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Veröffentlicht am 15.09.2019

Eine Dunkelheit voller Schmerz

Harz
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In “Harz“, dem neuen Roman der preisgekrönten dänischen Autorin Ane Riel, geht es um eine Familie, die auf einem einsamen Hof im Norden einer dünn besiedelten dänischen Insel lebt, dem sogenannten Kopf. ...

In “Harz“, dem neuen Roman der preisgekrönten dänischen Autorin Ane Riel, geht es um eine Familie, die auf einem einsamen Hof im Norden einer dünn besiedelten dänischen Insel lebt, dem sogenannten Kopf. Die Familie besteht aus dem Schreiner Jens Haader, seiner Frau Maria und der Tochter Liv. Ursprünglich hatte Liv einen Zwillingsbruder namens Carl, der zu ihrem unsichtbaren Freund wird. Er hilft ihr, ein Leben zu ertragen, das alles andere als normal ist. Jens Haader hat anfangs Möbel und Särge auf Bestellung gezimmert, seinen Beruf aber später aufgegeben. Irgendwann sammelt er nur noch die Dinge ein, die andere wegwerfen und geht nachts auf Beutetour. Anfangs nimmt er seine Tochter mit, später zieht sie allein los, um Gegenstände und Lebensmittel zu stehlen, denn Jens ist nicht mehr in der Lage, seine Familie und die Tiere auf dem Hof zu versorgen. Liv wurde den Behörden als ertrunken gemeldet, damit sie nicht zur Schule muss und lebt seitdem in einem alten Container inmitten von allerlei Gerümpel. Livs Mutter wird immer dicker und liegt schließlich nur noch im Bett. Niemand hat Zugang zu Haus und Hof, denn Jens hat seinen Besitz mit allerlei tödlichen Fallen gesichert. Alles scheint unausweichlich auf eine Katastrophe zuzusteuern.
Erzählt wird diese düstere, beim Leser Beklemmung verursachende Geschichte überwiegend aus Livs Perspektive, aber es gibt auch von einem auktorialen Erzähler berichtete Teile, und immer wieder kommt Maria, Livs Mutter und Ehefrau von Jens Haader, zu Wort. Sie wendet sich in kursiv gedruckten Briefen direkt an ihre Tochter, will ihr alles erklären, vor allem, dass sie Jens liebt, obwohl sie vermutet, dass sie irgendwann von seiner Hand sterben wird. Wie soll Liv diese prekäre Situation, ein Leben umgeben von Müll, Gestank und Ratten überleben? Wie könnte sie nach vielen skurrilen Erlebnissen noch ein normales Leben führen? Als kleines Mädchen ist sie dabei, als ihr Vater die Großmutter ermordet. Bizarr ist auch das Probeliegen in gezimmerten Särgen, bevor sie den Kunden überlassen werden oder das Konservieren von toten Körpern mit Hilfe von Harz, das schon die alten Ägypter für diesen Zweck nutzten.
Der Roman ist kein typischer Thriller, sondern das Soziogramm einer Familie in der Hand eines psychisch Kranken. Ein außergewöhnliches Buch, aber keine leichte Kost.

Veröffentlicht am 15.09.2019

Leben oder sterben?

Der Sprung
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In Simone Lapperts Roman “Der Sprung“ steht eine Frau namens Manu auf dem Dach eines Hauses. Was hat sie vor? Der Roman ist in drei große Kapitel unterteilt: Der Tag davor, Erster Tag und Zweiter Tag. ...

In Simone Lapperts Roman “Der Sprung“ steht eine Frau namens Manu auf dem Dach eines Hauses. Was hat sie vor? Der Roman ist in drei große Kapitel unterteilt: Der Tag davor, Erster Tag und Zweiter Tag. Vor jedem Kapitel findet sich ein Abschnitt aus der Sicht der Protagonistin, die das Fallen beschreibt und was sie dabei denkt und fühlt bis zum Aufprall. Hat der Sprung in den Tod bereits stattgefunden? Eine große Zahl kürzerer Kapitel bietet den Blick einer Vielzahl von Personen auf die Ereignisse. Diese Menschen stehen Manu nahe oder kennen sie flüchtig: Maren, Felix, Finn, Theres, Egon, Winnie, Astrid usw. Sie haben alle ihre eigene Geschichte, Schwierigkeiten im Alltag, belastende Erinnerungen. Gleichzeitig erfährt der Leser auch einiges über Manu, z.B. durch ihre Schwester Astrid oder ihren Freund Finn, der allerdings nicht einmal ihren Nachnamen kennt, geschweige denn ihre Vergangenheit. Niemand liefert jedoch irgendeine Information, die einen Todeswunsch erklären könnte.
Während Manu auf dem Dach bis zur Kante hin und herläuft, sammelt sich unten eine Menschenmenge, die vor allem eins will: das Foto des Todessprungs schießen. Die Polizei ist im Einsatz, hat eine Absperrung angebracht und nimmt von der obersten Wohnung aus Kontakt zu der Frau auf, um ihren Selbstmord zu verhindern. Man lässt niemand zu ihr, nicht einmal ihren Freund Finn. Manu verlässt das Dach nicht, sondern bekommt dort Wutanfälle und wirft immer wieder Dachziegel und Gartengeräte nach unten. Das Drama zieht sich über zwanzig Stunden hin.
Die Autorin zeichnet das Porträt einer Kleinstadt an der Schweizer Grenze und ihrer Bewohner. Anfangs ist die Personenvielfalt etwas verwirrend, jedoch werden viele Figuren dem Leser im Laufe der Geschichte sehr vertraut. Wir erleben, wie die Extremsituation eines scheinbar bevorstehenden Selbstmords sie alle verändert. Sie setzen sich mit belastenden Erinnerungen auseinander, treffen wichtige Entscheidungen für ihr Leben oder wagen einen längst überfälligen Neuanfang. Das wird von der Autorin, die übrigens mit dem bekannten Schweizer Autor Rolf Lappert verwandt ist, spannend und auch sprachlich sehr überzeugend dargestellt. Ein beeindruckender Roman.

Veröffentlicht am 05.08.2019

Wie kommt so viel Böses in die Welt?

Die Kinder des Borgo Vecchio
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In Giosuè Calaciuras Roman “Die Kinder des Borgo Vecchio“ geht es um drei Kinder, die im Armenviertel von Palermo aufwachsen. Alle drei leben in - wir würden sagen - prekären Verhältnissen. Mimmos Vater, ...

In Giosuè Calaciuras Roman “Die Kinder des Borgo Vecchio“ geht es um drei Kinder, die im Armenviertel von Palermo aufwachsen. Alle drei leben in - wir würden sagen - prekären Verhältnissen. Mimmos Vater, der Fleischer, betrügt seine Kunden mit einer präparierten Waage, Cristofaros Vater schlägt seinen Sohn allabendlich grün und blau, und Celestes Mutter arbeitet als Prostituierte. Während sie ihre Kunden bedient, muss ihre Tochter auf dem Balkon ausharren. Die Kinder überleben in einer brutalen Welt und haben entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch Träume. Ihr Idol ist ausgerechnet der Kriminelle Totò, für sie ein Held mit einer beeindruckenden Waffe. Tatsächlich sind diese Menschen aber genauso ausgegrenzt und chancenlos wie z.B. die Bewohner der Pariser Banlieues. Für den Leser ist deutlich, dass alle Versuche, in ein besseres Leben zu entkommen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.
Der kurze Roman zeigt eine brutale Welt voller Grausamkeiten gegenüber Mensch und Tier. In starkem Gegensatz dazu steht die oft sehr poetische Sprache. Fantasie und Traum haben ihren Platz, aber die Realität ist stärker. Damit enthält der preisgekrönte Roman auch eine gute Portion Sozialkritik. Das Buch ist gut, aber begeistert hat es mich nicht. Dafür ist es inhaltlich zu harte Kost.

Veröffentlicht am 07.07.2019

Ferien in Yorkshire

Bell und Harry
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Im Mittelpunkt von Jane Gardams Roman “Bell und Harry“ steht die Freundschaft zwischen zwei Jungen. Bell Teesdale und Harry Bateman werden als Kinder Freunde, seit die Batemans aus London Jahr für Jahr ...

Im Mittelpunkt von Jane Gardams Roman “Bell und Harry“ steht die Freundschaft zwischen zwei Jungen. Bell Teesdale und Harry Bateman werden als Kinder Freunde, seit die Batemans aus London Jahr für Jahr im ländlichen Yorkshire ein Bauernhaus mieten. Anfangs sind die Gegensätze zwischen den Städtern und den Bauern und Schafzüchtern aus der Region groß, aber allmählich werden nicht nur die Kinder Freunde. Die Jungen erleben zum Teil gefährliche Abenteuer, z. B. in einer still gelegten Silbermine oder im eisigen Schneesturm bei einem Fahrradausflug. Wer die Faszination dieser Landschaft mit ihren Sagen und Bräuchen und der langen Geschichte von Invasoren erfahren hat, kommt immer wieder zurück oder bleibt wie Poppet, Tochter einer namenlosen prominenten Londonerin, die hier als 11jährige einige Tage verbringt, danach immer wieder zurückkehrt und schon beim ersten Treffen beschließt, sechs Jahre später Harry Teesdale zu heiraten und für immer zu bleiben.
Die Autorin reiht neun Geschichten um die beiden Familien und andere Dorfbewohner aneinander. Sie decken einen Zeitraum von fast 30 Jahren ab und zeigen Bell und Harry auch im Erwachsenenalter. Gardams im Original unter dem Titel “The Hollow Land“ bereits 1981 veröffentlichtes Buch wurde mit dem Whitbread Book Award in der Kategorie Kinderbuch ausgezeichnet, wendet sich aber inzwischen an Leser jeden Alters. Das Buch ist humorvoll und mit großer Wärme geschrieben und zeigt, wie tief die Menschen in ihrer Heimat verwurzelt sind und das schon seit Generationen. “Bell und Harry“ macht alle Fans von Gardams berühmter Trilogie um den Richter Edward Feathers mit dem lohnenden Frühwerk der Autorin bekannt. Ein schönes kleines Buch.

Veröffentlicht am 02.07.2019

Ein neuer Fall für Leander Lost

Weiße Fracht
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Mit „Weiße Fracht“ legt Gil Ribeiro alias Holger Karsten Schmidt den dritten Roman um den deutschen Polizisten Leander Lost aus Hamburg vor, der für ein Jahr in Fuseta an der Algarve tätig ist. Lost ist ...

Mit „Weiße Fracht“ legt Gil Ribeiro alias Holger Karsten Schmidt den dritten Roman um den deutschen Polizisten Leander Lost aus Hamburg vor, der für ein Jahr in Fuseta an der Algarve tätig ist. Lost ist ein Asperger-Autist und hatte es nicht leicht – in seiner Kindheit und Jugend genauso wenig wie bei der Hamburger Polizei. In Fuseta hat er jedoch in der Sub-Inspektorin Graciana Rosado und ihrem Kollegen Carlos Esteves verständnisvolle Kollegen gefunden, die seine Eigenheiten akzeptieren und seine ganz besonderen Fähigkeiten zu schätzen wissen. Zudem hat er sich in Gracianas Schwester Soraia verliebt, was ihn noch zusätzlich an sein neues Umfeld bindet.
In Fuseta ist der deutsche Aussteiger Uwe Ronneberg ermordet worden. Es scheint Verbindungen zu zwei ungelösten Fällen auf der anderen Seite der Grenze zu geben. Dann passiert ein weiterer Mord, und der Fall weitet sich aus. Da sehen auch die beiden deutschen Polizisten Manz und Muhrmann, die der Hamburger Polizeipräsident zur Unterstützung an die Algarve geschickt hat, nicht klarer. Ausgerechnet Leander Lost steuert die entscheidenden Hinweise bei und sichert sich einen festen Platz im portugiesischen Team.
Der neue Krimi von Ribeiro lebt von der gelungenen Charakterzeichnung und dem portugiesischen Ambiente, das der Autor so sehr schätzt. Als Leser möchte man nach der Lektüre auch gern Land und Leute kennenlernen. Der Roman besticht außerdem durch viele humorvolle Szenen, die uns die Besonderheiten eines Asperger-Autisten näherbringen. Ein sehr empfehlenswerter Krimi.