Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.10.2020

Odyssee eines Heimatlosen

Wie hoch die Wasser steigen
0

Neben der Suche nach dem schnellen Geld muss es auch Fernweh und Abenteuerlust gewesen sein, die Waclaw einst auf die Arbeit auf Bohrinseln getrieben haben. Allerdings hat sich das Abenteuer auf Enge in ...

Neben der Suche nach dem schnellen Geld muss es auch Fernweh und Abenteuerlust gewesen sein, die Waclaw einst auf die Arbeit auf Bohrinseln getrieben haben. Allerdings hat sich das Abenteuer auf Enge in einer Männergemeinschaft erwiesen, die sich nicht unbedingt viel zu sagen hat. Die Arbeit ist gefährlich, auch Waclaw hat seine Verletzungen davongetragen, innere und äußere.

Über Langeweile, Einöde und Erschöpfung auf den Offshore-Plattformen wie auch in den anonymen Apartments zwischen Nordafrika und Texas hat ihm Matyas hinweggeholfen, sein bester Freund.

Doch Matyas ist verschwunden – ein Arbeitsunfall? Für Waclaw ist die Arbeit plötzlich unerträglich geworden. Dass die Suche nach Matyas so schnell aufgegeben wurde, dass niemand so wirklich am Schicksal des jungen Ungarn interessiert scheint, zermürbt ihn. Von einer Auszeit kehrt er einfach nicht zurück, die fristlose Kündigung erreicht ihn irgendwo zwischen Hafen und Flughafen und Waclaw lässt sich treiben.

Zunächst nach Ungarn, gewissermaßen ein symbolischer Abschied von dem Freund, gemeinsame Trauer mit dessen Schwester. Die Reise zu den Wurzeln des Freundes eröffnet Waclaw aber auch, wie wenig er Matyas eigentlich kannte. Was noch entging seiner Wahrnehmung? Waclaw zieht durch Europa, knüpft an an Orten, die mit seiner Biografie verbunden sind, aber letztlich ist es die Odyssee eines Heimatlosen und auch die Menschen, denen er begegnet, sind letztlich entwurzelt, isoliert, Halt suchend.

Poetisch ist die Sprache in Anja Kampmanns Prosa-Debüt „Wie hoch die Wasser steigen“ – und das ist kein Wunder. Bisher schrieb sie Lyrik. Poesie und offshore drilling – das ist nun allerdings ein Gegensatz, und nicht gerade in der Form eines sich ergänzenden Ying und Yang. Sprachlich sind die Landschaftsbeschreibungen, das Dahintreiben Waclaws schön zu lesen. Mit der eher derben Männerwelt, in der er sich auf den Bohrinseln bewegte oder auch seiner Herkunft aus dem Ruhrpott hat das nichts zu tun, sondern führt da zu einem gewissen Verfremdungseffekt.

Vielleicht ist das ja beabsichtigt, der Bruch zwischen Poesie in der Beobachtung und der Sprach- und Perspektivlosigkeit des Protagonisten. Waclaw hat sich fortbewegt aus dem „Pott“, von seinem polnischen Vater, der sich im Bergbau eine Staublunge holte, fort von der Welt der Taubenzüchter und Kleingärtner. Doch die Malocherkultur auf der Bohrinsel war ähnlich, nur die Gefahren andere.

Da schließt sich ein Kreis, als Waclaw die Taube eines einstigen Kumpels, der in der italienischen Heimat einen Neuanfang versucht, über die Alpen bringt, um sie aufsteigen lassen. Die Taube schafft vielleicht den Flug in den heimischen Schlag, doch für Waclaw, so ahnt man, gibt es nirgends mehr einen Ort, den er Heimat nennen könnte: Die vielen Wechsel und Veränderungen haben sein Leben buchstäblich verworfen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.10.2020

Tragikomische Familiengeschichte einer tatarischen Matriarchin

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
0

Mit "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche" hat Alina Bronsky sowohl eine tragikomische Familiengeschichte geschrieben als auch die Spätphase der Sowjetunion wieder aufleben lassen - Komunalka, ...

Mit "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche" hat Alina Bronsky sowohl eine tragikomische Familiengeschichte geschrieben als auch die Spätphase der Sowjetunion wieder aufleben lassen - Komunalka, Datscha und eingelegtes Gemüse inclusive. In der Hörbuchversion gibt Sophie Rois mit rauem Charme der Matriarchin Rosalinda eine Stimme, die ihre Sicht der Familiengeschichte schildert, unerschütterlich davon überzeigt, dass dies ohnehin die einzig wahre ist.

Rosalinda führt in ihrer kleinen Familie unangefochten das Zepter. Ehemann Kalganow mag als Gewerkschaftssekretär außerhalb der zwei-Zimmer-Gemeinschaftswohnung etwas zu sagen haben - doch in det Familie hat allein Rosalinda das Sagen, ebenso stolz auf ihre tatarischen Wurzeln wie auf ihre Sowjetidentität. An Selbstbewusstsein mangelt es der studierten Pädagogin nicht, und als Tochter Sulfia, die sie als schwächlich, reizlos und nicht sonderlich intelligent empfindet, ungewollt schwanger wird, führt Rosalinda einmal mehr das Kommando - erst bei missglückten Abtreibungsversuchen, dann bei der Erziehung von Enkeltochter Aminat, die entgegen aller Erwartungen ein hübsches, aufgewecktes, intelligentes Kind ist - also ganz wie sie, findet Rosalinda.

Weder das Scheitern ihrer Ehe noch private Schicksalsschläge können der sturmerprobten Großmutter langfristig etwas anhaben. Ihr ganzer Ehrgeiz: Aminat soll einmal reich und berühmt werden. Und Sulfia zu diesem Zweck gut verheiratet werden. Männer spielen in dieser Geschichte allenfalls eine Nebenrolle, bestimmt wird die Handlung durch die komplizierten emotionalen Bande der drei Frauen.

Eine "liebe Oma" ist Rosalinda ganz sicher nicht, als Familiendespotin mit scharfem (Vor-)Urteil ist sie bestimmt keine Frau, mit der es sich leicht zusammenleben lässt. Einen gewissen herben Charme kann man ihr allerdings ebenso wenig absprechen wie ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und eine Stehauf-Männchen-Mentalität, die sie selbst als Putzfrau in deutschen Haushalten von einer medizinischen Karriere träumen lässt. Ob das gelingt? Reinhören!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.10.2020

Der Riss in der Biografie

Ich an meiner Seite
0

Artur ist zwar erst 22, hat aber schon viel Erfahrung mit Scheitern. Der Protagonist von Birgit Birnbachers Roman "Ich an meiner Seite" hat wegen Internetbetrugs und Identitätdiebstahls eine Haftstrafe ...

Artur ist zwar erst 22, hat aber schon viel Erfahrung mit Scheitern. Der Protagonist von Birgit Birnbachers Roman "Ich an meiner Seite" hat wegen Internetbetrugs und Identitätdiebstahls eine Haftstrafe abgesessen - nun soll er wieder Fuß fassen. Die Resozialisierungsmaschinerie ist angelaufen - Wohngemeinschaft, Therapie, ein Forschungsprojekt und ein eher unorthodoxer Therapeut mit genügend eigenen Problemen.

Im Gefängnis wurde Artur nicht wirklich auf die "Zeit danach" vorbereitet, und mit familiärer Rückendeckung sieht es auch nicht gut aus: Der Vater hat die Familie verlassen, als Artur und sein älterer Bruder noch klein waren. Der zweite Mann der Mutter hat sich nicht wirklich mit seinen Stiefsöhnen befasst, überhaupt war das Paar so mit dem Hospiz beschäftigt, dass es nach seiner Auswanderung nach Andalusien aufgebaut hat,dass Artur sich meist selbst überlassen blieb, zumal sein Bruder als Jugendlicher zurück nach Österreich kehrte.

Als der junge Mann aus der Haft verlassen wird, wartet nur seine buchstäblich alte Freundin Grazetta, die er in eben jenem Hospiz kennengelernt hat - eine ehemalige Schauspielerin mit bewegter Vergangenheit und liebenswerter Exzentrik, unheilbar krank aber nicht bereit, so schnell vom Leben zu lassen. Mit ihren Pflegerinnen hat sie sich in einem Hotel einquartiert, um Artur wenigsten emotionalen Beistand leisten zu können.

Birnbacher lässt Artur lakonisch erzählen, mit Rückblenden in die Vergangenheit, die Kindheit in der Eisenbahnersiedlung,das Leben in Andalusien, die Dreiecksbeziehung mit zwei anderen Expat-Kids, die in einer Tragödie mündet. Artur geht zurück nach Österreich, mittellos, der Weg in die Kriminalität ist vielleicht nicht die logische Alternative, aber für ihn der einfachste Weg. Was genau ihm in der Haft zustieß wird nur angedeutet, doch ein Trauma schleppt er mit sich herum. Es war nicht nur Mobbing und Demütigung, was sich in seiner Viererzelle abspielte und von den JVA-Mitarbeitern wohl weitgehend ignoriert wurde.

Die Haftzeit ist nicht der einzige, aber der tiefste Riss, der sich durch Arturs Biografie zieht, und letzlich auch der Entscheidende: Schon die Suche nach einem Praktikumsplatz gerät zur Unmöglichkeit, wenn Artur die Zeit im Gefängnis zur Sprache bricht. Wäre ein geschönter, ein gefälschter Lebenslauf nicht naheliegend? Wird ein vermeintlich leichterer Weg Artur zurück in die Illegalität führen? Birnbacher (ver-)urteilt nicht, wenn sie ihren Protagonisten durch das Leben straucheln lässt, erspart dem Leser aber auch "Gutmensch-Prosa". Und auch Artur suhlt sich nicht in Selbstmitleid oder sucht Schuldige für seine Misere, wenn er versucht, wieder im Leben Fuss zu fassen. Nicht nur wegen der schillernden Nebenfiguren eine interessante Außenseiterstudie, empathisch und doch mit leichter Distanz geschrieben.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.10.2020

Fisch und mehr

Uri Buri - meine Küche
0

Ich muss gestehen, ich hatte vorher noch nie von Uri Buri gehört, der eigentlich mit bürgerlichem Namen Uri Jeremias heißt und DER Koch für Fisch und Meeresfrüchte in Israel sein soll. Eine kurze Internetrecherche ...

Ich muss gestehen, ich hatte vorher noch nie von Uri Buri gehört, der eigentlich mit bürgerlichem Namen Uri Jeremias heißt und DER Koch für Fisch und Meeresfrüchte in Israel sein soll. Eine kurze Internetrecherche ergab jedenfalls überschwängliches Lob für den Mann, der mit seinem wallenden weißen Bart ein wenig an einen rundlich geratenen Gandalf erinnert. Mit einem silberglänzenden Fisch in den Händen wird der Mann mit den schelmischen Augen auch auf der Titelseite von "Uri Buri - meine Küche" porträtiert.

Klar, dass es auf den fast 290 Seiten viel um Fisch geht - worauf man beim Kauf achten muss,wie man ihn optimal frisch hält, wie man ihn zubereitet und natürlich viele Rezepte. Zuerst aber steht der Menschen Uni im Vordergrund, seine Philosophie, sein Umgang mit Mitarbeitern und Gästen, seine Lebensfreude und sein positives Interesse an Menschen. Und schon einmal das macht dieses Buch zu einem Gewinn, denn - da kommt wieder die Parallele zu Gandalf - Uri strahlt Lebensweisheit aus. Die vielen Bilder von seinem Restaurant in Akko, von einer israelisch-arabischen Welt, die nicht von Konflikten, sondern von Nachbarschaft bestimmt wird zeigt jedenfalls: so kann es sein.

Der zweite Buchteil befasst sich dann weniger mit den inneren Werten als mit dem kulinarischen Talent, der Küchenphilosophie und dem, was der bärtige Koch auf den Tisch bringt. Ob gegrillt, gebacken, gedünstet - Fischrezepte sond natürlich reichtlich vertreten, zugleich wird dem Leser die Angst genommen, dass Fisch vielleicht doch ein bißchen heikel und kompliziert ist, jedenfalls, solange nicht einfach Fischstäbchen in eine Pfanne geknallt werden.

Nächste Überraschung: Das Buch enthält eine ganze Reihe spannend klingender Gerichte, die überhaupt keinen Fisch enthalten, sondern israelische oder mediterrane Klassiker sind, aber auch aus der aschkenasischen Tradition stammen. Auch wenn so manches nach Meer schmeckt, ist ein vielseitiger Mix von Rezepten zu finden, obendrein wunderschön und appettitanregend fotografiert. Da kommt einfach Lust zum ausprobieren und Nachkochen auf.

Veröffentlicht am 14.10.2020

Die unerzählte Geschichte Kanadas

Unter dem Nordlicht
0

Kanada gilt ja als das freundliche Gesicht Nordamerikas - das Land mit der atemberaubenden Natur, den freundlichen Menschen, der Politik, die sich angenehm von dem Nachbarn südlich der Grenze unterscheidet. ...

Kanada gilt ja als das freundliche Gesicht Nordamerikas - das Land mit der atemberaubenden Natur, den freundlichen Menschen, der Politik, die sich angenehm von dem Nachbarn südlich der Grenze unterscheidet. Oder doch nicht? In seinem Buch "Unter dem Nordlicht" schildert der Schweizer Autor Manuel Menrath die dunkle Seite der kanadischen Geschichte.

In diesem Jahr sollte Kanada Partnerland der Frankfurter Buchmesse sein. Coronabedingt findet die Messe virtuell statt, der "richtige" Partnerauftritt wurde auf das kommende Jahr verschoben (toi, toi, toi!). Die Verlage planten ihre Neuerscheinungen zur Buchmesse allerdings langfristig, so dass es nicht verwunderlich ist, dass derzeit viel Literatur aus und über Kanada erscheint.

Sowohl in "Volkswagen-Blues" als auch in "Das weite Herz des Landes" ging es um Protagonisten mit indianischer oder teilweise indianischer Identität, im Fall von Richard Wagamese handelte es sich zudem um einen indigenen Autor. Gerade wer schon einmal in Westkanada war, hat in Städten wie Calgary oder Edmonton wohl Indianer gesehen - meist unter den Obdachlosen, und Alkohol- und Drogenabhängigen. Die Nachfahren der Menschen, die vor der Ankunft der europäischen Siedler das Land geprägt hatten, leben heute vielfach am Rande des Existenzminimums. Die Lage in den Reservaten ist keineswegs besser: Armut, Arbeitslosigkeit, hohe Selbstmordraten.

Und doch - wenn vom Umgang mit den indigenen Völkern die Rede war, schien Kanada nie so in Verruf zu geraten wie (wieder mal) der Nachbar USA mit seinen Indianerkriegen, mit einer Politik insbesondere gegen kämpferische Völker wie die Cheyenne und die Lakota, die heute nur als Völkermord eingeordnet werden können. Doch war es in Kanada wirklich besser? Menrath hat im Norden Ontarios recherchiert, mit Elders, spirituellen Führern, Politikern und ganz normalen Menschen in den indianischen Siedlungen gesprochen. Er erzählt die Geschichte der Cree und Ojibwe aus deren Perspektive, schildert ihre Kultur, die Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft.Und er erinnert an den "kulturellen Völkermord"

Denn in der Tat - bei Kindern, die ihren Familien entrissen, zwangsadoptiert oder in Internatsschulen brutal der eigenen Kultur entfremdet wurden, hatte ich zuvor immer an Australien und den Umgang mit den Aborigines gedacht. Dass die gleiche Politik auch in Kanada vorgenommen wurde, war mir bis dahin nicht bewusst gewesen. Dass die indigenen Völker nach wie vor keinen ernst zu nehmenden Anteil aus der Förderung von Bodenschätzen selbst aus den Reservaten erhalten, war mir bislang ebenso unklar.

Von diesen Erfahrungen zu lesen, ist bedrückend, ebenso wie von den Kindern und Jugendlichen, die sich angesichts vielfältiger Probleme das Leben nehmen. Zugleich zeigt das Buch inspirierende Beispiele vom Überleben indianischer Kultur und Spirtualität, ja von einer gewissen Renaissance. Das Verhältnis zum Land, zur Natur, zur eigenen Rolle als Teil, aber nicht als Herrscher oder Besitzer von Wäldern, Flüssen und Seen erklärt das Weltbild, das Cree und Ojibwe mit anderen indianischen Völkern teilen. Wenn heute angesichts von Raubbau an der Natur und Zerstörung von Ökosystemen die Zukunftsszenarien düster aussehen, lässt sich von Kanadas Indigenen viel lernen.