte ich mich beim Lesen, denn der dortige Anschlag auf das Haus der Familie Genc lag doch viel näher am Ruhrgebiet, hat die migrantische Gesellschaft in Nordrhein-Westfallen zutiefst aufgewühlt.

Dass Zeyna manches anders sieht, wird auch in ihrer Reaktion auf die Anschläge vom 11. September deutlich. Während Hanna voller Entsetzen den Einsturz der Twin Towers beobachtet, lacht Zeyna, deren Heimatstadt Tripolis von den USA bombardiert worden war. Ihre Mutter kam bei einem Luftangriff ums Leben. Rechtfertigt das die Zustimmung zu Terror? Der erste Riss in der Freundschaft, die schleichende Entfremdung ist da schon absehbar. Später wird Hanna das Geheimnis lüften, das zum Bruch führte.

"Ich komme nicht zurück" ist ein Zeit- und Pandemieroman, der auch zeigt, wie zwischen Lockdown und Kontakbeschränkungen Einsamkeit noch einmal zunimmt. Wird Hanna sich aus ihrem Schneckenhaus befreien? Das Ende zeigt leise Hoffnung. Ein leise erzählender Roman, der auch ein Stück bundesdeutscher Geschichte aufrollt.

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Veröffentlicht am 26.08.2024

Amour fou in Sauerland

Der Drahtzieher
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Zugegeben, bei dem Buchtitel "Der Drahtzieher" hatte ich erst mal an politische Intrigen und Ränkespiele gedacht, zumal bei einem Roman, der in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, Doch Sarah ...

Zugegeben, bei dem Buchtitel "Der Drahtzieher" hatte ich erst mal an politische Intrigen und Ränkespiele gedacht, zumal bei einem Roman, der in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, Doch Sarah Pines Debütroman ist vor allem eine Amour Fou, die in Südafrika beginnt und im Hochsauerland ihre Talfahrt erlebt. Denn im Sauerland, nahe Iserlohn, hat Theodor Hasselt seine Fabrik, in der Drähte produziert werden. Damit steht er in der Hierarchie der örtlichen Gesellschaft gleich hinter seinem besten Freund, dem Stahlfabrikanten Albert - was nichts an der unterschwelligen Rivalität der beiden Männer ändert.

Eigentlich ein bodenständiger Westfale, verlässt Theodor zu Beginn des Buches seine Heimat, um in Südafrika ein Eisenbahnprojekt vom Kap nach Kairo voranzutreiben. Daraus wird zwar nichts, doch auf der Farm seines Onkels, auf der Theodor unterkommt und trotz des deutschen Ambientes so gar nicht angetan vom afrikanischen Leben ist, trifft er seine Cousine Alba, praktischerweise nicht direkt mit ihm verwandt, da aus der ersten Ehe der Tante.

Alma wirkt zwar merkwürdig passiv, doch zugleich äußerst verführerisch und ist, wie Theodor bald feststellt, alles andere als prüde. Als sie eine Schwangerschaft vortäuscht, nimmt er sie mit ins Sauerland und schnell kristallisiert sich heraus, dass das Paar nicht miteinander kann, aber auch nicht ohne. Monogam ist keiner von beiden, doch Theodor, der eigentlich nicht aus dem Glashaus heraus mit Steinen werfen sollte, ist voller Eifersucht, vor allem, als er in Albert einen Nebenbuhler wittert.

Was eigentlich voller Intensität und Leidenschaft begonnen hat, wird im Verlauf des Romans vor allem zum Leiden. Albas Weigerung, ihm ihre Untreue zu gestehen, raubt dem selbstbewussten Patriarchen den letzten Nerv. Immer mehr ist das Verhältnis von Psychoterror geprägt, während beide gleichzeitig voller Unsicherheiten und Verlangen sind.

Sprachlich mal fein ziseliert, mal brachial, zeichnet Pines eines Gesellschaft im Umbruch, in der Theodor am Alten festhalten will, an den klaren Regeln einer Klassengesellschaft, während sich am Horizont große Veränderungen abzeichnen, die im Sauerland allerdings nur fernes Donnergrollen sind. Vor allem ist "Der Drahtzieher" das Psychogramm einer leidenschaftlichen Beziehung, die in gegenseitiger emotionaler Zerfleischung endet.

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Veröffentlicht am 21.08.2024

Episodenroman aus der Zeit der Pandemie

Café Royal
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Wer Marco Balazanos Romane wie "Ich bleibe hier" oder "Wenn ich wiederkomme" kennt, muss sich bei "Café Royal" ein wenig umstellen. Zwar zeigt Balzano auch in seinen früheren Werken wechselnde Perspektiven ...

Wer Marco Balazanos Romane wie "Ich bleibe hier" oder "Wenn ich wiederkomme" kennt, muss sich bei "Café Royal" ein wenig umstellen. Zwar zeigt Balzano auch in seinen früheren Werken wechselnde Perspektiven seiner Figuren auf, doch die bleiben überschaubar und ziehen sich durch die ganze Handlung.

"Café Royal" ist eher ein Episodenroman, der fast ausschließlich in der Mailänder Via Marghera und dem dortigen Café Royal spielt, in dem seine Figuren sich begegnen, arbeiten, vorbeiflanieren. Jedes Kapitel ist eine neue Geschichte, und auch wenn sich einige Figuren wiederholen, handelt es sich doch eher um ein Kaleidoskop der Mailänder Gesellschaft, einen Mikrokosmos während und nach der Corona-Epidemie.

Oft geht es um Liebe und Einsamkeit, um Kommunikationsprobleme zwischen Paaren oder Generationen, um Aufbruch und Ausbruch. Fremde begegnen sich, alte Freunde erkennen einander nicht mehr, ein Blick zum Nachbartisch kann eine neue Hoffnung oder ein Spiegel von Verzweiflung sein.

Das Leben geht weiter, auch in der Pandemie.

Gut geschrieben, aber die Vorgänger haben mir mit ihrer durchgehenden Handlung besser gefallen. Dennoch geben auch diese Skizzen gute Einblicke in das Innenleben von Balzanos Figuren.

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